Aktuell

Nur ein Leben in Frieden ist lebenswert

Daniela Dahn

Dieser Parteitag ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich und zugleich ordentlich. Schon sein Datum ist nicht zufällig. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich die Ehre habe, hier als Erste zu sprechen: Heute vor 79 Jahren hat die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit.
Der 27. Januar ist von der UNO zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt worden. Sahra bat mich, ein paar Worte zu diesem Anlass zu sagen.

Denn von diesem Parteitag geht das unmissverständliche Engagement für Antirassismus und Antifaschismus aus. Der nachdrückliche Wunsch, alle Deutschen hätten für immer aus der Geschichte gelernt, hat sich nicht erfüllt.

Der Schoß ist fruchtbar, immer noch. Angesichts dessen, was Rechtsextremisten in Vorder- und Hinterstuben an faschistoiden Plänen aushecken, geht es um die kollektive Zuständigkeit von uns Nachgeborenen.

Der Kapitalismus mit seinen verheerenden, militärischen Geostrategien, mit seinen sozialen Verwerfungen und der daraus folgenden Ableitung von Wut auf Sündenböcke – bringt er abermals all das hervor, was schon einmal ins Verderben geführt hat?

Ich muss in diesen Tagen an Fania Fénelon denken, die Auschwitz nur überstanden hatte, weil sie zu dessen wahnwitzigem Mädchenorchester gehörte, wie Esther Béjarano und Anita Lasker-Wallfisch. Ich lernte die französische Chanson-Sängerin später in der DDR kennen, wo sie einige Jahre gelebt, unterrichtet und Konzerte gegeben hat. Eingeprägt hat sich mir die Schilderung in ihrem Buch, wie der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der geistige Vater aller KZ, zu „Besuch“ kam. Über seinen letzten davon im Jahr 1942 hatte sich herumgesprochen, dass er der Vernichtung eines eben eingetroffenen Judentransportes beigewohnt hatte, Befehle erteilte, die Selektion müsse noch weniger „Abfall“ hinterlassen. Töten sei wirtschaftlicher als Ernähren.

Und dieses Mal wolle er also ein Konzert des Mädchenorchesters besuchen. Es hieß, sie müssten sich extrem anstrengen, denn er verstünde etwas von Musik. „Horror, Hass, ohnmächtiger Aufruhr packen mich“, schrieb Fania. „Der Organisator unseres eigenen Todes wird hierherkommen. Der Henker wird kommen und sich seiner Opfer freuen.“ Er kam, hörte gelangweilt einige Minuten zu und ging. Er hatte Wichtigeres zu tun. Sein Desinteresse verbreitete Panik im Orchester. War es das Todesurteil?
Am Morgen des 27. Januar 1945 stieß die Rote Armee zunächst auf das Zwangsarbeitslager Monowitz. Hier feuerten Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht noch besinnungslos um sich, etwa 230 sowjetische Soldaten ließen allein hier ihr Leben. Im Laufe des Tages stieß ihre 322. Infanteriedivision bis zum Hauptlager vor.

Nicht die Alliierten, wie Ursula von der Leyen fälschlich behauptete. Die sowjetischen Kameramänner, die sofort zu dokumentieren begannen, schilderten: „Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild: Eine riesige Anzahl von Baracken – auf den Pritschen lagen Menschen, Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen.“

Alle Geknechteten und Geblendeten vom NS-Regime zu befreien, dafür haben allein 13 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben gelassen. Dafür sind wir auf ewig zu Dank verpflichtet, wie immer sich die Weltlage inzwischen verändert hat.
Warum daran erinnern? Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist von Deutschen begangen worden. Es war alles andere als ein Vogelschiss! Und ich finde es wichtig zu betonen, dass sich gerade am heutigen Datum eine Partei konstituiert, der es am Herzen liegt, das Gedächtnis dafür wachzuhalten und Folgerungen daraus zu ziehen.

Denn es geht auch darum, missbräuchliches Erinnern nicht zu dulden. Welch Schindluder hat ein Außenminister der Grünen mit der einzig richtigen Schlussfolgerung: „Nie wieder Auschwitz“ getrieben, als er damit den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien rechtfertigte!

Auschwitz, die ganze Shoa, war nur im Schatten des Weltkrieges möglich. Nichts führt so direkt zur Enthumanisierung wie Krieg. Deshalb ist es so unverzichtbar, wenigstens eine konsequente Friedenspartei im Parlament zu haben.
Zweifellos wäre es auch mir lieber gewesen, die LINKE hätte ihre Kraft zu Vereinigung, wie sie sie etwa mit PDS und WASG bewiesen hat, beibehalten. Auch in ihrer Friedenspolitik hatte sie lange nicht nur meine Sympathie. Doch spätestens als die LINKEN-Parteiführung es aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt hat, die großartige Demonstration „Aufstand für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zu unterstützen, war der Bruch endgültig.

Längst hatte die LINKE ihre Aufgabe als unüberhörbare Opposition zum Regierungskurs eingebüßt. Eine Entwicklung, die die Grünen lange hinter sich hatten.
Folgerichtig gibt es in der derzeitigen Parteienlandschaft eine Repräsentationslücke. Etwa die Hälfte der Bürger finden im gegenwärtigen Parlament keine Partei, mit der sie sich identifizieren können.
Wer der Zeitenwende hin zur Kriegstüchtigkeit konsequent widersprechen will, dem Irrglauben an „Sieg durch Waffen“, diesen wahnsinnigen „Werkzeugen des Todes“, wie Papst Franziskus sie nennt, der könnte sich genötigt sehen, die AfD zu wählen, obwohl er sie in allen übrigen Punkten von Herzen ablehnt.
Das ist ein unhaltbarer Zustand, denn der Frieden muss allen nicht vom Krieg profitierenden Menschen das Allerwertvollste sein. Nur ein Leben in Frieden ist lebenswert.

