Daniela Dahn

Deutsche Einheit: Was sich im Osten tut, ist ein Seismograf des künftigen Westens

Daniela Dahn

Vor 34 Jahren wurde die DDR an die Bundesrepublik angeschlossen. Zerstören die renitenten Ostdeutschen gerade die Westbindung und damit das Erfolgsmodell Westdeutschlands – oder könnten sie vielmehr endlich zu dessen Reformierung beitragen?

Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Deutschen Einheit sollten ein Höhepunkt sein, doch die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Die erhoffte „innere Einheit“ ist ein Phantom geblieben. Das war vorherzusehen und es ist auch vorhergesehen worden. Der damalige Mitherausgeber des Freitag, Günter Gaus, warnte: „Die Einheit als solche ist noch kein Glück, sondern Voraussetzung dafür, dass im vereinten Land die Mehrheiten die Chancen des gleiches Glücks und die Gefährdungen des gleichen Unglücks haben.“

Doch Glück und Unglück wurden seit 1990 sehr ungleich verteilt.

Zum 10. Jahrestag der formalen Einheit schrieb ich: „Einen Vereinigungsprozess, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Der Zusammenschluss verschieden starker Partner ist immer die Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas Kaltes zusammenfließen, dann wird das Warme kälter und das Kalte wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich und Arm vereinen, dann wird der Reiche reicher und der Arme ärmer. So ist der Mensch.“ Ein historisches Beispiel gefällig? Als sich die reichen Nordstaaten Amerikas nach dem gewonnenen Bürgerkrieg 1865 entschlossen, den armen Süden aufzubauen, nahm in einem Jahrzehnt der Wohlstand des Nordens um weitere 50 Prozent zu, während er im Süden um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld. Das auf Wachstum und Privateigentum angewiesene Geld im Kapitalismus.

Eine ökonomische Atombombe

Selbstverständlich gab es auch nicht wenige, meist jüngere östliche Glückspilze, die die Chancen der Zeit zu packen wussten. Aber so, wie die politische Vereinigung Deutschlands organisiert wurde, hat sie insgesamt die ökonomische Spaltung verstetigt. Und damit auch die mentale. Die „neuen Bundesländer“ sind nicht mehr neu, aber ihr Bruttosozialprodukt pro Kopf, Maßstab für wirtschaftliche Leistungskraft, liegt seit Jahren ziemlich konstant bei nur 76 Prozent des Westniveaus. Das heißt, der Osten ist immer noch auf Alimentierung angewiesen. Nur so ist der gewachsene Lebensstandard zu halten. Einer der Gründe, weshalb der Osten verunsichert ist und die Westeliten weiterhin mit einer gewissen Herablassung auf ihn blicken, obwohl sie selbst ihren Anteil an der Situation haben.

Verkürzt zur Erinnerung: Die überstürzte Währungsunion hatte die Wirkung einer „ökonomischen Atombombe“, wie der Guardian schrieb. Hätte man derart über Nacht in der Bundesrepublik den stärkeren Dollar eingeführt, wäre ihre Wirtschaft sofort zusammengebrochen, sagte mir damals Ex-Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl. Die genauso überstürzte Privatisierung der Filetstücke des Volkseigentums mitsamt des schuldenfreien Grund und Bodens und vieler Immobilien hat einen gigantischen Vermögensabfluss von Ost nach West ermöglicht. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ trug erheblich dazu bei. Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt. Gerade Bodenvergabe ist immer Gesellschaftspolitik. Der erste Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom Mai 1990 enthielt Versprechungen, von denen beide Vertragsparteien wussten, dass sie niemals eingehalten werden: Erhalt und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen bei hohem Beschäftigungsstand sowie möglichst ein verbrieftes Anteilsrecht der DDR-Bürger am volkseigenen Vermögen.

Doch wären die Ostler an dem von ihnen Erarbeiteten beteiligt worden, wie der dann erschossene Treuhandchef Detlef Rohwedder es wollte, wäre für die Westler weniger zum Privatisieren übriggeblieben.

