Ost-West

E-Mail-Affäre um Springer-Chef: Der Ekel vor Demokraten

Daniela Dahn

Es würde nicht lohnen, auf dieses unterirdische SMS-Geschwätz zu reagieren, wenn die Debatte nicht von großer Scheinheiligkeit wäre. Die ganze Empörung erwächst aus dem Umstand, dass es hier um einen der einflussreichsten Medien-Bosse des Landes geht, Chef und Eigentümer nicht nur des Springer-Konzerns, sondern auch langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Der nun vom Blatt der konkurrierenden Holtzbrinck-Konzerne durch selektive Veröffentlichung mehr oder weniger privater Kommunikation an den Pranger gestellt wird. Nicht, dass man diesem Anprangerer vom Dienst die Pein nicht gönnt. Aber wirklich überraschen können die Enthüllungen über die Denkweise der Führung in diesem Tendenzmedium nicht. Letztlich bestimmen genau diese Inhalte seit Jahrzehnten ohne größeren Widerspruch nicht nur die internen Botschaften im Hause Springer, sondern oft auch die veröffentlichten. Und nicht nur dort. Scheinheilig ist die Debatte, weil sowohl die Aufregung über die Vorwürfe, als auch die Entschuldigung, unglaubwürdig sind. Um von den Verleumdungen hier nur die herauszugreifen, mit der ich mich am besten auskenne: Dass die Ostdeutschen allesamt geistig deformiert und deshalb demokratieuntauglich sind, war jahrelang prominent gesetzte Indoktrination.

Der Spiegel veröffentlichte schon im Februar 1990 eine achtseitige Schmähschrift über das DDR-Bildungssystem „Erziehung zu Drill und Duckmäusertum“. Wurde im Herbst noch die couragierte politische Reife der ihre Bürgerrechte erkämpfenden Ostdeutschen allseits gelobt, musste man jetzt den Eindruck gewinnen, dass Revolutionen mit Vorliebe dort ausbrechen, wo die Konzentration von Duckmäusern besonders hoch ist. Sie alle hätten eine „Gehirnwäsche“ durchlaufen, einen „permanenten Akt geistiger Vergewaltigung“. Zitiert wurde in dem unsignierten Artikel immer wieder der angebliche Pädagogik-Experte Johannes Niermann, der später auch in einer öffentlichen Anhörung des Bundestages seinen Auftritt hatte. In dem Gutachten beschuldigte er „die gesamte Intellegentia“ (gehören Rechtschreibschwäche und Denunziation zusammen?), das „Lügengebäude“ aufgebaut zu haben und attestiert, dass dies zu einer „ganz primitiven Konditionierung, wie bei Tierdressuren“ geführt habe. Er bedauert, dass die Peiniger nicht hinter Schloss und Riegel gesetzt wurden, stattdessen „laufen diese weiter frei herum“. Mit einer dringenden Empfehlung, entwickelte er missionarischen Eifer: Abiturabschlüsse seien in den neuen Bundesländern auf 10 bis 30 Prozent zu reduzieren, dafür an den Mittel- und Realschulen Schwerpunkte wie Hauswirtschaft als Pflichtfach für Mädchen, sowie Werken und Handarbeit einzuführen. Die Berliner Zeitung veröffentlichte eine Karikatur mit dem Kanzler in Ritterrüstung vor dem Schild „Bundesdeutsche Kohlonie!“ Der Plan, Ostdeutschland zu einem minderbemittelten Agrarland ohne eigene Kapitalisten zu machen, ist weder neu noch ganz misslungen.