Waffen und der sie begleitende Wirtschaftskrieg vernichten Leben und den Rest von intakter Natur. Der ebenfalls tobende Informationskrieg soll uns Bürger um den Verstand bringen, den wir benötigen, um mündig zu bleiben. Es muss verdammt noch mal möglich sein, Waffenlieferungen und die Geringschätzung von Verhandlungen und Diplomatie abzuwählen, ohne sich damit das faschistoide und unsoziale Gedankengut der AfD einzuhandeln!

Sahra Wagenknecht hat bewiesen, dass gemeinnütziger Widerspruch noch möglich ist. Sowohl gegen die um sich greifende Kriegsbereitschaft, wie auch in ihrem Engagement für die sozial Benachteiligten. Oder in der Kritik totalitärer Tendenzen im Umgang mit der Pandemie. Sie eröffnet Denkräume, indem sie neoliberale Mythen entlarvt. Sahra reflektiert die Vor- und Nachteile verschiedener Eigentumsformen.
Denn von welchen Besitzverhältnissen wir abhängig sind, das entscheidet über Selbstbestimmung und Identität wohl mehr als alles andere.

All das verdient Unterstützung. Gemessen daran, sind die offenen oder auch umstrittenen Fragen nachrangig. Nicht zweitrangig.
Ich gehe davon aus, dass die Antworten im demokratischen inner- und außerparteilichen Dialog präzisiert werden. Etwa die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du’s mit der Migration?
Als Internationalistin bin ich auch gespannt, was hier für ein Europa-Wahlprogramm verabschiedet wird. Diese EU als transatlantische Filiale der USA und der Nato ist wahrlich vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aber dabei rechne ich auch mit der anhaltenden Gültigkeit der revolutionären Forderung: Prekarier aller Länder, vereinigt euch!

Beide auf ihre Art linken Parteien werden nun wie alle anderen in Konkurrenz stehen. Ich hoffe aber, ähnlich wie Gesine Lötzsch, dass sie sich nicht als politische Hauptgegner ansehen, sondern da, wo sich Gemeinsamkeiten erhalten haben, auch kooperieren.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich bin seit über 30 Jahren parteilos. Und ich beabsichtige auch nicht, daran etwas zu ändern, weil sich meine Erfahrung bestätigt hat, dass der Platz von meinesgleichen zwischen den Stühlen ist.
Es gibt allerdings Momente, in denen man sich für einen Stuhl entscheiden sollte. Ich habe auch noch nie auf einem Parteitag gesprochen. Aber es ist ja nie zu spät, Neues auszuprobieren.
Etwa um dem Bündnis Sahra Wagenknecht meinen Respekt zu bekunden – für den Mut und die Kühnheit, der zunehmend militanten und restaurativen Parteienlandschaft die Stirn zu bieten. Möge dieses Bemühen erfolgreich sein!
Mehr als wünschenswert wäre es, wenn wir alle einen dringend nötigen, wenn auch sicher bescheidenen Beitrag dazu leisten könnten, dass unser Land, und ja, auch unser Europa, zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zur Vernunft gekommen sind.

 

Tacheles reden

Dem deutschen Kulturbetrieb ist angesichts des Terrors der Hamas am 7. Oktober in Israel ein unheimliches Schweigen vorgeworfen worden – man vermisse Menschlichkeit und Empathie. Unter dem Motto: »Gegen das Schweigen, gegen Antisemitismus«, hat am 27. November ein sicher gut gemeintes Solidaritätskonzert im Berliner Ensemble unter viel medialem Beifall demonstriert, was man tun  muss, um…

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Diese Blockade schadet der ganzen Welt

Daniela Dahn

Kuba Ein Tribunal der Völker verurteilt in Brüssel das US-Embargo gegen den Karibikstaat, das seit sechs Jahrzehnten eine Volkswirtschaft systematisch ruiniert

Unmittelbar nach dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 benannte der US-Außenpolitiker Lester Mallory unumwunden die Strategie seiner Regierung: „Jedes mögliche Mittel sollte unverzüglich ergriffen werden, um das Wirtschaftsleben Kubas zu schwächen, um die Löhne zu senken, um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung herbeizuführen.“ Seither hält ein in Dauer und Härte geschichtlich beispielloser Wirtschaftskrieg an. Alle unter 60-Jährigen, also 80 Prozent der heutigen Kubaner, haben nie ein Leben ohne Blockade erlebt. Die angelaufenen Embargo-Schäden werden mittlerweile auf 160 Milliarden US-Dollar beziffert. Das ist nicht Statistik, sondern musste mit Einbußen an Lebensstandard von den Kubanern bezahlt werden.

Als Vorwand für die Strafmaßnahmen gilt die revolutionäre Verstaatlichung von Großgrund- und Immobilienbesitz, den sich US-Bürger wie auch immer angeeignet hatten – im Wert von etwa einer Milliarde Dollar. Gemessen an den Schäden der Blockade eine lächerliche Summe. Zumal Kuba eine über 20 Jahre abzuzahlende Entschädigung angeboten hatte, was abgelehnt wurde, während Spanien und Frankreich darauf eingegangen sind. Übrigens haben heute in Kanada lebende Nachkommen britischer Loyalisten nicht ohne Hohn in ihrem Unterhaus einen Gesetzentwurf eingebracht, der Entschädigung fordert für die Beschlagnahme von Eigentum ihrer Vorfahren während der Amerikanischen Revolution. Doppeltes Maß ist immer einfaches Unrecht.

Keine Spritzen zum Impfen

Lange Zeit wurde Kuba einigermaßen aufgefangen durch die Hilfe der Sowjetunion. Als diese nach deren Ende wegfiel, ging das Land durch ein tiefes Tal, stieg aber aus eigener Kraft wieder auf. Der Tourismus nahm an Fahrt auf, die legendäre kubanische Medizin erreichte in einigen Positionen wieder Weltspitze. So hat Kuba die höchste Ärztedichte pro Einwohner weltweit (Deutschland liegt auf Platz 19 mit fast nur der Hälfte dieser Ärztepräsenz). Zu ganz speziellen Augenoperationen reisten Patienten aus aller Welt nach Havanna. Unter Barack Obama schien sich der Konflikt ein wenig zu entspannen.