Die Zahl der westdeutschen Millionäre verdoppelte sich, während sich im Osten die Geburtenrate halbierte

Daran hatten der neue Vorstand und Verwaltungsrat der Treuhand kein Interesse. Sie waren zum „Außerachtlassen einfachster und nächstliegender Überlegungen“ beim Umgang mit dem Volkseigentum ermächtigt und hatten die Zusage zu „Haftfreistellung bei leichter Fahrlässigkeit“. Alles war leicht. Das Tempo der Privatisierung sollte dem Tempo der Desillusionierung nicht hinterherhinken. 70 Prozent der DDR-Industrie verschwand, mit ihr fast vier Millionen Arbeitsplätze, 95 Prozent des einst volkseigenen Wirtschaftsvermögens ging in westliche Hände über, statt Anteilsscheinen nichts als Schulden. 1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer 100-jährigen Geschichte. Die Zahl der westdeutschen Millionäre verdoppelte sich, während sich im Osten die Geburtenrate halbierte. Fast zwei Millionen gut ausgebildete, oft junge, weibliche Arbeitskräfte siedelten nach der Vereinigung in den Westen, wovon dieser enorm profitierte. Haben wir all das schon vergessen?

Durch diese Strategie wurden die finanziellen Mittel für den „Aufbau Ost“ in den 90er-Jahren „mehr als kompensiert“, sagt heute das Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Im Osten blieb ein europaweit einmaliger Männerüberschuss zurück. Es hat 18 Jahre gedauert, bis in Ostdeutschland auch nur die angeschlagene Wirtschaftskraft vom Ende der DDR wiedererreicht wurde. Das war eine lange, von Ängsten und Demütigungen erfüllte, prägende Zeit. Kein Wunder, wenn noch für Generationen im Osten nichts zu vererben ist. Welches Gericht ist eigentlich zuständig, wenn Politiker ihre Staatsverträge nicht einhalten? Auch wenn sich Konsumversprechen und bessere Wohnbedingungen für viele erfüllt haben, bestätigt sich heute: Die Eigentumsregelung war der genetische Defekt der Vereinigung. Sie war ein Schutzgesetz für Westeigentümer. Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der „friedlichen Revolution“. Doch sie wurden allesamt ignoriert.

Die ungehörten 83 Prozent

Zwar ist die heruntergekommene östliche Infrastruktur durch enorme staatliche Subventionen auf Westniveau gebracht worden, aber all die schönen Straßen und Glasfaserkabel dienten vor allem dazu, westliche Waren reibungslos ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.

Was im Osten mehrheitlich infrage gestellt wird, ist nicht die Demokratie, sondern die viel gescholtene „Fassadendemokratie“.

Zu den Mythen gehört, dass eine langsamere und damit durchdachtere Gangart bei der Vereinigung nicht durchsetzbar gewesen wäre. So werden die ersten formal freien, aber psychologisch unter extremem Propaganda- und Erpressungsdruck stehenden Wahlen im März 1990 anhaltend fehlinterpretiert. Sie waren auch frei von Sachkenntnis. Doch der Lernprozess ging schnell – bevor das neue DDR-Parlament seine Arbeit aufnahm, stellten Meinungsforscher in einer breit angelegten, repräsentativen Umfrage Ende April klar, was nun sein Regierungsauftrag ist. Die Einheit als solche stand nicht mehr zur Disposition. Der Realsozialismus mit seiner Gängelung und Einschränkung der Bewegungs- und Meinungsfreiheit hatte vor allem moralisch abgewirtschaftet. Aber 83 Prozent der DDR-Bürger lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Gar 95 Prozent wollten, dass beide Regierungen als gleichberechtigte Partner auf das „Wie“ der Einheit Einfluss nehmen.

Es gibt keine Ewigkeitsklausel für die repräsentative Demokratie

Das ganze Volk hatte verstanden, dass der Osten eine eigene Interessenvertretung braucht. Schließlich wollten immer noch 68 Prozent das Volkseigentum erhalten und nur daneben andere Formen zulassen. Sie begannen zu begreifen, dass sie nichts zu verschenken haben, aber ihren Repräsentanten nicht zu trauen ist. Die eben erst erprobte Basisdemokratie stand daher noch hoch im Kurs, 77 Prozent hielten es für erforderlich, das Verhandlungsergebnis ihrer Abgeordneten durch eine Volksabstimmung überprüfen zu lassen. Stattdessen hatten nicht mal die Abgeordneten die Zeit, den über tausendseitigen Einigungsvertrag mit seinen versteckten, verhängnisvollen Anlagen (Regelung offener Vermögensfragen) ganz zu lesen und zu verstehen, geschweige denn ein Wort zu ändern. Sie konnten nur mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen, was ihnen bekannt vorgekommen sein muss.