Auch der Historiker Arnulf Baring, beliebter Talkshow-Gast, hatte in seinem Buch „Deutschland, was nun?“ spürbares Vergnügen an der Herabwürdigung von DDR-Akademikern. Sie seien durch das Regime fast ein halbes Jahrhundert „verzwergt“ und „verhunzt“ worden. Ob sich einer dort Arzt, Ingenieur oder Pädagoge nenne, „das ist völlig egal. Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar.“ Die Westdeutschen könnten diesen „politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben“, es würde nichts nutzen, denn die Ostdeutschen „haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten“. Der aus allen Zusammenhängen gerissene und immer wieder bemühte Adorno-Satz, es gäbe kein wahres Leben im falschen, stempelte rückwirkend handstreichartig sämtliche DDR-Leben als wertlos. Im Kontext von Eignung für Führungspositionen war die Interpretation: unwert. Das Narrativ von gut-böse und richtig-falsch blockierte einen beidseitigen Austausch. Dabei sind die Unterschiede nur gradueller Natur, letztlich gibt es wohl nichts anderes als wahres Leben im falschen. Der Molekularbiologe und DDR-Oppositionelle Jens Reich beklagte, dass in der vielbeachteten Gesellschaftsgeschichte des Historikers Hans-Ulrich Wehler Millionen Ostdeutsche „nicht als Akteure dargestellt auftreten, sondern als eine Art Schafherde“.

Alle falschen Weichenstellungen müssten laut dieser Sicht nach westlichem Modell in einem mühseligen Prozess korrigiert werden. „Das ist die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990“, so Wehler. Ist die Bürde nicht vielmehr, dass das völlige Missachten östlicher Erfahrungen eine bis heute mühselige Korrektur erfahren muss? Dass die plumpen Diffamierungen jetzt nur noch in privaten Tweets gewagt werden, ist zwar ein Fortschritt, zeigt aber zugleich, wie quicklebendig sie noch sind.

Der Dichter Wolfgang Hilbig beschrieb die Demütigungen als „Unzucht mit Abhängigen“. Lange Zeit hatte man das hinzunehmen. Und auch der öffentliche Widerspruch von Westprominenz blieb übersichtlich. Gaus, Grass, Bahr – sie wurden dafür gescholten. Wer gar im Osten wagte, die Versimpler anzugreifen, wie ich in meinen Büchern, wurde des „Osttrotzes“ bezichtigt.

Gegen den Axel-Springer Konzern habe ich ein halbes Dutzend Verleumdungsklagen geführt, weil ich in Texten des moralisierenden Hauses mit abenteuerlichen Spekulationen mal in Stasi-, mal in Nazi-Nähe gerückt wurde. Das Schmerzensgeld, zu dem der Konzern verurteilt wurde, hat er gern aus der Porto-Kasse bezahlt und weiter gemacht. Die Lust am versuchten Disziplinieren blieb eine dauerhafte Erfahrung struktureller Gewalt. Es gab lange keine denunziationsfreien Räume für die Ostdeutschen. Und nie hat sich dafür jemand entschuldigen müssen oder wurde gar zum Rücktritt aufgefordert, wie jetzt Döpfner. Aber warum war und ist gerade die Demokratiefähigkeit der DDR-Sozialisierten so ein Reizthema? Solange sie 1989 ihre Regierung zum Rücktritt zwangen, wurden sie für ihre Gewaltlosigkeit und ihren Humor selbst von der Springer-Presse gelobt. Sobald aber ihre Vorstellungen von Demokratisierung Gefahr liefen, auch den Status quo der Bundesrepublik in Frage zu stellen, hörte der Spaß auf. Klaus Hartung lobte in der taz den Runden Tisch und das Kabinett Modrow für das klare Programm der Demokratisierung. „Insofern geht die Macht wirklich vom Volke aus und bleibt vor allem bei ihm – in einem Maße, wie es im ehemals freien Westen nie denkbar war und ist. In der Demokratie DDR ist jetzt schon die Straflosigkeit des gewaltlosen Widerstands garantiert, ein Prozess, der unsere Sicherheitsgesetze noch peinlicher machen wird. Die repräsentative Demokratie, die im Grunde eine Großparteienherrschaft ist, wehrt nach wie vor alle Ansätze direkter Demokratie und Kontrolle von unten ab. In der DDR hingegen wird inzwischen selbst der innerste Repressionsbereich einer demokratischen Kontrolle von unten unterworfen.“ Zu der Zeit war ich Mitglied der ersten unabhängigen Untersuchungskommission; wir hatten das Mandat, die Verantwortlichen für die Übergriffe von Polizei und Staatssicherheit auf Demonstranten zu befragen. Auch wenn diese unwillig waren und blockierten, sie hatten uns Rede und Antwort zu stehen. Wir erreichten den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten.