Doch Donald Trump verschärfte ihn mit 243 zusätzlichen Sanktionen, setzte Kuba wieder auf die US-Liste der Terrorismus unterstützenden Staaten. Was zu begründen nie für nötig befunden wurde, bis auf den irrwitzigen Hinweis, Kuba habe sich beteiligt an den langwierigen Friedensgesprächen zwischen Kolumbiens linken Rebellen und rechten Militärs. Wessen sich allerdings auch Norwegen, Spanien und Deutschland wiederholt schuldig gemacht haben. Selbst während der Pandemie durften weder Öl noch Beatmungsgeräte geliefert werden. Kuba entwickelte drei eigene Impfstoffe, hatte aber zeitweilig Schwierigkeiten, diese zu nutzen,

Der Onkologe Franco Cavalli aus der Schweiz erklärte dazu in Brüssel, dass bei dieser Art von Krebs bei Gabe der nötigen Medikamente normalerweise nicht amputiert werden muss, sondern eine Knochenimplantation gute Ergebnisse bringt. Aber diese Medikamente seien eben unerlässlich. Wie sie es für all die Kinder waren, die in letzter Zeit in kubanischen Krankenhäusern ihr Leben an den Krebs verloren haben. Auch in Kuba sterben Kinder einen vermeidbaren Tod. Im Namen einer falschen Freiheit.

Die Ankläger und Zeugen des Tribunals erbrachten hinreichend Beweise für die menschenrechtswidrige Praxis der Blockade. Nun hatten die Richter ein Urteil zu fällen – fünf ausgewiesene Rechtstheoretiker aus den USA, Italien, Griechenland und Portugal unter Leitung des Hamburger Völkerrechtlers Norman Paech. Als einzige Nichtjuristin in diesem Gremium hatte ich die schreibende Zunft zu vertreten. Wir zogen uns zur Beratung zurück.

Dass es für die Blockade keine Rechtsgrundlage gibt, war offensichtlich. Eine UN-Resolution vom 14. Dezember 1962 bekräftigte mit dem Grundsatz der Souveränität das Recht jedes Staates, über seine natürlichen Ressourcen selbst zu verfügen. Zumal die Sanktionen nicht auf Restitution oder Entschädigung gerichtet sind, sondern auf den Sturz der Regierung. Damit verletzen sie zahlreiche Menschenrechte, besonders die des UN-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die nicht weniger verbindlich sind als die politischen Rechte.

Die Sanktionen müssen aufgehoben werden

Selbst wenn die beteiligten Staaten und die EU diesen UN-Pakt nicht ratifiziert haben, besteht in der internationalen Rechtstheorie Konsens, dass er durch Gewohnheitsrecht für alle verbindlich ist. Verletzt werden auch grundlegende Bestimmungen des WTO-Handelsrechts, dem die USA beigetreten sind. Es verbietet die Beschränkung von Ein- und Ausfuhren und Geldtransfers. Ausnahmen wegen Sicherheitsinteressen entfallen, da Kuba die USA nicht bedroht. Die UN-Generalversammlung hat wiederholt das US-Helms-Burton-Gesetz kritisiert, das auch in die legitimen Interessen anderer Staaten eingreift. Die Europäische Union hat solche Gesetze 1996 sogar für nichtig erklärt und einen Anspruch auf Verlustausgleich verfügt, sich dann aber der Übermacht gebeugt.

Die Blockade sei eine der heimtückischsten Formen der Kriegsführung, heißt es im vor dem Tribunal verlesenen Urteil, sie erfülle den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Sie habe direkt oder indirekt zum Verlust zahlreicher Menschenleben geführt und sei darauf ausgelegt, langfristig die physische Zerstörung eines Teils des kubanischen Volkes in Kauf zu nehmen. „Eine solche Haltung könnte den Tatbestand des Völkermordes erfüllen.“ Über diese vorsichtige Formulierung haben wir Richter am längsten diskutiert. Sachlichkeit und Gesetzestreue waren oberstes Gebot.

Das Strafmaß lautete: Die rechtswidrigen Sanktionen und die ihnen zugrunde liegenden Gesetze müssen aufgehoben werden. Die USA müssen für den Schaden aufkommen, der dem kubanischen Staat, seinen Unternehmen und Bürgern entstanden ist. Der Beifall im Auditorium bezeugte, dass es mehr als Symbolik sein wird. Die Kubaner sind ermutigt worden, und die USA stehen erneut isoliert vor der Öffentlichkeit da. Eines Tages werden sie sich das nicht mehr leisten können.

erschienen in der Freitag | Nr. 48 |30. November 2023

UN-Vollversammlung: Lula da Silvas und Joe Bidens Reden zeigen die Gräben dieser Welt