Nein, der Vollzug des schnellen Beitritts war keine Sternstunde der Demokratie.

„Der Osten wird nie an das Westniveau herankommen“, schrieb der Ökonom Joachim Ragnitz unlängst in der FAZ. Das läge an der Kleinteiligkeit seiner Wirtschaft, die keine „Größenvorteile“ habe. „Da muss man sich wahrscheinlich mit abfinden, dass es die Ungleichheit für ewige Zeiten geben wird.“ Und es klingt, als habe sich zumindest der West-Professor schon schweren Herzens damit abgefunden.

„Die AfD ist die Rache des Ostens“, sagt Kultregisseur Frank Castorf. Ja, aber es ist die denkbar untauglichste und kontraproduktivste Heimzahlung. Erschreckend genug, wenn immer vorhandener nationalistischer und rassistischer Bodensatz aktiviert werden muss, um sich gemeinsam stark zu fühlen, gehört, ja gefürchtet zu werden.

„Einheit rückgängig machen“

Vergleichbare Wirkmacht konnten die Linken mit ihrem Demokratisierungsdruck aus der frühen Bundesrepublik oder der Wendezeit nicht entfalten. Dabei wird doch immer offensichtlicher: Die Idee, den eigenen Willen an Repräsentanten der alteingesessenen Parteien zu delegieren, die es dann schon richten werden, wird den gewachsenen Ansprüchen an demokratische Teilhabe nicht mehr gerecht. Es droht Unregierbarkeit, wie die jüngsten Landtagswahlen im Osten zeigen. Erst recht die Ampel mit ihrer Zerstrittenheit, die sich nur noch auf transatlantische Nibelungentreue einigen kann und dabei auf nationales und europäisches Eigeninteresse pflichtvergessen verzichtet.

Was jetzt erodiert, ist eine regelbasierte Unordnung. Darin liegt auch eine Chance.

Der einstige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat, wohl vom Frust übermannt, schon 2010 im ZDF die kapitalistische Demokratie aufs Trefflichste beschrieben: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt. Und diejenigen, die gewählt sind, haben nichts zu entscheiden.“ Das Grundgesetz enthält einige Ewigkeitsklauseln – die Demokratie gehört dazu. Aber nicht ausdrücklich und ausschließlich die repräsentative. Nur was sich ändert, bleibt sich treu. Das Potenzial des Ostens, mit seinen partizipativen Erfahrungen, sollte da von dem diesbezüglich eher selbstgenügsam beharrenden Westen als Avantgarde beachtet werden. Ist doch vieles, was sich im Osten tut, nur Seismograf des künftigen Westens.

Stattdessen erwecken 35 Jahre nach Mauerfall die renitenten Ostdeutschen jenseits der etablierten Parteien nun die Sorge, sie könnten „mit der Westbindung das Erfolgsmodell der Bundesrepublik zerstören“. So formuliert es Marcus Bensmann, Journalist bei Correctiv, der in einem Tweet auf X vorschlägt, deshalb die Wiedervereinigung rückgängig zu machen. Nicht auszuschließen, dass die Idee auf beiden Seiten Anhänger findet.

 

erschienen in: der Freitag Ausgabe 40/2024

Vertane Chancen, Siegerpose, keine Nachdenklichkeit – 75 Jahre Grundgesetz

In guter Verfassung zu sein, ist eine besondere Gunst. Das Grundgesetz ist eine ziemlich gute Verfassung. Man kann froh sein, es zu haben. Hatte ich mich angesichts der oft abweichenden Praxis zunächst als Verfassungspatriotin gesehen, hat die Einsicht in politischen Kontext später partielles Kontra bewirkt. Was ziemlich gut ist, könnte auch besser sein. Oder müsste…

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Nur ein Leben in Frieden ist lebenswert

Daniela Dahn

Dieser Parteitag ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich und zugleich ordentlich. Schon sein Datum ist nicht zufällig. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb ich die Ehre habe, hier als Erste zu sprechen: Heute vor 79 Jahren hat die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit.
Der 27. Januar ist von der UNO zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt worden. Sahra bat mich, ein paar Worte zu diesem Anlass zu sagen.

