Dieser Parteitag ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich und zugleich ordentlich. Schon sein Datum ist nicht zufällig. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich die Ehre habe, hier als Erste zu sprechen: Heute vor 79 Jahren hat die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit.
Der 27. Januar ist von der UNO zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt worden. Sahra bat mich, ein paar Worte zu diesem Anlass zu sagen.
Denn von diesem Parteitag geht das unmissverständliche Engagement für Antirassismus und Antifaschismus aus. Der nachdrückliche Wunsch, alle Deutschen hätten für immer aus der Geschichte gelernt, hat sich nicht erfüllt.
Der Schoß ist fruchtbar, immer noch. Angesichts dessen, was Rechtsextremisten in Vorder- und Hinterstuben an faschistoiden Plänen aushecken, geht es um die kollektive Zuständigkeit von uns Nachgeborenen.
Der Kapitalismus mit seinen verheerenden, militärischen Geostrategien, mit seinen sozialen Verwerfungen und der daraus folgenden Ableitung von Wut auf Sündenböcke – bringt er abermals all das hervor, was schon einmal ins Verderben geführt hat?
Ich muss in diesen Tagen an Fania Fénelon denken, die Auschwitz nur überstanden hatte, weil sie zu dessen wahnwitzigem Mädchenorchester gehörte, wie Esther Béjarano und Anita Lasker-Wallfisch. Ich lernte die französische Chanson-Sängerin später in der DDR kennen, wo sie einige Jahre gelebt, unterrichtet und Konzerte gegeben hat. Eingeprägt hat sich mir die Schilderung in ihrem Buch, wie der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der geistige Vater aller KZ, zu „Besuch“ kam. Über seinen letzten davon im Jahr 1942 hatte sich herumgesprochen, dass er der Vernichtung eines eben eingetroffenen Judentransportes beigewohnt hatte, Befehle erteilte, die Selektion müsse noch weniger „Abfall“ hinterlassen. Töten sei wirtschaftlicher als Ernähren.
Und dieses Mal wolle er also ein Konzert des Mädchenorchesters besuchen. Es hieß, sie müssten sich extrem anstrengen, denn er verstünde etwas von Musik. „Horror, Hass, ohnmächtiger Aufruhr packen mich“, schrieb Fania. „Der Organisator unseres eigenen Todes wird hierherkommen. Der Henker wird kommen und sich seiner Opfer freuen.“ Er kam, hörte gelangweilt einige Minuten zu und ging. Er hatte Wichtigeres zu tun. Sein Desinteresse verbreitete Panik im Orchester. War es das Todesurteil?
Am Morgen des 27. Januar 1945 stieß die Rote Armee zunächst auf das Zwangsarbeitslager Monowitz. Hier feuerten Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht noch besinnungslos um sich, etwa 230 sowjetische Soldaten ließen allein hier ihr Leben. Im Laufe des Tages stieß ihre 322. Infanteriedivision bis zum Hauptlager vor.
Nicht die Alliierten, wie Ursula von der Leyen fälschlich behauptete. Die sowjetischen Kameramänner, die sofort zu dokumentieren begannen, schilderten: „Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild: Eine riesige Anzahl von Baracken – auf den Pritschen lagen Menschen, Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen.“
Alle Geknechteten und Geblendeten vom NS-Regime zu befreien, dafür haben allein 13 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben gelassen. Dafür sind wir auf ewig zu Dank verpflichtet, wie immer sich die Weltlage inzwischen verändert hat.
Warum daran erinnern? Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist von Deutschen begangen worden. Es war alles andere als ein Vogelschiss! Und ich finde es wichtig zu betonen, dass sich gerade am heutigen Datum eine Partei konstituiert, der es am Herzen liegt, das Gedächtnis dafür wachzuhalten und Folgerungen daraus zu ziehen.
Denn es geht auch darum, missbräuchliches Erinnern nicht zu dulden. Welch Schindluder hat ein Außenminister der Grünen mit der einzig richtigen Schlussfolgerung: „Nie wieder Auschwitz“ getrieben, als er damit den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien rechtfertigte!
Auschwitz, die ganze Shoa, war nur im Schatten des Weltkrieges möglich. Nichts führt so direkt zur Enthumanisierung wie Krieg. Deshalb ist es so unverzichtbar, wenigstens eine konsequente Friedenspartei im Parlament zu haben.