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise“, hieß es in einer Erklärung von wichtigen Stimmen wie Inge Aicher-Scholl, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich oder Heinrich Albertz. Es würden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt, um die Bemühungen für eine sozialistische Demokratie zu verschütten. Dann würden auch die „sozialen Bewegungen in unserem Lande einen schweren Rückschlag erleiden“. Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu: „Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“ Hatten wir die SPD mitgerissen, die mitten in der Wendezeit, auf ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1989 ein neues Programm beschloss? „Es ist eine historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.“ Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Das dürfte für Mathias Döpfner und seine FDP-Freunde schon hinreichend ekliger Kommunismus-Verdacht sein. Seis drum. „Die ossis werden nie Demokraten“ – an seiner Prognose ist was dran, wenn man bedenkt, dass viele eine andere Vorstellung von Demokratie hatten – nicht nur eine Worthülse à la Bildzeitung, sonders das ganz große Versprechen, dass mit einem „Demokratischen Aufbruch“ verbunden sein sollte.

Das war die Endstation Sehnsucht: Wohlstand durch eine Demokratie, die auch die Wirtschaft erfasst, die viele Facetten haben sollte, räte- oder basisdemokratische, jedenfalls nicht eine auf Privateigentum fixierte, kapitalistische Demokratie sein würde. Und diese Sehnsucht war ansteckend. An der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und die SPD schlägt einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Sechs Wochen vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 sagen ihr Umfragen dort immer noch eine absolute Mehrheit voraus. Ihre Genossin Anke Martini findet, dass die Ostdeutschen den nötigen Antworten schon nähergekommen sind „als wir Westler, die wir unser System so wenig in Frage zu stellen gewohnt sind“. Bündnis 90 greift das größte Tabu auf, fordert eine Volksabstimmung über den Erhalt des Volkseigentums.

Damals wurde begonnen, Systemfragen zu stellen – das Grundgesetz lässt dafür viel Spielraum. Aber Konservative sehen schnell ein Gespenst der Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung umgehen. Jetzt konnte die CDU das Ruder nur noch herumreißen, wenn sie auf die ganz große Pauke haut. DDR-Medien, die sich zum allgemeinen Erstaunen schnell von Zensur emanzipiert hatten und deren Sender im Osten eine höhere Sehbeteiligung erreichten als die westlichen, waren frei erfundenen Räuberpistolen des Boulevards noch nicht gewachsen. Sie erlebten erstmalig, wie ein von privaten Medien genährter Manipulationsapparat eine Mehrheitsmeinung in kürzester Zeit ins Gegenteil verkehrt, wie ich in dem Buch Tamtam und Tabu detailgetreu nachgewiesen habe. Die eine Strategie war, den Volkszorn zu schüren, indem DDR-Politikern von Bild, aber auch vom Spiegel und anderen angedichtet wurde, sie hätten sich auf Staatskosten Luxusgüter angehäuft, von Brillanten bis zu Jaguars – das waren reine Fakes. Der Spiegel frohlockte, dass diese Berichte in der DDR Furore machten, tausendfach fotokopiert in Betrieben ausgehängt, zur „Volkslektüre“ wurden.

Noch wirksamer aber war die zweite Strategie, die Panik auslöste durch die plötzliche Behauptung von Kohls engstem Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, wonach der Kollaps der DDR-Wirtschaft unmittelbar bevorstünde, was völlige Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen bedeute. Damit dieser Unsinn geglaubt wird, behauptete Bild, der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar Maizière habe das bestätigt. Dessen Dementi, wonach ihm dergleichen nicht bekannt sei, erwähnen die Westmedien nicht. Stattdessen legt der Spiegel auch Ministerpräsidenten Hans Modrow frei erfundene wörtliche Zitate in den Mund: „Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres.“ Erst daraufhin habe Kohl beschlossen, die Währungsunion sofort vorzubereiten, „koste es, was es wolle“. Bild bringt es auf das populistische Fazit: Die Wirtschaft der DDR hängt am Tropf, sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das vom Westkanzler für die Ostwahlen gegründete Bündnis Allianz für Deutschland geht an die Arbeit.