Denn von diesem Parteitag geht das unmissverständliche Engagement für Antirassismus und Antifaschismus aus. Der nachdrückliche Wunsch, alle Deutschen hätten für immer aus der Geschichte gelernt, hat sich nicht erfüllt.

Der Schoß ist fruchtbar, immer noch. Angesichts dessen, was Rechtsextremisten in Vorder- und Hinterstuben an faschistoiden Plänen aushecken, geht es um die kollektive Zuständigkeit von uns Nachgeborenen.

Der Kapitalismus mit seinen verheerenden, militärischen Geostrategien, mit seinen sozialen Verwerfungen und der daraus folgenden Ableitung von Wut auf Sündenböcke – bringt er abermals all das hervor, was schon einmal ins Verderben geführt hat?

Ich muss in diesen Tagen an Fania Fénelon denken, die Auschwitz nur überstanden hatte, weil sie zu dessen wahnwitzigem Mädchenorchester gehörte, wie Esther Béjarano und Anita Lasker-Wallfisch. Ich lernte die französische Chanson-Sängerin später in der DDR kennen, wo sie einige Jahre gelebt, unterrichtet und Konzerte gegeben hat. Eingeprägt hat sich mir die Schilderung in ihrem Buch, wie der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der geistige Vater aller KZ, zu „Besuch“ kam. Über seinen letzten davon im Jahr 1942 hatte sich herumgesprochen, dass er der Vernichtung eines eben eingetroffenen Judentransportes beigewohnt hatte, Befehle erteilte, die Selektion müsse noch weniger „Abfall“ hinterlassen. Töten sei wirtschaftlicher als Ernähren.

Und dieses Mal wolle er also ein Konzert des Mädchenorchesters besuchen. Es hieß, sie müssten sich extrem anstrengen, denn er verstünde etwas von Musik. „Horror, Hass, ohnmächtiger Aufruhr packen mich“, schrieb Fania. „Der Organisator unseres eigenen Todes wird hierherkommen. Der Henker wird kommen und sich seiner Opfer freuen.“ Er kam, hörte gelangweilt einige Minuten zu und ging. Er hatte Wichtigeres zu tun. Sein Desinteresse verbreitete Panik im Orchester. War es das Todesurteil?
Am Morgen des 27. Januar 1945 stieß die Rote Armee zunächst auf das Zwangsarbeitslager Monowitz. Hier feuerten Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht noch besinnungslos um sich, etwa 230 sowjetische Soldaten ließen allein hier ihr Leben. Im Laufe des Tages stieß ihre 322. Infanteriedivision bis zum Hauptlager vor.

Nicht die Alliierten, wie Ursula von der Leyen fälschlich behauptete. Die sowjetischen Kameramänner, die sofort zu dokumentieren begannen, schilderten: „Unseren Augen bot sich ein schreckliches Bild: Eine riesige Anzahl von Baracken – auf den Pritschen lagen Menschen, Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen.“

Alle Geknechteten und Geblendeten vom NS-Regime zu befreien, dafür haben allein 13 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben gelassen. Dafür sind wir auf ewig zu Dank verpflichtet, wie immer sich die Weltlage inzwischen verändert hat.
Warum daran erinnern? Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist von Deutschen begangen worden. Es war alles andere als ein Vogelschiss! Und ich finde es wichtig zu betonen, dass sich gerade am heutigen Datum eine Partei konstituiert, der es am Herzen liegt, das Gedächtnis dafür wachzuhalten und Folgerungen daraus zu ziehen.

Denn es geht auch darum, missbräuchliches Erinnern nicht zu dulden. Welch Schindluder hat ein Außenminister der Grünen mit der einzig richtigen Schlussfolgerung: „Nie wieder Auschwitz“ getrieben, als er damit den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien rechtfertigte!

