Daniela Dahn zur Friedensdemo: „Jetzt lassen wir nicht mehr locker“

erschienen in der Berliner Zeitung 28.02.2023

Mein Lieblingsfoto von der Kundgebung zum Manifest für Frieden zeigt ein Pappschild, auf dem steht: Ich weiß schon heute, was morgen die Medien berichten werden. Der weit verbreitete Kampagnenjournalismus hat dann allerdings die schlimmsten Erwartungen übertroffen. In denunziatorischer Weise wurde den „beiden Damen“ Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterstellt, sich nicht hinreichend nach rechts abgegrenzt zu haben. Wodurch letztlich die zehntausenden Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft an einer „rechtsoffenen“ Veranstaltung teilgenommen hätten. Erstunterzeichner wurden unter Druck gesetzt und alle, auch ich, von einem mdr-Redakteur des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einzeln gefragt, ob wir daraufhin unsere Unterschrift nicht zurückziehen wollen. Die Nervosität darüber, ob hier der Neubeginn einer machtvollen Friedensbewegung gesetzt wurde, scheint doch sehr groß zu sein.
Schließlich waren auch führende Vertreter der traditionellen Friedenskräfte unter den Erstunterzeichnern, vom Internationalen Friedensbüro, IPPNW und IALANA bis zur Deutschen Friedensgesellschaft, den NaturFreunden und einstigen UN-Mitarbeitern. Am Ende der Kundgebung, zu dem Lennon-Song Give Peace a Chance, bat Sahra Wagenknecht Mitstreiter auf die Bühne, die bei den Vorbereitungen geholfen hatten. Darunter vielleicht der Hauptorganisator der deutschen Friedensbewegung, Willi van Ooyen vom Kasseler Friedensratschlag. Von da oben hatte er einen guten Blick über das Meer vieltausendfacher Friedenstauben, Regenbogen-Tücher, Fahnen der LINKEN, der Gewerkschaft oder Marx-Portraits, Pappschilder die ein Kriegsende durch Verhandlungen forderten. Auch zwei Deutschlandfahnen waren darunter, wie sie sonst nebenan auf dem Reichstag wehen. Und die Journalisten hatten von unten einen guten Blick auf den strahlenden Friedensaktivisten. Aber kein einziger kam auf die Idee, ihn etwas zu fragen. Und dann zu hören, was er mir sagte: Das übertraf um ein Vielfaches jede bisherige Friedensdemo gegen den Krieg in der Ukraine – eine enorme Ermutigung für die Friedensbewegung – jetzt lassen wir nicht mehr locker.

Die Berichterstatter waren offenbar damit ausgelastet, nach McCharthy-Manier wie Spürhunde in der Menge Verdächtige ausfindig zu machen. Leute mit Stallgeruch – findet man Vereinzelte, stinkt die ganze Großkundgebung. Ist der sonst in den betreffenden Medien nicht so eifrige Kampf gegen Rechts in Wahrheit ein Kampf gegen Links? Ist es nicht eine Zumutung, von den Initiatorinnen und deren Unterstützern, Menschen, deren Haltungen seit Jahrzehnten durch ihre Arbeit, durch Talk-Shows, Bücher und publizistische Arbeit prominent bekannt ist, permanent Distanzierungen und Bekenntnisse abzuverlangen, weil man sonst nicht sicher sein kann, dass sie Sympathien für Rechtsextreme hegen? Unser Mitunterzeichner, der Maler Gottfried Helnwein, dessen antifaschistische Kunst von herausfordernder Kompromisslosigkeit ist, fragt die Bekennungsjäger: Warum distanzieren sich die Aktivist*innen für Lieferung schwerer Waffen nicht vom Nazi-Regiment Asow, dessen Mitglieder ganz offen Hakenkreuzfahnen, SS-Totenköpfe und Nazi-Runen zur Schau tragen und gerne mit Hitlergruß salutieren?
Da solche Fragen tabuisiert sind, ist es immer wieder möglich, abweichende Ideengeber zum Schweigen zu bringen und störende Fakten im Dunkeln zu halten, ohne dass ein offizielles Verbot nötig wäre. Bleibt es nicht merkwürdig – im Parlament ist es normal, weil verfassungsrechtlich geboten, neben der teilweise rechtsradikalen und widerwärtig deutschnationalen AfD sitzen zu müssen. Da ihre Abgeordneten durch Wahlen legitimiert sind, gehört es sich nach guter demokratischer Gepflogenheit, ihnen Parteienfinanzierung und Rederecht zukommen zu lassen. Nach getaner Arbeit ist es üblich, im prachtvollen früheren Reichspräsidentenpalais und heute den Abgeordneten vorbehaltenen Restaurant, Tisch an Tisch nebeneinander zu speisen.