Geschockt und verängstigt nehmen die Wähler das Versprechen der D-Mark als Messias an. Dass sie einem neuen „Lügengebäude“ erlegen waren und nunmehr jede Reformidee aufgekauft werden konnte, merkten sie erst nach und nach. Und die meisten Westdeutschen glauben bis heute die verbreitete Lesart, wonach ihre einst Brüder und Schwestern Genannten nichts anderes wollten, als nur so schnell wie möglich so wie im Westen leben. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Auch wenn Volksentscheide gerade noch verhindert werden konnten, belegte die erste repräsentative Umfrage nach der Wahl etwas anderes: So gut wie alle waren für die Einheit, aber 83 Prozent lehnten immer noch einen schnellen und bedingungslosen Beitritt ab. Sie wollten als gleichberechtigte Partner auf das Wie der Einheit Einfluss nehmen. Nicht nur Ampel- und Sandmännchen sollte aus der DDR erhalten bleiben, sondern 68 Prozent sprachen sich für die Kernsubstanz aus – das Volkseigentum. Die Privatisierung im Osten wurde zum öffentlichen Milliardengrab, das bis heute den Haushalt belastet, während sich der private Reichtum oft steuerfrei verdoppelte – ein Billionengrab. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.“ Wo kein Haben ist, da ist auch kein Sagen.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Doch die Parlamente haben ihre Macht weitgehend an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er schaut in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals? Christian Führer, legendärer Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, wollte die von ihm begründeten Montagsdemonstrationen wiederbeleben: Eigentlich steht der zweite Teil der Revolution noch aus. Die Marktwirtschaft ist im Grunde gewalttätig. Die Diktatur der Weltanschauung wurde durch die Diktatur des Kapitals abgelöst.

Heute haben sich die Ostdeutschen solch subversive Töne abgewöhnt, auch durch ein weitgehend erfülltes Konsum-Versprechen. Die einstige linke Oppositionspartei zerlegt nicht mehr die Machtverhältnisse, sondern lieber sich selbst. Und überlässt den Protest den Rechten.

Presseerzeugnisse wie die von Mathias Döpfner haben zu Verflachung und Entpolitisierung beigetragen. Bei einer vom Mainstream geformten Mehrheit wäre Basisdemokratie weitgehend ihres Sinnes beraubt. Da fällt es nicht schwer, sich bei den zahm gewordenen Ostlern zu entschuldigen und vorzugeben, ihre Lebensleistungen nunmehr würdigen zu wollen. Aber welche denn? Ihre Verdienste, Alternativen ausprobiert zu haben? Nach dieser Bilanz fragt heute niemand mehr. Aber sie ist nicht nur zwischen Ost und West weiterhin offen.

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Berliner Zeitung:

https://www.berliner-zeitung.de/open-source/mathias-doepfner-bashing-wir-ostdeutsche-sind-noch-viel-schlimmeres-gewohnt-li.339814

https://telepolis.de/-8973652

 

Die Einheit – eine Abrechnung

  In sieben Büchern hat Daniela Dahn sich mit der Einheit und den Folgen befasst, ein achtes war nicht geplant. Nun hat sie es dennoch geschrieben, denn die Zeiten sind danach: Nach dreißig Jahren Vereinigung ist die innere Spaltung zwischen Ost und West so tief wie eh und je; und es haben sich sogar neue…

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Anschluss statt Vereinigung

Zum Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes hätte es Alternativen gegeben erschienen in: neues deutschland 23. Mai 2019 »Artikel 23 – Kein Anschluss unter dieser Nummer! – unter diesem Motto demonstrierten Anfang 1990 nicht nur Anhänger der SED-Nachfolgerin PDS, sondern auch Bürgerrechtler gegen einen bloßen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Sie…

