Vertane Chancen, Siegerpose, keine Nachdenklichkeit – 75 Jahre Grundgesetz

In guter Verfassung zu sein, ist eine besondere Gunst. Das Grundgesetz ist eine ziemlich gute Verfassung. Man kann froh sein, es zu haben. Hatte ich mich angesichts der oft abweichenden Praxis zunächst als Verfassungspatriotin gesehen, hat die Einsicht in politischen Kontext später partielles Kontra bewirkt. Was ziemlich gut ist, könnte auch besser sein. Oder müsste sogar.

Die als Provisorium für das westdeutsche Staatsfragment geplante Verfassung entstand unter Besatzungsrecht im Auftrag der westlichen Militärbehörden und trug von Anfang an deren Handschrift. Die sorgte dafür, dass das Fragment mit dem eigenen System kompatibel sein würde. Pannen wie im Dezember 1946 in der Landesverfassung Hessen sollten sich nicht wiederholen: Laut Artikel 41 sollte sofort nach Inkrafttreten die Großindustrie in Gemeineigentum überführt werden.

Wo immer zu diesem Ziel damals Volksabstimmungen möglich waren, bezeugten 70 bis 80 Prozent der Teilnehmer, dass dies die übergroße Lehre der Deutschen aus der NS-Zeit war. Vergesellschaftung sowie Demokratisierung und Planung der Wirtschaft waren im November 1948 auch die Hauptforderung des größten deutschen Massenstreiks seit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er. Der bizonale Gewerkschaftsrat hatte zu einem 24-stündigen Generalstreik gegen die restaurative Politik des Wirtschaftsrats und der Besatzungsmächte aufgerufen, an dem neun Millionen Arbeiter teilnahmen. Ein mutiger Widerstand, an den keinerlei Gedenkkultur erinnerte und der heute vergessen ist.

Dieser Volkswille wurde acht Monate später beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee gehorsam unterlaufen. Das politische Streikrecht kam nicht ins Grundgesetz, und die sozialen UN-Menschenrechte blieben defizitär. Das sicher gut gemeinte Sozialstaatsprinzip ist bis heute unkonkret. Die in Artikel 51 angebotene Option Gemeineigentum blieb ein leeres Versprechen, das wegen des Erlasses blockierender Ausführungsgesetze bis heute kein einziges Mal in Anspruch genommen werden konnte. Auch weil der gewachsene Wohlstand dafür angeblich keinen Grund mehr bot.

Das änderte sich, als sich beim überstürzten Gang zur deutschen Einheit nicht nur die DDR-Bürgerbewegung für den Schutz des Volkseigentums einsetzte. Schon im November 1989 hatte die alte Volkskammer wesentliche Teile der DDR-Verfassung außer Kraft gesetzt. Die Regierung Modrow hatte Legitimität nur noch durch die am Runden Tisch verhandelnde „Regierung der nationalen Verantwortung“, die die neuen Bürgerrechtsgruppen einbezog. Bündnis 90 wollte die Einheit nicht so schnell wie möglich, sondern so gut wie möglich. Der Runde Tisch beauftragte Ost- und West-Experten, eine Übergangsverfassung für die DDR zu entwerfen, die auch bei einer Vereinigung nach Artikel 146 GG Beachtung finden würde. Angesichts der unsicheren Lage war Eile geboten – das einzig Beständige war die Zahl der Übersiedler aus der DDR. Doch der Grundgesetzentwurf von Herrenchiemsee wurde auch in 13 Tagen verfasst. Am 4. April wurde der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der neu gewählten Volkskammer übergeben.

Diese Volkskammer wird gewöhnlich mit der Zuschreibung „erste frei gewählte“ geadelt. Doch Freiheit – an so viel sei im Kant-Jahr erinnert – hat neben der formalen auch eine psychologische und eine praktische Seite. Was ich in dem Buch Tamtam und Tabu in detaillierter Analyse von Presseartikeln, Politiker-Äußerungen und Umfragen belege, muss hier zur These gerinnen: Das Wahlergebnis war bundesdeutscher Desinformation, Zermürbung und Erpressung geschuldet. Noch vier Wochen vor der Märzwahl hatte die Ost-SPD auf Lafontaine-Linie in Umfragen die absolute Mehrheit. Auch Helmut Kohls Versprechen der schnellen D-Mark hatte nicht den Umschwung gebracht.