Auschwitz, die ganze Shoa, war nur im Schatten des Weltkrieges möglich. Nichts führt so direkt zur Enthumanisierung wie Krieg. Deshalb ist es so unverzichtbar, wenigstens eine konsequente Friedenspartei im Parlament zu haben.
Zweifellos wäre es auch mir lieber gewesen, die LINKE hätte ihre Kraft zu Vereinigung, wie sie sie etwa mit PDS und WASG bewiesen hat, beibehalten. Auch in ihrer Friedenspolitik hatte sie lange nicht nur meine Sympathie. Doch spätestens als die LINKEN-Parteiführung es aus fadenscheinigen Gründen abgelehnt hat, die großartige Demonstration „Aufstand für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht zu unterstützen, war der Bruch endgültig.

Längst hatte die LINKE ihre Aufgabe als unüberhörbare Opposition zum Regierungskurs eingebüßt. Eine Entwicklung, die die Grünen lange hinter sich hatten.
Folgerichtig gibt es in der derzeitigen Parteienlandschaft eine Repräsentationslücke. Etwa die Hälfte der Bürger finden im gegenwärtigen Parlament keine Partei, mit der sie sich identifizieren können.
Wer der Zeitenwende hin zur Kriegstüchtigkeit konsequent widersprechen will, dem Irrglauben an „Sieg durch Waffen“, diesen wahnsinnigen „Werkzeugen des Todes“, wie Papst Franziskus sie nennt, der könnte sich genötigt sehen, die AfD zu wählen, obwohl er sie in allen übrigen Punkten von Herzen ablehnt.
Das ist ein unhaltbarer Zustand, denn der Frieden muss allen nicht vom Krieg profitierenden Menschen das Allerwertvollste sein. Nur ein Leben in Frieden ist lebenswert.

Waffen und der sie begleitende Wirtschaftskrieg vernichten Leben und den Rest von intakter Natur. Der ebenfalls tobende Informationskrieg soll uns Bürger um den Verstand bringen, den wir benötigen, um mündig zu bleiben. Es muss verdammt noch mal möglich sein, Waffenlieferungen und die Geringschätzung von Verhandlungen und Diplomatie abzuwählen, ohne sich damit das faschistoide und unsoziale Gedankengut der AfD einzuhandeln!

Sahra Wagenknecht hat bewiesen, dass gemeinnütziger Widerspruch noch möglich ist. Sowohl gegen die um sich greifende Kriegsbereitschaft, wie auch in ihrem Engagement für die sozial Benachteiligten. Oder in der Kritik totalitärer Tendenzen im Umgang mit der Pandemie. Sie eröffnet Denkräume, indem sie neoliberale Mythen entlarvt. Sahra reflektiert die Vor- und Nachteile verschiedener Eigentumsformen.
Denn von welchen Besitzverhältnissen wir abhängig sind, das entscheidet über Selbstbestimmung und Identität wohl mehr als alles andere.

All das verdient Unterstützung. Gemessen daran, sind die offenen oder auch umstrittenen Fragen nachrangig. Nicht zweitrangig.
Ich gehe davon aus, dass die Antworten im demokratischen inner- und außerparteilichen Dialog präzisiert werden. Etwa die Gretchenfrage: Nun sag, wie hast du’s mit der Migration?
Als Internationalistin bin ich auch gespannt, was hier für ein Europa-Wahlprogramm verabschiedet wird. Diese EU als transatlantische Filiale der USA und der Nato ist wahrlich vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Aber dabei rechne ich auch mit der anhaltenden Gültigkeit der revolutionären Forderung: Prekarier aller Länder, vereinigt euch!

Beide auf ihre Art linken Parteien werden nun wie alle anderen in Konkurrenz stehen. Ich hoffe aber, ähnlich wie Gesine Lötzsch, dass sie sich nicht als politische Hauptgegner ansehen, sondern da, wo sich Gemeinsamkeiten erhalten haben, auch kooperieren.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich bin seit über 30 Jahren parteilos. Und ich beabsichtige auch nicht, daran etwas zu ändern, weil sich meine Erfahrung bestätigt hat, dass der Platz von meinesgleichen zwischen den Stühlen ist.
Es gibt allerdings Momente, in denen man sich für einen Stuhl entscheiden sollte. Ich habe auch noch nie auf einem Parteitag gesprochen. Aber es ist ja nie zu spät, Neues auszuprobieren.
Etwa um dem Bündnis Sahra Wagenknecht meinen Respekt zu bekunden – für den Mut und die Kühnheit, der zunehmend militanten und restaurativen Parteienlandschaft die Stirn zu bieten. Möge dieses Bemühen erfolgreich sein!
Mehr als wünschenswert wäre es, wenn wir alle einen dringend nötigen, wenn auch sicher bescheidenen Beitrag dazu leisten könnten, dass unser Land, und ja, auch unser Europa, zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zur Vernunft gekommen sind.