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Bananenrepublik – Ost-West Debatten über Unterschiede und Gemeinsamkeiten wollen nicht enden

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag | Nr. 51/52 | 21. Dezember 2017

Wie ist ein typischer Ossi und wie ein typischer Wessi? Ist Herkunft „vererbbar“? Und wie wichtig ist das alles noch für junge Menschen, die gesamtdeutsch aufgewachsen sind? Ein Streitgespräch über Werte und Lebensleistungen, Demokratie, Religion und Identitäten zwischen der „Ostfrau“ Daniela Dahn und dem „Westmann“ Micha Brumlik.

Wann haben Sie das letzte Mal Jägerschnitzel gegessen?

Daniela Dahn: Das habe ich schon zu DDR-Zeiten  gemieden.

Micha Brumlik: Vor sieben, acht Jahren etwa.

Und was haben Sie da gegessen?

B: Rindfleisch mit einer Pilzsoße.

D: Panierte Jagdwurst mit einer geschmacklosen Tomatensoße und Makkaroni.

Hinter dieser ironischen Frage steckt eine ernsthafte: In welcher Situation haben Sie persönlich zuletzt gemerkt, dass Sie aus dem Westen beziehungsweise aus dem Osten kommen? Das Jägerschnitzel heißt zwar gleich, ist aber etwas völlig anderes.

D: Ich war in der vergangenen Woche im Museum Barberini in Potsdam. Dort wird gerade  DDR-Kunst präsentiert, endlich mal anspruchsvoll. Trotzdem hatte ich das Gefühl, die Werke werden  wohlwollend begutachtet wie die Kunst von fernen Exoten, die Deutung kam aus der wissenden, westlichen Sicht. .  Und so habe ich mich etwas fremd gefühlt, obwohl es eine gutgemeinte und wichtige Geste ist.

B: Das letzte Mal habe ich nach der Bundestagswahl darüber nachgedacht. Ich habe mich angesichts der vergleichsweise hohen Wahlerfolgen der AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt gefragt, ob diese mit 40 Jahren SED-Diktatur zu tun haben könnten? Mit einem gewissen Mangel an Weltläufigkeit und demokratischem Freiheitsgedanken. Mir ist durchaus bewusst, dass die AfD ebenso in wohlhabenden, westdeutschen Regionen, etwa im Süden Baden-Württembergs starke Ergebnisse erzielt hat. Ich habe mich das trotzdem gefragt.

Ist die Bundesrepublik nach fast 30 Jahren deutscher Einheit immer noch geteilt?

D: Vieles ist zusammengewachsen und normaler geworden: Die Städte im Osten sind saniert, viele Menschen sind wohlhabender geworden, die  Leute reisen selbstverständlich in der Welt herum, besuchen ihre dort studierenden Kinder. Trotzdem: Ich finde es interessant, dass Sie bei der Frage des starken AfD-Wahlergebnis die Ursachen zunächst allein in der DDR suchen und nicht auch  in den vergangenen 25 Jahren. Da findet man nämlich einige Erklärungsmuster.

Welche?

D: Das Wahlergebnis offenbart die Fehler dieser Vereinigung. Ich kann nicht für alle Ostdeutschen sprechen, die sind nämlich, wie alle Menschen, höchst verschieden. Belegt ist, dass sich eine Mehrheit mit ihren spezifischen Erfahrungen und Kenntnissen nicht anerkannt fühlt.

Sie spielen auf die Studie der Uni Leipzig und des Mitteldeutschen Rundfunks „Wer beherrscht den Osten?“ an.

D: Und auf den Sachsenmonitor. Über 70 Prozent sagen da, es sei schwierig, eigene Rechte beim Staat durchzusetzen. Weil die eigenen Netzwerke in Führungspositionen und dort, wo es um Deutungshoheit geht,  nicht ausreichend vertreten sind. Meines Erachtens spiegelt sich darin kein sozialer Frust, sondern ein kultureller und  mentaler. Der hat sich bei der vergangenen Bundestagswahl entladen. Früher konnte man Protest zeigen, indem man die PDS wählte. Wenn man heute die Linkspartei wählt, ärgert man niemanden mehr, die Partei ist weitestgehend etabliert. Aber sein Kreuz bei der AfD zu machen, das ärgert.