Aber wehe, sie werden nebeneinander auf der Straße erwischt. Die demokratischen Privilegien der Parlamentarier gelten außerparlamentarisch als verwerflich. AfD-Fahnen neben denen anderer Parteien? Oder gar rechtsextreme Symbole und Flaggen? Diese verbieten sich gerade in Deutschland wahrlich von selbst. Sollte man meinen. Aber warum sind sie dann nicht verboten? Was Gesetzgeber und Gerichte als Meinungsfreiheit schützen, wird der außerparlamentarischen Opposition schutzlos als rechtsoffen angelastet. So kann man jede APO verunsichern, zersetzen und lahmlegen. Welche Symbole auf Demonstrationen auftauchen, können Veranstalter durch klare Ansagen versuchen zu beeinflussen – bestimmen oder verhindern können sie es nicht. Für die Toleranzgrenzen ist der Gesetzgeber zuständig. Friedensaktivisten der Linken haben versucht, den einzig sichtbaren, da bekannten Rechtsaußen, den Publizisten Jürgen Elsässer mit seinem Schild Ami go home, aus der Kundgebung zu drängen. Die mit den Ordnern eigentlich kooperative Polizei konnte sie dabei nicht unterstützen, weil sie nach eigener Auskunft dafür „keine Handhabe“ hat.
Apropos Ami: Mit einem haben die Veranstalter die Kundgebung eröffnet, mit dem Grußwort des berühmten linken Ökonomen Jeffrey Sachs: „Die gesamte Erzählung, dass dies der erste Jahrestag des Krieges ist, ist bereits eine falsche Erzählung. Dies ist ein Krieg, der mit der NATO-Erweiterung, der Beteiligung der USA an einem Staatsstreich und der massiven Aufrüstung der Ukraine begonnen hat. Und dann mit der schrecklichen Invasion Russlands eskalierte. Dies ist ein Krieg, der beendet werden muss, bevor er uns alle in ein nukleares Armageddon verwickelt. Wir müssen die Wahrheit sagen. Beide Seiten haben gelogen und betrogen und Gewalt ausgeübt. Beide Seiten müssen sich zurückziehen. Die NATO muss den Versuch der Erweiterung um die Ukraine und Georgien stoppen. Wir müssen auf die Roten Linien beider Seiten hören, damit die Welt überleben kann.“

Das könnten unsere Transatlantiker von der US-Friedensbewegung lernen: man ist zu allererst für den eigenen Anteil an dem Dilemma zuständig. Auch die Rage Against The War Machine am 19. Februar am Lincoln Memorial in Washington hat sich im Vorfeld beinahe an der Frage zerlegt, ob man unter den 27 prominenten Rednern, die allermeisten, wie Chris Hedges und Ralph Nader, aus dem linken Spektrum, auch einige wenige aus dem konservativen Lager zulassen darf (Nazis und Milizen ausgeschlossen). Und ob ihnen ehrlicher Friedenswillen abzunehmen ist. Letztlich war der gemeinsame Nenner, dass man gegen den militärisch-industriellen Komplex, vor dem der konservative General und US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower einst gewarnt hatte, nur mit einem breiten Bündnis vorgehen könne. Es wurde die erste machtvolle Manifestation gegen die Kriegsmaschinerie.

Dort galt es nicht als Lästerung, wenn man neben der unmissverständlichen Verurteilung von Putins Kriegskurs einräumt, dass in der Geschichte dieses verdammenswerten Krieges der Westen Teil des Problems ist. Hier dagegen steht auf den aus schlichter, schwarz-weißer Weltsicht erhobenen Vorwurf der „Täter-Opfer-Umkehrung“, Exkommunikation und Übergabe an den Satan.
Die inzwischen über 700 000 Unterzeichner des Manifestes für den Frieden akzeptieren diese Deutungshoheit und das Unterlaufen und Spalten der Bewegungen für Frieden, Ökologie und Gerechtigkeit nicht mehr. Nie war breite Opposition mit linker Grundierung so unverzichtbar. Es gilt, die generell gefährdete Möglichkeit emanzipatorischer Bewegungen zu verteidigen.