 

Tacheles reden

Dem deutschen Kulturbetrieb ist angesichts des Terrors der Hamas am 7. Oktober in Israel ein unheimliches Schweigen vorgeworfen worden – man vermisse Menschlichkeit und Empathie. Unter dem Motto: »Gegen das Schweigen, gegen Antisemitismus«, hat am 27. November ein sicher gut gemeintes Solidaritätskonzert im Berliner Ensemble unter viel medialem Beifall demonstriert, was man tun  muss, um…

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Diese Blockade schadet der ganzen Welt

Daniela Dahn

Kuba Ein Tribunal der Völker verurteilt in Brüssel das US-Embargo gegen den Karibikstaat, das seit sechs Jahrzehnten eine Volkswirtschaft systematisch ruiniert

Unmittelbar nach dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 benannte der US-Außenpolitiker Lester Mallory unumwunden die Strategie seiner Regierung: „Jedes mögliche Mittel sollte unverzüglich ergriffen werden, um das Wirtschaftsleben Kubas zu schwächen, um die Löhne zu senken, um Hunger, Verzweiflung und den Sturz der Regierung herbeizuführen.“ Seither hält ein in Dauer und Härte geschichtlich beispielloser Wirtschaftskrieg an. Alle unter 60-Jährigen, also 80 Prozent der heutigen Kubaner, haben nie ein Leben ohne Blockade erlebt. Die angelaufenen Embargo-Schäden werden mittlerweile auf 160 Milliarden US-Dollar beziffert. Das ist nicht Statistik, sondern musste mit Einbußen an Lebensstandard von den Kubanern bezahlt werden.

Als Vorwand für die Strafmaßnahmen gilt die revolutionäre Verstaatlichung von Großgrund- und Immobilienbesitz, den sich US-Bürger wie auch immer angeeignet hatten – im Wert von etwa einer Milliarde Dollar. Gemessen an den Schäden der Blockade eine lächerliche Summe. Zumal Kuba eine über 20 Jahre abzuzahlende Entschädigung angeboten hatte, was abgelehnt wurde, während Spanien und Frankreich darauf eingegangen sind. Übrigens haben heute in Kanada lebende Nachkommen britischer Loyalisten nicht ohne Hohn in ihrem Unterhaus einen Gesetzentwurf eingebracht, der Entschädigung fordert für die Beschlagnahme von Eigentum ihrer Vorfahren während der Amerikanischen Revolution. Doppeltes Maß ist immer einfaches Unrecht.

Keine Spritzen zum Impfen

Lange Zeit wurde Kuba einigermaßen aufgefangen durch die Hilfe der Sowjetunion. Als diese nach deren Ende wegfiel, ging das Land durch ein tiefes Tal, stieg aber aus eigener Kraft wieder auf. Der Tourismus nahm an Fahrt auf, die legendäre kubanische Medizin erreichte in einigen Positionen wieder Weltspitze. So hat Kuba die höchste Ärztedichte pro Einwohner weltweit (Deutschland liegt auf Platz 19 mit fast nur der Hälfte dieser Ärztepräsenz). Zu ganz speziellen Augenoperationen reisten Patienten aus aller Welt nach Havanna. Unter Barack Obama schien sich der Konflikt ein wenig zu entspannen.