Daniela Dahn

„Wir haben die Freude, die Bahamas, die BRD und die DDR willkommen zu heißen“, so Kurt Waldheim, damals UN-Generalsekretär, vor 50 Jahren. Als letzte Feindstaaten des Zweiten Weltkrieges wurden beide Teile Deutschlands in die UN aufgenommen. Zweck von deren Gründung war, die Gräuel eines solchen Krieges künftig zu vermeiden, oberstes Gebot ihrer Charta ist das Gewaltverbot.
Doch bald zeigte sich die Weltgemeinschaft nicht als vereinte Nationen, sondern als neue Systemkonkurrenz verfeindeter Blöcke. Außerhalb Europas bleibt der Kalte Krieg nicht kalt – weder in Korea, Kambodscha und Vietnam noch in Guatemala oder Nicaragua. Erst der Grundlagenvertrag 1972 gab den Alleinvertretungsanspruch der BRD auf. Der Verhandler Egon Bahr: „Bislang hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden es schlechte sein.“ Das war immerhin ein bipolarer Ansatz, keine „wertegeleitete Außenpolitik“.
Heute soll sich die SPD für die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion verantworten. Doch Glasnost und Perestroika ermöglichten auch der UNO, friedenspolitisch aktiver zu werden. Kanzler Helmut Kohl versprach, das vereinte Germany werde der größeren Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens gerecht werden. Die Chance, die internationalen Beziehungen endlich chartagerecht zu gestalten, wurde aber vertan.
Eine zunehmend unipolare Ordnung formte die Welt durch neoliberale Schocks und militärische Einsätze nach ihrem Bilde. Unter Rot-Grün beteiligte sich die BRD am ersten NATO-Krieg: der Angriff auf Russlands Verbündeten Serbien leitete den Niedergang der internationalen Rechtsordnung ein und damit den Machtverfall der UNO zugunsten der NATO.

Transatlantisch konform wird im Arbeitspapier 5/2015 der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Multipolarität als instabil und vorübergehend abgelehnt: „Für die Sicherheitspolitik ist ein ganz anderer Faktor entscheidend: Hegemonie.“ Die beflissene Subordination unter einen Oberbestimmer gilt neuerdings als feministische Politik.

Ja, Autokraten wie Wladimir Putin missachten mit ihrem despotischen Krieg in der Ukraine mühsam errungene internationale Regeln. Aber zuvor haben Demokraten diese Regeln außer Kraft gesetzt. Die unipolare Welt war auch eine recht autokratische Angelegenheit. Hier liegt der explosivste Konfliktstoff in diesem Stellvertreterkrieg.
Deshalb wäre deutsche Verantwortung, sich endlich für Deeskalation durch konstruktive Verhandlungsvorschläge zu engagieren. Die Forderung, Russland möge sich mitten im Krieg bedingungslos aus besetzten Gebieten zurückziehen, um damit Kiew den vom Westen versprochenen Weg zum NATO-Beitritt frei zu machen, ist als Friedensangebot nicht ernst zu nehmen.

„Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass wir alle unfähig sind, die Ziele und Grundsätze der UN-Charta durchzusetzen“, sagte Brasiliens Präsident Lula da Silva bei der UN-Vollversammlung. Eine Kultur des Friedens sei unser aller Pflicht.

Die sich um die BRICS-Gruppe versammelnden Staaten versagen zunehmend die Gefolgschaft. Was US-Präsident Joe Biden in New York zu einer Erfolgsrede trieb, in der er Gemeinsamkeit beschwor. Während die UNO ihre Ziele zur Bekämpfung von Armut und Erderwärmung verfehlt, propagiert er „einen Platz an der Sonne für alle“. Nicht anhören wollte er die Eröffnungsrede des UN-Generalsekretärs António Guterres – in der dieser vor der Spaltung der Welt in West und Ost und Arm und Reich warnte. Der neue Multilateralismus ist für die einen Fluch, für die auf der anderen Seite des Grabens Hoffnung.

erschienen in der Freitag – Ausgabe 38/2023

Politikum 17. Juni

Daniela Dahn

Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West. Das dürfte zum 70. Jahrestag des Ereignisses nicht viel anders sein. Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war der Kontext der Nachkriegsgeschichte, in der es durchaus noch offen war, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde. In der DDR wurde die offensichtlich gewordene Unzufriedenheit, ja, Wut ganzer Belegschaften, neben zögerlichem Eingeständnis von Fehlern, auf vom Westen eingedrungene antisozialistische, wenn nicht faschistische Kräfte reduziert. Eine differenzierte Bewertung in der Öffentlichkeit war nicht möglich.

Wolfgang Leonhard hat im Mai 1945 auf einer internen Sitzung sehr glaubhaft Walter Ulbricht sagen hören: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Die Nachkriegspolitik der westlichen Besatzungsmächte hat allerdings gezeigt, dass in deren internen Sitzungen derselbe Satz gefallen sein muss.

Beispiel Hessen. Hier hatte die US-Militärbehörde sehr schnell darauf gedrängt, dass die Ordnung durch eine neue Verfassung wiederhergestellt wird. Sie sollte mit einem Volksentscheid angenommen werden. So weit, so gut. Die damals handelnden Politiker waren zumeist aus Widerstand und Verfolgung gekommen, sie hielten sich an den amerikanischen Fahrplan, wichen aber in einem zentralen Punkt ab – bei der Wirtschaftsordnung. In Artikel 41 wurde gefordert, dass sofort nach Inkrafttreten der Verfassung die Großindustrie in Gemeineigentum überführt wird: Bergbau, Kohle, Kali und Erze, dazu die Stahlwerke, die Energiebetriebe und das Verkehrswesen. Großbanken und die Versicherungen sollten unter staatliche Verwaltung genommen werden. Die US- Besatzungsmacht war entsetzt. Aber der angekündigte Volksentscheid konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. So ordneten sie als Ausweg an, neben der Abstimmung über die Verfassung, über Artikel 41 gesondert abzustimmen. In der irrigen Annahme, so viel Sozialismus werde schon keine Mehrheit finden.

Am 1. Dezember 1946 stimmten 72 Prozent der Hessen für die Enteignung der Großindustrie. Die hessischen Bürger hatten sich für eine wahrhafte Volksverfassung entschieden. Damit entsprachen sie dem übergroßen Willen aller Deutschen. Wo immer es im gleichen Jahr Volksentscheide zur selben Frage gab, ob in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen, stimmten zwischen 70 und fast 80 Prozent für Gemeineigentum der Großindustrie. Oft war noch die Enteignung von Kriegsverbrechern und Großgrundbesitzern vorgesehen. Die an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide hatten ihr Eigentum im Ganzen erhalten, und manche hatten es gemehrt, alle anderen waren zu Millionen um ihr Eigentum gebracht. Die Leute waren sicher nicht übers Jahr zu Antifaschisten oder gar Sozialisten geworden, aber sie fühlten sich wohl betrogen und wollten die Schuldigen und deren Eigentumsbasis nicht davonkommen lassen.