B: Wie soll Lebensleistung denn anerkannt werden?

D: Ein Beispiel, das ich in meinem Buch „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten“ 1994  beschrieben habe: Nach der Wende wurden aus dem Westen 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Wohn-Immobilien im Osten gestellt. Wenn man das mal hochrechnet, waren über acht Millionen Ostdeutsche von der Sorge betroffen, Häuser, Wohnungen oder Grundstücke  räumen zu müssen. Obwohl sie  nach DDR-Recht die Besitzer waren. Anträge von Ostlern im Westen waren nicht möglich, obwohl es auch solche Fälle gab. Damals hat der Gesetzgeber für einseitige Umverteilung gesorgt. Und eins ist klar: Wo kein Haben ist, da kein Sagen.

B: Ich verstehe immer noch nicht, wie Lebensleistung anerkannt werden sollte?

D:  Manchmal hätte es genügt, nicht schikaniert zu werden.  Es gab einen Uni-Rektor, der nach seinem Rauswurf Hausverbot bekam und die Uni-Bibliothek  nicht mehr betreten durfte. Oder wie der einstige Wehrmachtsoffizier Rudolf Mühlfenzl …

… den früheren Rundfunkbeauftragten für die neuen Bundesländer, der das DDR-Fernsehen und die DDR-Hörfunksender abwickelte …

D: … Journalisten rausgeworfen hat, das war unvorstellbar. Es hat ein Telefon in einem leeren Raum gegeben, die Journalisten gingen da einzeln rein, nahmen den Hörer ab und Mühlfenzl sagte  – angeblich wie Gottvater – einen Satz: Sie werden übernommen oder Sie werden nicht übernommen. Dann musste man auflegen und der nächste kam. Da war demütigend.

B: Dabei ist doch sicher auch wichtig, ob jemand hoher Parteikader war oder nicht?

D: Ja, denn die waren schon entlassen. Alle anderen mussten sich der Prozedur stellen.

Ich hätte mir etwas mehr Neugier auf Erprobtes   gewünscht Die DDR war ja bekanntlich nicht sehr wohlhabend, trotzdem wurde viel Geld in den Containerverkehr auf der Schiene investiert, öffentliche Verkehrsmittel waren stark subventioniert. Es gab ein weltweit einzigartiges Krebsregister, das nun mühsam wieder eingeführt wird. Jetzt fordert die SPD eine Bürgerversicherung, die hatten wir längst. Der Westen konnte nicht aufhören zu siegen und hat einfach alles verschrottet, was da war.

Was hat das mit dem persönlichen Leben der Menschen zu tun?

D: Es war die Lebensleistung vieler Leute, die da verschrottet wurde. Auch aus den gravierenden Fehlern der DDR hat man nicht genug gelernt. Etwa aus der abwegigen Vorstellung, Geheimdienste müssten von ihren Bürgern sicherheitshalber sämtliche Daten haben. Auch ist man im Osten noch allergisch gegen staatsnahe Medien.

Was macht die Identität der Ostdeutschen aus?

D: Ich habe ein Problem mit dem Wort Identität, ich spreche lieber von Mentalität. Kaum ein Ostdeutscher war mit der DDR identisch. Überall wurde gemeckert, mal mehr, mal weniger öffentlich.

Merken Sie, dass Sie auf verschiedenen Seiten geboren worden sind? Spüren Sie, dass das Teil Ihrer Identität oder Mentalität ist?

