Krieg in der Ukraine: Kann man einen Frieden gewinnen?

erschienen in der Freitag Ausgabe 08/2023

Im Krieg gibt es keine Sieger, dafür verzeichnet jede Kriegspartei zu hohe Verluste. Deshalb sollten wir statt Panzern und schweren Waffen lieber Friedenspläne liefern

Seit einem Jahr hat der russische Überfall die Schrecken und das Leid für die Ukrainer und die Soldaten auf beiden Seiten ins Unermessliche gesteigert. Als hätte diese Welt nicht so schon genug Sorgen, spielt sich vor unseren Augen eine Tragödie antiken Ausmaßes ab. In jahrhundertealten Denkmustern suchen die Gegner die Lösung nur noch in militärischen Großoffensiven. Der Unterschied zu früher ist allerdings, dass hinter diesem Stellvertreterkrieg die beiden größten Atommächte stehen. Wird die unterlegene Seite ihre globale Autorität durch ihre nukleare Potenz retten wollen?

In der Ukraine scheint sich eine fatale Patt-Situation zu verfestigen. Die russische Armee hat die Eskalationsdominanz. Die Zermürbungsdominanz besitzt auch dank der von NATO-Kräften übernommenen Kommandostruktur zum Einsatz der gelieferten westlichen Waffen die ukrainische Armee. Wie lange soll dieser militante Wahn noch anhalten? Nach ihm soll der einzige Weg zur Rettung der Ukraine ihre Zerstörung sein. Der globale Wirtschaftskrieg trifft vor allem die Schwachen. Im Namen geopolitischer Sicherheitsinteressen wird die ganze Welt verunsichert.

Sind der Irrationalität noch Grenzen gesetzt? Krieg ist immer Versagen von Politik. Niemand, wirklich niemand, kann sagen, ob Waffenlieferungen letztlich mehr Leben retten oder mehr Leben kosten. Eine eindeutige Antwort wäre einzig der sofortige Waffenstillstand. Siegesfantasien sind naiv bis skrupellos. Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden. Wer wirklich bemüht ist, zwischen Gegnern zu vermitteln und Verhandlungen zu ermöglichen, sollte die Schuld nicht einzig auf einer Seite abladen. Gerade auch in diesem Konflikt ist sie verteilt – wenn auch keineswegs gleichmäßig. Aber abgesehen von der provokanten Vorgeschichte auf westlicher Seite und der schlimmsten Fehlreaktion des Kreml, daraufhin einen bewaffneten Angriff auf die Ukraine zu starten: Der russische Überfall hätte nach vier Wochen beendet sein können.

Nicht erst, seit der damalige israelische Premier Naftali Bennett es als Beteiligter jetzt bestätigte, weiß man von öffentlichen Äußerungen der Verhandler: Die Friedensbemühungen zwischen den Angreifern und den Angegriffenen waren im März 2022 weit gediehen, beide Seiten waren zu Kompromissen bereit. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte zugesagt, die Kämpfe einzustellen und seine Truppen auf die Positionen von vor dem 24. Februar zurückzuziehen. Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte öffentlich, im Falle eines Waffenstillstandes auf die russische Hauptforderung einzugehen: eine neutrale Ukraine, ohne ausländische Militärstützpunkte. Die Zukunft der besetzten, russisch dominierten Gebiete sollte innerhalb von 15 Jahren unter Verzicht auf Gewalt diplomatisch gelöst werden.

Doch so viel ukrainische Souveränität hatte der Westen nicht gemeint. Bei seiner Auszeichnung mit dem „Friedensorden“ in Kiew beschwor der britische Premier Boris Johnson den Westen, „auf Kurs“ zu bleiben und kein „schlechtes Friedensabkommen“ zu akzeptieren. Der NATO-Sondergipfel Mitte März in Brüssel hielt sich an Johnsons Rat. Russland müsse erst seine Niederlage akzeptieren. So wurde Frieden verhindert. Auch die dafür Verantwortlichen müssen eines Tages, genau wie Putin und seine Getreuen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Um aber die Mächtigen zum Frieden zu tragen, bedarf es der Zivilgesellschaft. Nie war linke Opposition so unverzichtbar. Die Antikriegsdemonstration kürzlich in Washington war mit 27 prominenten Rednern die erste machtvolle US-Manifestation gegen die Kriegsmaschinerie. Zitiert wurde Brasiliens Präsident Lula: „Wir wollen uns diesem Krieg nicht anschließen, wir wollen ihn beenden.“ Und eine AP-Umfrage, nach der nicht mehr wie einst 60 Prozent der US-Bürger, sondern nur noch 48 Prozent für weitere Waffenlieferungen sind.

Ähnlich entwickelt sich die Stimmung in Deutschland. Doch wer sich hier öffentlich zu dieser Mehrheit bekennt, wie etwa das Manifest für Frieden von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht und dessen Unterzeichner, muss sich selbst als naiv, zynisch, ja als verantwortungslos beschimpfen lassen oder wird unter Druck gesetzt, die Unterschrift zurückzuziehen. Dabei fordert dieses Papier dasselbe wie die letzte UN-Vollversammlung: Anstrengungen der Mitgliedsstaaten zur sofortigen Beilegung des Konflikts durch Verhandlungen.

Stattdessen wird in den meisten Medien und auf ukrainischer Seite als Lösung einzig die Lieferung angeblich Sieg bringender „schwerer Waffen“ akzeptiert. Wer liefert „schwere Friedenspläne“? In seiner Schrift Zum ewigen Frieden hat Immanuel Kant in gegenwärtiger Sprache, aber leider ungegenwärtigem Denken beschworen: „Irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Krieg noch übrigbleiben, weil sonst kein Friede abgeschlossen werden kann und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg ausschlagen würde.“ Ausrottungskrieg – haben die Mächtigen nichts gelernt? Sehen wir uns auf den Kundgebungen und Ostermärschen der vielfältigen Friedensbewegung?