Das Entsetzen der Westalliierten steigerte sich. Es soll zu hektischen Beratungen in Washington gekommen sein. Im Ergebnis wurde der Volkswille

unterlaufen und die Sozialisierung mit allen Mitteln verhindert. Wenn nicht durch direktes Verbot, so durch den Erlass von Ausführungsgesetzen, die alles blockierten. Gelang die Enteignung in Einzelfällen doch, soll es Abfindungen in Millionenhöhe gegeben haben, mit denen man sich schnell wieder auf dem Markt einkaufen konnte. Was offenbar völlig aus der Erinnerung getilgt wurde, ist die historische Tatsache, dass die Westdeutschen diesen Demokratiebetrug keineswegs widerstandslos hinnahmen.

Im Oktober 1948 rief die Stuttgarter Gewerkschaftsleitung zu einer Protestkundgebung gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard auf, an der Zehntausende aus den Großbetrieben von Bosch und Daimler teilnahmen. Die Absetzung des »Wirtschaftsdiktators« Erhard wurde gefordert, der für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht wurde. In der Innenstadt kam es zu einem Aufruhr, der von der US-Besatzungsmacht mit Tränengas, berittener Polizei und einer Panzerformation niedergeschlagen wurde. Am Abend hatte das Zentrum ein »kriegsähnliches Aussehen«, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt. Der Militärgouverneur Charles LaFolette machte eingedrungene »sächsische Kommunisten« für den Aufruhr verantwortlich. Warum weiß davon heute selbst in Stuttgart niemand mehr?

Der bizonale Gewerkschaftsrat nutzte die allgemeine Empörung und rief für den 12. November zum 24-stündigen Generalstreik gegen die Politik des Wirtschaftsrates und der Besatzungsmächte auf. Er hatte dafür nach internen Absprachen sogar die inoffizielle Genehmigung der Militärbehörden, die sich eine Ventilwirkung versprachen. Doch die Wut war so groß, dass es der größte Massenstreik seit der Weltwirtschaftskrise wurde – mehr als neun Millionen Arbeiter beteiligten sich. (Anteilmäßig sehr viel mehr als beim angeblichen Volksaufstand des 17. Juni in der DDR.) Zu den Forderungen des ersten und letzten Generalstreiks im Nachkriegsdeutschland gehörten nicht die Erhöhung der Löhne, wohl aber die Überführung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum sowie die Demokratisierung und Planung der Wirtschaft. Die Wirtschaftsordnung war damals ernsthaft umstritten. Doch genau dieser Streit wurde unterbunden, er durfte nicht mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden. Das politische Streikrecht wurde nicht ins Grundgesetz aufgenommen.

Im »Arbeiter- und Bauernstaat« gab es gar kein Streikrecht, weil die Werktätigen in den volkseigenen Betrieben angeblich nicht gegen sich selber streiken können. Umso kopfloser war das völlig verfehlte Krisenmanagement, als es doch geschah. Dabei hatte sich die krisenhafte Situation angekündigt. Nach dem Beschluss zum »Aufbau des Sozialismus« vom Sommer 1952 versuchten die Westmächte verstärkt, die DDR durch politische und wirtschaftliche Blockaden zu destabilisieren. Stattdessen wurden in der DDR die Genossenschaften und die volkseigenen Betriebe gefördert, während gegen die Privatindustrie und die Großbauern eine Art Steuerkrieg geführt wurde. Besatzungskosten und Reparationen lasteten auf der Wirtschaft, es gab spürbare Engpässe in der Versorgung und Preiserhöhungen. Was aus der Erinnerung auch

völlig gelöscht ist: Von April bis Anfang Juni streikten die Bauarbeiter Westberlins immer wieder für höhere Löhne. Haben die wiederholten Berichte der Berliner Zeitung darüber womöglich die Kollegen in Ostberlin ermutigt?

Als die DDR-Regierung einen Ausweg durch administrative Normerhöhung um mindestens 10 Prozent ankündigte, kamen scharfe Proteste aus den Betrieben. Eine verordnete Normerhöhung widersprach allen Grundsätzen der Lohnpolitik, wie sie seit Jahrzehnten in Industriestaaten galten. Danach konnte die Norm nur erhöht werden, wenn der Normierer mit der Stoppuhr auf Grund neuer Technik feststellte, dass die Arbeiter eine höhere Produktion brachten. Was aber auch niemand weiß oder erwähnt: Schon 1951 wurde beschlossen, für technisch begründete Normen in der ganzen Industrie zu sorgen. Parteisekretäre und Gewerkschaften hatten das schleifen lassen, so dass auch 1953 nur ein Drittel der geltenden Normen technisch begründet waren. Die Mehrzahl war aus längst vergangenen Zeiten übernommen oder über den Daumen gepeilt. Das volkswirtschaftlich unerwünschte Ergebnis war, dass die Normen vielerorts übererfüllt wurden und dadurch die Löhne stärker stiegen als im Plan vorgesehen war.