B: Ich bin froh, dass es mir erspart geblieben ist, dass meine Eltern in die DDR gegangen sind. Und ja, ich habe eine westliche Identität. Ich bin ein selbstbewusster Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

D: Ich  wollte immer schon in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus. Insofern bin ich mit sehr gemischten Gefühlen in die Einheit gegangen, und die sind bis heute nicht weniger geworden. Es ist mir nicht wichtig, eine bestimmte Mentalität zu haben. Ich würde viel lieber die Erfahrung machen, dass wir uns alle dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Trotzdem merke ich, dass manche Prägungen dauerhaft sind.

Zum Beispiel?

D: Nirgends auf der Welt gibt es anteilmäßig so viele Atheisten wie in Ostdeutschland.

B: Furchtbar.

D: Nein, ganz wunderbar.

B: Das ist ein Verlust an kulturellem Wissen.

D: Genau das Klischee habe ich erwartet: Immer diese Atheisten, die keine Kultur und keine Werte haben. Selbst im Realsozialismus wurde versucht, eine Kultur zu schaffen: Internationale Solidarität, Glaube an Menschlichkeit, Vernunft, soziale Gleichheit. Man muss nicht in jedem Fall auf christliche oder jüdische Werte zurückgreifen. Es gab auch in der Arbeiterbewegung Werte, die völlig in Ordnung sind.

B: Wer wollte denn das bestreiten?

D: Dann sprechen Sie doch der anderen Seite nicht Kulturlosigkeit zu.

B: Ich rede von einem Verlust an kulturellem Wissen. Man kann beispielsweise mittelalterliche Kunst und Kultur nicht verstehen, wenn man keine Ahnung von der Glaubensgeschichte hat.

D: Natürlich gehört das Wissen über biblische Geschichte und Religionen zur Allgemeinbildung. Wie gut, dass das heute im Ethik-Unterricht gelehrt wird. Ich bin glücklicherweise diesbezüglich nicht ganz unwissend aufgewachsen. Es gibt aber auch die Theorie, dass ein gewisses Nichtbetroffensein von sektenhaften Feindseligkeiten Vorteile mit sich bringt. Der erbitterte Streit darüber, wer nun der richtige Messias war oder ob mit ihm noch zu rechnen ist, lässt Atheisten ziemlich kalt. Einige Wissenschaftler sehen darin einen der Gründe, weshalb der Antisemitismus in der DDR und auch heute in Ostdeutschland deutlich geringer war und ist als in Westdeutschland.

B: Ich halte es für keinen Zufall, dass die stärksten Kritiker der SED-Diktatur aus den Kirchen in der DDR kamen.

D: Ja, aus der Kirche und aus der SED selbst. Von da kam Insiderwissen über die Strukturen, denken Sie an Bahro, Hawemann, Löst. Viele Kritiker waren geschasste Genossen.  Als junge Autorin habe ich viel in Kirchen gelesen, es gab da keine  Berührungsängste. Ich habe den moralischen Rigorismus, der von den  Kirchenleuten kam, weitgehend übernommen. Die zehn Gebote habe  ich akzeptiert. Und doch gab es immer den Versuch, den religiösen Regeln atheistische, säkulare Gebote entgegen zu setzen. Das muss kein Widerspruch sein.

Herr Brumlik, hat die in Ihren Augen religiöse Kulturlosigkeit der Ostdeutschen ein Demokratiedefizit zur Folge?

B: Die Ostdeutschen hatten noch viel weniger Gelegenheit, westlich parlamentarische Demokratie zu erleben als die Westdeutschen. Betrachten wir nur mal die vergangenen hundert Jahre: Da gibt es so etwas wie Demokratie  im Jahr 1919, das hält bis 1933. Es folgen 12 Jahre Nazidiktatur, und im Osten schließlich 40 Jahre SED-Diktatur. Dann kann man fragen: Wo soll Demokratieverständnis denn herkommen?

Im Westen sind ehemalige Nazis Richter und Hochschullehrer geworden.

B: Gewiss, wir hatten immer wieder solche Fälle, auch in großen Parteien, vor allem bei CDU und CSU gab es nicht wenige frühere Nationalsozialisten. Aber es gab immer so etwas wie eine Öffentlichkeit, die das angeprangert und dagegen gekämpft hat.