Erst die dreiste Behauptung von Kanzleramtschef Horst Teltschik vom 9. Februar, die DDR werde in wenigen Tagen zahlungsunfähig sein, der wirtschaftliche Kollaps stehe unmittelbar bevor, löste Panik und Angstkampagnen aus. Die Stimmen westdeutscher Banker, es handele sich um durchsichtige Gerüchte, kamen in den Medien kaum vor, dafür druckte der Spiegel frei erfundene Modrow-Äußerungen, die den eingetretenen Bankrott belegen sollten. Ein Fake von vielen anderen. Kohl umgarnte die DDR-Wähler zwei Tage später im ZDF mit einem Versprechen, das einzuhalten er nie beabsichtigte: Man werde eine neue Verfassung schaffen, die Bewährtes von beiden Seiten übernehme. „Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.“ Eine Woche vor der Wahl tagte die Führungsspitze von CDU/CSU schon besitzergreifend in der DDR und pries Artikel 23 als einzigen Ausweg. Der bayrische Ministerpräsident Max Streibl erpresste: Die DDR bekäme nur Geld, wenn sie CSU-nahe Parteien wähle. Die Leute mussten glauben, sie könnten ihren Besitzstand nur wahren, wenn sie erst einmal die Kräfte des Geldes wählten.

Weil es immer bestritten wird: Bevor die „frei“ gewählte, CDU-geführte Volkskammer ihre Arbeit aufnahm, stellten die DDR-Bürger in einer repräsentativen Meinungsumfrage im April 1990 noch einmal klar, was nun deren Regierungsauftrag war. Die Einheit stand nicht mehr zur Disposition. Aber um die 80 Prozent lehnten immer noch einen schnellen Beitritt ab. Beide Regierungen sollten gleichberechtigt auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Sie wünschten, das Ergebnis durch eine Volksabstimmung zu überprüfen. Denn 68 Prozent wollten immer noch das Volkseigentum erhalten und daneben andere Formen zulassen. Es ging der Mehrheit eben nicht darum, so schnell wie möglich im Status quo des Westens anzukommen.

Der eigentliche Wunsch bestand bis zuletzt darin, Eigenes in die Einheit einzubringen. Der Entwurf des Runden Tisches war ein modernisiertes Grundgesetz. Die Präambel kam ohne Gott aus und beschrieb die deutsche Einheit als Teil der europäischen. Der Grundrechtekatalog war deutlich umfangreicher. Das an Gemeinwohl orientierte Denken zeigte sich im Recht auf Arbeit und Wohnung. Frauen wurden bessergestellt, Benachteiligung wegen Alter, Behinderung oder sexueller Orientierung verboten. Der Schutz der Umwelt, einschließlich der Haftung für Schäden, war ein neuer Schwerpunkt. Die Bürger wurden besser in die Entscheidungsfindung einbezogen. Volksgesetzgebung griff den Demokratisierungsdruck der Wendezeit auf. Öffentliches und genossenschaftliches Eigentum wurden gefördert, eine Regelung zum Übergang von Volkseigentum ins Privatrecht gab es noch nicht, was eine Fehlstelle war. Alles in allem hätte diese Initiative die Aufmerksamkeit des Parlaments verdient.

Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, der an dem Entwurf beteiligt war, schilderte, wie die Bonner Ministerialbeamten darauf mit der gequälten Geduld, die uneinsichtigen Kindern gilt, reagierten und belehrten, das komme alles nicht in Frage. Und wie die neuen DDR-Verantwortlichen auf deren Linie schwenkten. Am 26. April 1990 beschloss die Volkskammer, den Entwurf nicht zur Beratung an den Verfassungsausschuss zu überweisen und stattdessen nach Artikel 23 beizutreten. Der Bundestag in Bonn sah schon gar keinen Grund, sich mit neuen Ideen für künftige Gemeinsamkeit zu befassen. Damit war der Versuch gescheitert, den DDR-Unterhändlern für die bevorstehenden Verhandlungen zur Einheit eine verfassungsrechtliche Bindung mitzugeben, um sie vor Überrumpelung zu bewahren. Auch formal frei Gewählte bieten keine Garantie dafür, nicht schwerwiegenden Fehler zu machen.

Doch die revolutionären Impulse hatten längst auch Teile der linksliberalen West-Elite ergriffen. Sie brachten den „gestreckten Artikel 23“ ins Gespräch. Erst Beitritt, dann in Ruhe gemeinsame Verfassungsgebung. Wer erinnert sich noch? Im September 1990 hielt als erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ in Weimar seinen ersten Kongress ab. 200 Juristen und Vertreter von Wissenschaft, Politik und Kultur griffen die Verfassung des Runden Tisches auf, um sie weiterzuentwickeln. Darunter Jürgen Habermas, Otto Schily, Bärbel Bohley, Rosemarie Will und Ulrich K. Preuß, der warb: „Eine Gesellschaft, die sich selbst eine Verfassung gegeben hat, ist politisch intelligenter, wacher und über sich selbst aufgeklärter.“ Über 2.000 Bürger machten Vorschläge. Die politische Klasse begleitete die Initiative mit Argwohn. Im Mai 1991 versicherte Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), eine Verfassungsneuschöpfung werde es mit der CDU nicht geben. Im Juni wurde die überarbeitete Verfassung dennoch in der Frankfurter Paulskirche vorgestellt. Sie hatte vieles vom Runden Tisch bewahrt und fortgeschrieben. Aber sie ging noch mutiger auf Schwächen der eigenen Ordnung ein. Sie forderte eine umfassende Friedenspflicht des Staates, einschließlich Abrüstungsverpflichtung und Waffenexportverbot. Neben Gesetzentwürfen sollten auch Verordnungen zustimmungspflichtig sein, damit nicht mehr am Parlament vorbeiregiert werden konnte. In einer zugehörigen Denkschrift hieß es, der Ohnmacht des Parlaments müsse als Gefahr für die Demokratie vorgebeugt werden. Die Beschränkung auf repräsentativen Parlamentarismus werde dem zunehmenden Bedürfnis der Bürger nach Teilhabe nicht mehr gerecht. Das politische System müsse für neue Inhalte und Politikformen geöffnet werden, um politisches Engagement zu fördern.

CDU-Regierung und konservative Leitmedien reagierten harsch. Soziale Grundrechte seien als Eingriffe in Freiheitsrechte abzulehnen. Es sei geradezu grotesk, dass das Grundgesetz, nachdem es sich als der sozialistischen Gesellschaftsform überlegen erwiesen habe, nun geändert werden solle. Die Siegerpose hatte jegliche Nachdenklichkeit abgeworfen. In dieser selbstgerechten Grundstimmung bestand die Gefahr, dass eine Verfassungsänderung nur Verschlechterung bringen würde. Auch das Kuratorium war gescheitert.

In der Praxis scheiterte unterdessen der schnelle Beitritt. Die Zahl der Übersiedler war nach Einführung der D-Mark höher denn je. Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der „friedlichen Revolution“ –, doch sie wurden ignoriert.

Das Wegfegen der Bemühungen um einen auch verfassungsrechtlichen Neuanfang war viel mehr als eine vertane Chance. Es war Pflichtvergessenheit gegenüber einem sich ausbreitenden Ohnmachtsgefühl von Bürgern, die zu dem heutigen Rechtsruck beigetragen hat, zu Frust, Hass, Gewalttätigkeit und Demokratieverachtung. Es war organisierte Verantwortungslosigkeit der Mächtigen.

erschienen in der Freitag | Nr. 21 | 23. Mai 2024