Doch Donald Trump verschärfte ihn mit 243 zusätzlichen Sanktionen, setzte Kuba wieder auf die US-Liste der Terrorismus unterstützenden Staaten. Was zu begründen nie für nötig befunden wurde, bis auf den irrwitzigen Hinweis, Kuba habe sich beteiligt an den langwierigen Friedensgesprächen zwischen Kolumbiens linken Rebellen und rechten Militärs. Wessen sich allerdings auch Norwegen, Spanien und Deutschland wiederholt schuldig gemacht haben. Selbst während der Pandemie durften weder Öl noch Beatmungsgeräte geliefert werden. Kuba entwickelte drei eigene Impfstoffe, hatte aber zeitweilig Schwierigkeiten, diese zu nutzen,

Der Onkologe Franco Cavalli aus der Schweiz erklärte dazu in Brüssel, dass bei dieser Art von Krebs bei Gabe der nötigen Medikamente normalerweise nicht amputiert werden muss, sondern eine Knochenimplantation gute Ergebnisse bringt. Aber diese Medikamente seien eben unerlässlich. Wie sie es für all die Kinder waren, die in letzter Zeit in kubanischen Krankenhäusern ihr Leben an den Krebs verloren haben. Auch in Kuba sterben Kinder einen vermeidbaren Tod. Im Namen einer falschen Freiheit.

Die Ankläger und Zeugen des Tribunals erbrachten hinreichend Beweise für die menschenrechtswidrige Praxis der Blockade. Nun hatten die Richter ein Urteil zu fällen – fünf ausgewiesene Rechtstheoretiker aus den USA, Italien, Griechenland und Portugal unter Leitung des Hamburger Völkerrechtlers Norman Paech. Als einzige Nichtjuristin in diesem Gremium hatte ich die schreibende Zunft zu vertreten. Wir zogen uns zur Beratung zurück.

Dass es für die Blockade keine Rechtsgrundlage gibt, war offensichtlich. Eine UN-Resolution vom 14. Dezember 1962 bekräftigte mit dem Grundsatz der Souveränität das Recht jedes Staates, über seine natürlichen Ressourcen selbst zu verfügen. Zumal die Sanktionen nicht auf Restitution oder Entschädigung gerichtet sind, sondern auf den Sturz der Regierung. Damit verletzen sie zahlreiche Menschenrechte, besonders die des UN-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die nicht weniger verbindlich sind als die politischen Rechte.

Die Sanktionen müssen aufgehoben werden

Selbst wenn die beteiligten Staaten und die EU diesen UN-Pakt nicht ratifiziert haben, besteht in der internationalen Rechtstheorie Konsens, dass er durch Gewohnheitsrecht für alle verbindlich ist. Verletzt werden auch grundlegende Bestimmungen des WTO-Handelsrechts, dem die USA beigetreten sind. Es verbietet die Beschränkung von Ein- und Ausfuhren und Geldtransfers. Ausnahmen wegen Sicherheitsinteressen entfallen, da Kuba die USA nicht bedroht. Die UN-Generalversammlung hat wiederholt das US-Helms-Burton-Gesetz kritisiert, das auch in die legitimen Interessen anderer Staaten eingreift. Die Europäische Union hat solche Gesetze 1996 sogar für nichtig erklärt und einen Anspruch auf Verlustausgleich verfügt, sich dann aber der Übermacht gebeugt.

Die Blockade sei eine der heimtückischsten Formen der Kriegsführung, heißt es im vor dem Tribunal verlesenen Urteil, sie erfülle den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Sie habe direkt oder indirekt zum Verlust zahlreicher Menschenleben geführt und sei darauf ausgelegt, langfristig die physische Zerstörung eines Teils des kubanischen Volkes in Kauf zu nehmen. „Eine solche Haltung könnte den Tatbestand des Völkermordes erfüllen.“ Über diese vorsichtige Formulierung haben wir Richter am längsten diskutiert. Sachlichkeit und Gesetzestreue waren oberstes Gebot.