Am 21. April stand in der Berliner Zeitung, man müsse nun dringend die Kluft zwischen Lohnsumme und Arbeitsproduktivität überwinden. Weil nämlich die Regierung im März feststellen musste, dass »die für 1952 geplante Lohnsumme auf ungesetzliche Weise um 500 Millionen D-Mark überschritten worden war. Über eine halbe Milliarde! Für diesen Fehler müssen wir alle zahlen.« Was allerdings passiert wäre, wenn die Löhne noch niedriger als im Westen ausgefallen wären, wurde nicht erwogen. Aber am 3. Juni bestärkte die Zeitung den Unmut: »Es wäre unsinnig, die wenigen vorhandenen technisch begründeten Normen auf dem Verwaltungsweg zu erhöhen; man würde ihnen dadurch den Charakter der technischen Begründetheit nehmen.«

Unter der Überschrift »Aussprechen, was ist« hatte die Berliner Zeitung zuvor über die Rede von Elli Schmidt auf dem 13. Plenum der SED berichtet, in der sie kritisierte, dass »in den letzten Wochen Versorgungsmaßnahmen und Preiserhöhungen durchgeführt wurden, ohne dass die Bevölkerung über die Zusammenhänge genügend unterrichtet wurde (…). Wenn wir nicht den Mut haben, die Massen an den Sorgen und Schwierigkeiten teilnehmen zu lassen, entfernen wir uns von ihnen.«

Sie hatten nicht den Mut, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Zu erwarten ist, dass gerade in der jetzigen Russophobie der Mythos vom »durch die sowjetische Armee brutal und blutig niedergeschlagenen« Aufstand wiederbelebt wird. Sicher, allein die Präsenz der Panzer war ein einschüchterndes Symbol von Gewalt. Stark genug, um den Aufstand zu unterdrücken. Doch das suggerierte Bild, wonach die friedlichen Demonstranten nach »chinesischer Lösung« zusammengeschossen wurden, ist falsch. Fakt ist: Die sowjetischen Panzer hatten strengen Befehl, nicht zu schießen. Daran haben sie sich auch gehalten. Das ist den aufgebrachten Demonstranten auch schnell aufgefallen. Eher sind die in den Luken stehenden jungen Panzerfahrer mit Steinen und Latten angegriffen worden, als dass diese Gewalt angewendet hätten. Ihre

einschüchternde Wirkung hatte Grenzen. Während des gesamten Aufstandes ist kein einziger Mensch durch die Gewalt eines Panzers ums Leben gekommen. Es soll einen Unfall gegeben haben, bei dem ein Panzer in eine Baugrube gerutscht ist und dabei jemanden erdrückt hat.

Über die genauen Umstände der 55 Todesopfer des Aufstandes ist erstaunlich wenig bekannt. Scharfschützen wie auf dem Maidan hat es jedenfalls nicht gegeben. Immerhin sind über 250 öffentliche Gebäude erstürmt worden, darunter Dienststellen der Polizei, der Staatssicherheit und der SED. Aus 12 Gefängnissen wurden 1400 Häftlinge befreit. Diese Aktionen waren oft von Demütigungen und gewaltsamen, bewaffneten Prügeleien von beiden Seiten begleitet.

Ich habe diese Darstellung bei einem Faktenscheck in der Forschungsabteilung im damaligen Haus für die Stasi-Unterlagen erfahren. Leider hatte sich auch diese Behörde trotz besseren Wissens meist nur dann zu Wort gemeldet, wenn für die Geschichtsschreibung wieder eine emotional aufgeladene Dämonisierung verlangt wurde. Es brauchte schon einige Hartnäckigkeit, um auch andere Informationen zu bekommen. Bei dem vielen Geld der Steuerzahler, dass in Forschung geflossen ist, sollten sich wenigstens an diesem Jahrestag alle Behörden verpflichtet fühlen, von sich aus mit differenzierten Erkenntnissen der medialen Einseitigkeit entgegenzutreten.

erschienen in Ossietzky 12 vom 10.6.23

E-Mail-Affäre um Springer-Chef: Der Ekel vor Demokraten

Daniela Dahn

Es würde nicht lohnen, auf dieses unterirdische SMS-Geschwätz zu reagieren, wenn die Debatte nicht von großer Scheinheiligkeit wäre. Die ganze Empörung erwächst aus dem Umstand, dass es hier um einen der einflussreichsten Medien-Bosse des Landes geht, Chef und Eigentümer nicht nur des Springer-Konzerns, sondern auch langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Der nun vom Blatt der konkurrierenden Holtzbrinck-Konzerne durch selektive Veröffentlichung mehr oder weniger privater Kommunikation an den Pranger gestellt wird. Nicht, dass man diesem Anprangerer vom Dienst die Pein nicht gönnt. Aber wirklich überraschen können die Enthüllungen über die Denkweise der Führung in diesem Tendenzmedium nicht. Letztlich bestimmen genau diese Inhalte seit Jahrzehnten ohne größeren Widerspruch nicht nur die internen Botschaften im Hause Springer, sondern oft auch die veröffentlichten. Und nicht nur dort. Scheinheilig ist die Debatte, weil sowohl die Aufregung über die Vorwürfe, als auch die Entschuldigung, unglaubwürdig sind. Um von den Verleumdungen hier nur die herauszugreifen, mit der ich mich am besten auskenne: Dass die Ostdeutschen allesamt geistig deformiert und deshalb demokratieuntauglich sind, war jahrelang prominent gesetzte Indoktrination.

Der Spiegel veröffentlichte schon im Februar 1990 eine achtseitige Schmähschrift über das DDR-Bildungssystem „Erziehung zu Drill und Duckmäusertum“. Wurde im Herbst noch die couragierte politische Reife der ihre Bürgerrechte erkämpfenden Ostdeutschen allseits gelobt, musste man jetzt den Eindruck gewinnen, dass Revolutionen mit Vorliebe dort ausbrechen, wo die Konzentration von Duckmäusern besonders hoch ist. Sie alle hätten eine „Gehirnwäsche“ durchlaufen, einen „permanenten Akt geistiger Vergewaltigung“. Zitiert wurde in dem unsignierten Artikel immer wieder der angebliche Pädagogik-Experte Johannes Niermann, der später auch in einer öffentlichen Anhörung des Bundestages seinen Auftritt hatte. In dem Gutachten beschuldigte er „die gesamte Intellegentia“ (gehören Rechtschreibschwäche und Denunziation zusammen?), das „Lügengebäude“ aufgebaut zu haben und attestiert, dass dies zu einer „ganz primitiven Konditionierung, wie bei Tierdressuren“ geführt habe. Er bedauert, dass die Peiniger nicht hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden, stattdessen „laufen diese weiter frei herum“. Mit einer dringenden Empfehlung, entwickelte er missionarischen Eifer: Abiturabschlüsse seien in den neuen Bundesländern auf 10 bis 30 Prozent zu reduzieren, dafür an den Mittel- und Realschulen Schwerpunkte wie Hauswirtschaft als Pflichtfach für Mädchen, sowie Werken und Handarbeit einzuführen. Die Berliner Zeitung veröffentlichte eine Karikatur mit dem Kanzler in Ritterrüstung vor dem Schild „Bundesdeutsche Kohlonie!“ Der Plan, Ostdeutschland zu einem minderbemittelten Agrarland ohne eigene Kapitalisten zu machen, ist weder neu noch ganz misslungen.