Zweifellos wäre es auch mir lieber gewesen, die LINKE hätte ihre Kraft zu Vereinigung, wie sie sie etwa mit PDS und WASG bewiesen hat, beibehalten. Auch in ihrer Friedenspolitik hatte sie lange nicht nur meine Sympathie. Doch spätestens als die LINKEN-Parteiführung es aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt hat, die großartige Demonstration „Aufstand für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zu unterstützen, war der Bruch endgültig.
Längst hatte die LINKE ihre Aufgabe als unüberhörbare Opposition zum Regierungskurs eingebüßt. Eine Entwicklung, die die Grünen lange hinter sich hatten.
Folgerichtig gibt es in der derzeitigen Parteienlandschaft eine Repräsentationslücke. Etwa die Hälfte der Bürger finden im gegenwärtigen Parlament keine Partei, mit der sie sich identifizieren können.
Wer der Zeitenwende hin zur Kriegstüchtigkeit konsequent widersprechen will, dem Irrglauben an „Sieg durch Waffen“, diesen wahnsinnigen „Werkzeugen des Todes“, wie Papst Franziskus sie nennt, der könnte sich genötigt sehen, die AfD zu wählen, obwohl er sie in allen übrigen Punkten von Herzen ablehnt.
Das ist ein unhaltbarer Zustand, denn der Frieden muss allen nicht vom Krieg profitierenden Menschen das Allerwertvollste sein. Nur ein Leben in Frieden ist lebenswert.
Waffen und der sie begleitende Wirtschaftskrieg vernichten Leben und den Rest von intakter Natur. Der ebenfalls tobende Informationskrieg soll uns Bürger um den Verstand bringen, den wir benötigen, um mündig zu bleiben. Es muss verdammt noch mal möglich sein, Waffenlieferungen und die Geringschätzung von Verhandlungen und Diplomatie abzuwählen, ohne sich damit das faschistoide und unsoziale Gedankengut der AfD einzuhandeln!
Sahra Wagenknecht hat bewiesen, dass gemeinnütziger Widerspruch noch möglich ist. Sowohl gegen die um sich greifende Kriegsbereitschaft, wie auch in ihrem Engagement für die sozial Benachteiligten. Oder in der Kritik totalitärer Tendenzen im Umgang mit der Pandemie. Sie eröffnet Denkräume, indem sie neoliberale Mythen entlarvt. Sahra reflektiert die Vor- und Nachteile verschiedener Eigentumsformen.
Denn von welchen Besitzverhältnissen wir abhängig sind, das entscheidet über Selbstbestimmung und Identität wohl mehr als alles andere.
All das verdient Unterstützung. Gemessen daran, sind die offenen oder auch umstrittenen Fragen nachrangig. Nicht zweitrangig.
Ich gehe davon aus, dass die Antworten im demokratischen inner- und außerparteilichen Dialog präzisiert werden. Etwa die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du’s mit der Migration?
Als Internationalistin bin ich auch gespannt, was hier für ein Europa-Wahlprogramm verabschiedet wird. Diese EU als transatlantische Filiale der USA und der Nato ist wahrlich vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aber dabei rechne ich auch mit der anhaltenden Gültigkeit der revolutionären Forderung: Prekarier aller Länder, vereinigt euch!
Beide auf ihre Art linken Parteien werden nun wie alle anderen in Konkurrenz stehen. Ich hoffe aber, ähnlich wie Gesine Lötzsch, dass sie sich nicht als politische Hauptgegner ansehen, sondern da, wo sich Gemeinsamkeiten erhalten haben, auch kooperieren.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich bin seit über 30 Jahren parteilos. Und ich beabsichtige auch nicht, daran etwas zu ändern, weil sich meine Erfahrung bestätigt hat, dass der Platz von meinesgleichen zwischen den Stühlen ist.
Es gibt allerdings Momente, in denen man sich für einen Stuhl entscheiden sollte. Ich habe auch noch nie auf einem Parteitag gesprochen. Aber es ist ja nie zu spät, Neues auszuprobieren.
Etwa um dem Bündnis Sahra Wagenknecht meinen Respekt zu bekunden – für den Mut und die Kühnheit, der zunehmend militanten und restaurativen Parteienlandschaft die Stirn zu bieten. Möge dieses Bemühen erfolgreich sein!
Mehr als wünschenswert wäre es, wenn wir alle einen dringend nötigen, wenn auch sicher bescheidenen Beitrag dazu leisten könnten, dass unser Land, und ja, auch unser Europa, zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zur Vernunft gekommen sind.