Das Strafmaß lautete: Die rechtswidrigen Sanktionen und die ihnen zugrunde liegenden Gesetze müssen aufgehoben werden. Die USA müssen für den Schaden aufkommen, der dem kubanischen Staat, seinen Unternehmen und Bürgern entstanden ist. Der Beifall im Auditorium bezeugte, dass es mehr als Symbolik sein wird. Die Kubaner sind ermutigt worden, und die USA stehen erneut isoliert vor der Öffentlichkeit da. Eines Tages werden sie sich das nicht mehr leisten können.

erschienen in der Freitag | Nr. 48 |30. November 2023

UN-Vollversammlung: Lula da Silvas und Joe Bidens Reden zeigen die Gräben dieser Welt

Daniela Dahn

„Wir haben die Freude, die Bahamas, die BRD und die DDR willkommen zu heißen“, so Kurt Waldheim, damals UN-Generalsekretär, vor 50 Jahren. Als letzte Feindstaaten des Zweiten Weltkrieges wurden beide Teile Deutschlands in die UN aufgenommen. Zweck von deren Gründung war, die Gräuel eines solchen Krieges künftig zu vermeiden, oberstes Gebot ihrer Charta ist das Gewaltverbot.
Doch bald zeigte sich die Weltgemeinschaft nicht als vereinte Nationen, sondern als neue Systemkonkurrenz verfeindeter Blöcke. Außerhalb Europas bleibt der Kalte Krieg nicht kalt – weder in Korea, Kambodscha und Vietnam noch in Guatemala oder Nicaragua. Erst der Grundlagenvertrag 1972 gab den Alleinvertretungsanspruch der BRD auf. Der Verhandler Egon Bahr: „Bislang hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden es schlechte sein.“ Das war immerhin ein bipolarer Ansatz, keine „wertegeleitete Außenpolitik“.
Heute soll sich die SPD für die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion verantworten. Doch Glasnost und Perestroika ermöglichten auch der UNO, friedenspolitisch aktiver zu werden. Kanzler Helmut Kohl versprach, das vereinte Germany werde der größeren Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens gerecht werden. Die Chance, die internationalen Beziehungen endlich chartagerecht zu gestalten, wurde aber vertan.
Eine zunehmend unipolare Ordnung formte die Welt durch neoliberale Schocks und militärische Einsätze nach ihrem Bilde. Unter Rot-Grün beteiligte sich die BRD am ersten NATO-Krieg: der Angriff auf Russlands Verbündeten Serbien leitete den Niedergang der internationalen Rechtsordnung ein und damit den Machtverfall der UNO zugunsten der NATO.

Transatlantisch konform wird im Arbeitspapier 5/2015 der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Multipolarität als instabil und vorübergehend abgelehnt: „Für die Sicherheitspolitik ist ein ganz anderer Faktor entscheidend: Hegemonie.“ Die beflissene Subordination unter einen Oberbestimmer gilt neuerdings als feministische Politik.

Ja, Autokraten wie Wladimir Putin missachten mit ihrem despotischen Krieg in der Ukraine mühsam errungene internationale Regeln. Aber zuvor haben Demokraten diese Regeln außer Kraft gesetzt. Die unipolare Welt war auch eine recht autokratische Angelegenheit. Hier liegt der explosivste Konfliktstoff in diesem Stellvertreterkrieg.
Deshalb wäre deutsche Verantwortung, sich endlich für Deeskalation durch konstruktive Verhandlungsvorschläge zu engagieren. Die Forderung, Russland möge sich mitten im Krieg bedingungslos aus besetzten Gebieten zurückziehen, um damit Kiew den vom Westen versprochenen Weg zum NATO-Beitritt frei zu machen, ist als Friedensangebot nicht ernst zu nehmen.

„Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass wir alle unfähig sind, die Ziele und Grundsätze der UN-Charta durchzusetzen“, sagte Brasiliens Präsident Lula da Silva bei der UN-Vollversammlung. Eine Kultur des Friedens sei unser aller Pflicht.

Die sich um die BRICS-Gruppe versammelnden Staaten versagen zunehmend die Gefolgschaft. Was US-Präsident Joe Biden in New York zu einer Erfolgsrede trieb, in der er Gemeinsamkeit beschwor. Während die UNO ihre Ziele zur Bekämpfung von Armut und Erderwärmung verfehlt, propagiert er „einen Platz an der Sonne für alle“. Nicht anhören wollte er die Eröffnungsrede des UN-Generalsekretärs António Guterres – in der dieser vor der Spaltung der Welt in West und Ost und Arm und Reich warnte. Der neue Multilateralismus ist für die einen Fluch, für die auf der anderen Seite des Grabens Hoffnung.

erschienen in der Freitag – Ausgabe 38/2023