Auch der Historiker Arnulf Baring, beliebter Talkshow-Gast, hatte in seinem Buch „Deutschland, was nun?“ spürbares Vergnügen an der Herabwürdigung von DDR-Akademikern. Sie seien durch das Regime fast ein halbes Jahrhundert „verzwergt“ und „verhunzt“ worden. Ob sich einer dort Arzt, Ingenieur oder Pädagoge nenne, „das ist völlig egal. Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar.“ Die Westdeutschen könnten diesen „politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben“, es würde nichts nutzen, denn die Ostdeutschen „haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten“. Der aus allen Zusammenhängen gerissene und immer wieder bemühte Adorno-Satz, es gäbe kein wahres Leben im falschen, stempelte rückwirkend handstreichartig sämtliche DDR-Leben als wertlos. Im Kontext von Eignung für Führungspositionen war die Interpretation: unwert. Das Narrativ von gut-böse und richtig-falsch blockierte einen beidseitigen Austausch. Dabei sind die Unterschiede nur gradueller Natur, letztlich gibt es wohl nichts anderes als wahres Leben im falschen. Der Molekularbiologe und DDR-Oppositionelle Jens Reich beklagte, dass in der vielbeachteten Gesellschaftsgeschichte des Historikers Hans-Ulrich Wehler Millionen Ostdeutsche „nicht als Akteure dargestellt auftreten, sondern als eine Art Schafherde“.

Alle falschen Weichenstellungen müssten laut dieser Sicht nach westlichem Modell in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. „Das ist die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990“, so Wehler. Ist die Bürde nicht vielmehr, dass das völlige Missachten östlicher Erfahrungen eine bis heute mühselige Korrektur erfahren muss? Dass die plumpen Diffamierungen jetzt nur noch in privaten Tweets gewagt werden, ist zwar ein Fortschritt, zeigt aber zugleich, wie quicklebendig sie noch sind.

Der Dichter Wolfgang Hilbig beschrieb die Demütigungen als „Unzucht mit Abhängigen“. Lange Zeit hatte man das hinzunehmen. Und auch der öffentliche Widerspruch von Westprominenz blieb übersichtlich. Gaus, Grass, Bahr – sie wurden dafür gescholten. Wer gar im Osten wagte, die Versimpler anzugreifen, wie ich in meinen Büchern, wurde des „Osttrotzes“ bezichtigt.

Gegen den Axel-Springer Konzern habe ich ein halbes Dutzend Verleumdungsklagen geführt, weil ich in Texten des moralisierenden Hauses mit abenteuerlichen Spekulationen mal in Stasi-, mal in Nazi-Nähe gerückt wurde. Das Schmerzensgeld, zu dem der Konzern verurteilt wurde, hat er gern aus der Porto-Kasse bezahlt und weiter gemacht. Die Lust am versuchten Disziplinieren blieb eine dauerhafte Erfahrung struktureller Gewalt. Es gab lange keine denunziationsfreien Räume für die Ostdeutschen. Und nie hat sich dafür jemand entschuldigen müssen oder wurde gar zum Rücktritt aufgefordert, wie jetzt Döpfner. Aber warum war und ist gerade die Demokratiefähigkeit der DDR-Sozialisierten so ein Reizthema? Solange sie 1989 ihre Regierung zum Rücktritt zwangen, wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihren Humor selbst von der Springer-Presse gelobt. Sobald aber ihre Vorstellungen von Demokratisierung Gefahr liefen, auch den Status quo der Bundesrepublik in Frage zu stellen, hörte der Spaß auf. Klaus Hartung lobte in der taz den Runden Tisch und das Kabinett Modrow für das klare Programm der Demokratisierung. „Insofern geht die Macht wirklich vom Volke aus und bleibt vor allem bei ihm – in einem Maße, wie es im ehemals freien Westen nie denkbar war und ist. In der Demokratie DDR ist jetzt schon die Straflosigkeit des gewaltlosen Widerstands garantiert, ein Prozess, der unsere Sicherheitsgesetze noch peinlicher machen wird. Die repräsentative Demokratie, die im Grunde eine Großparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der innerste Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen.“ Zu der Zeit war ich Mitglied der ersten unabhängigen Untersuchungskommission; wir hatten das Mandat, die Verantwortlichen für die Übergriffe von Polizei und Staatssicherheit auf Demonstranten zu befragen. Auch wenn diese unwillig waren und blockierten, sie hatten uns Rede und Antwort zu stehen. Wir erreichten den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten.

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise“, hieß es in einer Erklärung von wichtigen Stimmen wie Inge Aicher-Scholl, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich oder Heinrich Albertz. Es würden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt, um die Bemühungen für eine sozialistische Demokratie zu verschütten. Dann würden auch die „sozialen Bewegungen in unserem Lande einen schweren Rückschlag erleiden“. Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu: „Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“ Hatten wir die SPD mitgerissen, die mitten in der Wendezeit, auf ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1989 ein neues Programm beschloss? „Es ist eine historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.“ Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Das dürfte für Mathias Döpfner und seine FDP-Freunde schon hinreichend ekliger Kommunismus-Verdacht sein. Seis drum. „Die ossis werden nie Demokraten“ – an seiner Prognose ist was dran, wenn man bedenkt, dass viele eine andere Vorstellung von Demokratie hatten – nicht nur eine Worthülse à la Bildzeitung, sonders das ganz große Versprechen, dass mit einem „Demokratischen Aufbruch“ verbunden sein sollte.

Das war die Endstation Sehnsucht: Wohlstand durch eine Demokratie, die auch die Wirtschaft erfasst, die viele Facetten haben sollte, räte- oder basisdemokratische, jedenfalls nicht eine auf Privateigentum fixierte, kapitalistische Demokratie sein würde. Und diese Sehnsucht war ansteckend. An der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und die SPD schlägt einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 sagen ihr Umfragen dort immer noch eine absolute Mehrheit voraus. Ihre Genossin Anke Martini findet, dass die Ostdeutschen den nötigen Antworten schon nähergekommen sind „als wir Westler, die wir unser System so wenig in Frage zu stellen gewohnt sind“. Bündnis 90 greift das größte Tabu auf, fordert eine Volksabstimmung über den Erhalt des Volkseigentums.

Damals wurde begonnen, Systemfragen zu stellen – das Grundgesetz lässt dafür viel Spielraum. Aber Konservative sehen schnell ein Gespenst der Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung umgehen. Jetzt konnte die CDU das Ruder nur noch herumreißen, wenn sie auf die ganz große Pauke haut. DDR-Medien, die sich zum allgemeinen Erstaunen schnell von Zensur emanzipiert hatten und deren Sender im Osten eine höhere Sehbeteiligung erreichten als die westlichen, waren frei erfundenen Räuberpistolen des Boulevards noch nicht gewachsen. Sie erlebten erstmalig, wie ein von privaten Medien genährter Manipulationsapparat eine Mehrheitsmeinung in kürzester Zeit ins Gegenteil verkehrt, wie ich in dem Buch Tamtam und Tabu detailgetreu nachgewiesen habe. Die eine Strategie war, den Volkszorn zu schüren, indem DDR-Politikern von Bild, aber auch vom Spiegel und anderen angedichtet wurde, sie hätten sich auf Staatskosten Luxusgüter angehäuft, von Brillanten bis zu Jaguars – das waren reine Fakes. Der Spiegel frohlockte, dass diese Berichte in der DDR Furore machten, tausendfach fotokopiert in Betrieben ausgehängt, zur „Volkslektüre“ wurden.

Noch wirksamer aber war die zweite Strategie, die Panik auslöste durch die plötzliche Behauptung von Kohls engstem Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, wonach der Kollaps der DDR-Wirtschaft unmittelbar bevorstünde, was völlige Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen bedeute. Damit dieser Unsinn geglaubt wird, behauptete Bild, der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar Maizière habe das bestätigt. Dessen Dementi, wonach ihm dergleichen nicht bekannt sei, erwähnen die Westmedien nicht. Stattdessen legt der Spiegel auch Ministerpräsidenten Hans Modrow frei erfundene wörtliche Zitate in den Mund: „Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres.“ Erst daraufhin habe Kohl beschlossen, die Währungsunion sofort vorzubereiten, „koste es, was es wolle“. Bild bringt es auf das populistische Fazit: Die Wirtschaft der DDR hängt am Tropf, sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das vom Westkanzler für die Ostwahlen gegründete Bündnis Allianz für Deutschland geht an die Arbeit.

Geschockt und verängstigt nehmen die Wähler das Versprechen der D-Mark als Messias an. Dass sie einem neuen „Lügengebäude“ erlegen waren und nunmehr jede Reformidee aufgekauft werden konnte, merkten sie erst nach und nach. Und die meisten Westdeutschen glauben bis heute die verbreitete Lesart, wonach ihre einst Brüder und Schwestern Genannten nichts anderes wollten, als nur so schnell wie möglich so wie im Westen leben. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Auch wenn Volksentscheide gerade noch verhindert werden konnten, belegte die erste repräsentative Umfrage nach der Wahl etwas anderes: So gut wie alle waren für die Einheit, aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Sie wollten als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Nicht nur Ampel- und Sandmännchen sollte aus der DDR erhalten bleiben, sondern 68 Prozent sprachen sich für die Kernsubstanz aus – das Volkseigentum. Die Privatisierung im Osten wurde zum öffentlichen Milliardengrab, das bis heute den Haushalt belastet, während sich der private Reichtum oft steuerfrei verdoppelte – ein Billionengrab. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.“ Wo kein Haben ist, da ist auch kein Sagen.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er schaut in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals? Christian Führer, legendärer Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, wollte die von ihm begründeten Montagsdemonstrationen wiederbeleben: Eigentlich steht der zweite Teil der Revolution noch aus. Die Marktwirtschaft ist im Grunde gewalttätig. Die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst.

Heute haben sich die Ostdeutschen solch subversive Töne abgewöhnt, auch durch ein weitgehend erfülltes Konsum-Versprechen. Die einstige linke Oppositionspartei zerlegt nicht mehr die Machtverhältnisse, sondern lieber sich selbst. Und überlässt den Protest den Rechten.

Presseerzeugnisse wie die von Mathias Döpfner haben zu Verflachung und Entpolitisierung beigetragen. Bei einer vom Mainstream geformten Mehrheit wäre Basisdemokratie weitgehend ihres Sinnes beraubt. Da fällt es nicht schwer, sich bei den zahm gewordenen Ostlern zu entschuldigen und vorzugeben, ihre Lebensleistungen nunmehr würdigen zu wollen. Aber welche denn? Ihre Verdienste, Alternativen ausprobiert zu haben? Nach dieser Bilanz fragt heute niemand mehr. Aber sie ist nicht nur zwischen Ost und West weiterhin offen.

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung:

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