Sind die Ostdeutschen zu doof für Demokratie, Frau Dahn?

D:  Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich Ja sage?  In der Wendezeit haben wir erlebt, wie sich viele Menschen für mehr Demokratie engagiert haben. Sie wollten sich stärker einbringen, das Geschehen direkt beeinflussen. Es gab die allseits bekannten Montagsdemos, überall Runde Tische, von unten wurde nach oben weitergegeben, was man sich wünschte. Und das alles ohne Gewalt. Da waren hunderttausende Leute in einer politisch reifen Weise aktiv. Darüber staunten wir selber.  Bald kam es aber zur  Desillusionierung: Die Hoffnung, sich weiterhin einzubringen zu können, schwand. Die Gewalt ging nicht mehr vom Volke aus. Das führte letztlich zu einem Nationalismus der Deklassierten, das zeigen die Wahlerfolge der AfD.

B: Da kann ich nur sagen: Diese Leute haben das Wesen der parlamentarischen Demokratie nicht verstanden. Etwas Besseres haben wir nicht. Um mit Brecht zu sprechen: Das sind die „Mühen der Ebene“. Jeder Mann und jede Frau kann in politische Parteien eintreten, in Ortsräte gehen, in Kommunalparlamente.

D: In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung habe ich mich als Verfassungspatriotin bezeichnet. Damals fand ich, dass unser Problem eher zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit lag. Bis ich irgendwann merkte, dass das Hauptversprechen des Grundgesetzes schlicht nicht erfüllt wird.

B: Nämlich?

D: Alle Gewalt geht vom Volke aus.

B: Im Rahmen der repräsentativen Demokratie – mehr heißt das nicht. Mehr soll das auch gar nicht bedeuten.

D: Dann antworte ich ebenfalls mit Brecht: Es wird immer nur so viel Vernunft produziert, wie zur Aufrechterhaltung  bestehender Zustände  nötig ist. Das hat etwas sehr Affirmatives. Das Parlament macht nicht das, was die Wähler ihm aufgetragen haben. Zum Beispiel sind 80 Prozent der Menschen gegen Kriegseinsätze. Das Parlament beschließt sie trotzdem. Ebenso das Umwandeln von Wohnungen und öffentlichen Gütern in Privateigentum.

B: Den Kapitalismus werden wir nicht abschaffen.

D: Wir sind weit gekommen, ja, wir sind ein reiches Land. Aber wir sind auch weit darin gekommen, die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer werden zu lassen. Vor allem international. Und wenn Sie sagen, dass die Frust- und Wutbürger die Demokratie nicht verstanden haben, dann ist das arrogant. Vielleicht haben sie sie nur zu gut verstanden.

B: Sämtliche Alternativen zum Kapitalismus haben sich als schlimmer erwiesen.

D: Das muss ja nicht so bleiben. Warum haben denn die sogenannten Volksparteien so viel Vertrauen verloren? Entweder gelingt es, die Leute wieder einzubinden und sozialen Ausgleich zu schaffen, oder wir erleben einen weiteren Rechtsruck. Ich glaube, dass es im Osten stärkere, durch die Erfahrungen der Wende bedingte Verlustängste gibt. Und das Gefühl: Wir sind immer noch Bürger zweiter Klasse.

B: Das ist doch ein Generationenphänomen. Stimmen Sie mir zu, dass eine Generation gebildeter junger Menschen aus Ostdeutschland diese Aberkennung nicht mehr so stark wahrnimmt?

D: Für sich selber sicher, aber nicht für die Geschichtsschreibung. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass 70 Prozent der ostdeutschen Schüler sagen, die DDR war kein Unrechtsstaat. Im Westen sagen das nur 20 Prozent der Gleichaltrigen.

Ist Identität – oder Mentalität – sozial vererbbar?

D: Prägungen aus dem Elternhaus werden übergeben. Das eher osteuropäische  Feiern, das Datschenwesen, ein gewisser Zusammenhalt in den Betrieben. Gleichzeitig beobachte ich eine Angleichung unter jungen Leuten: Sie hören dieselbe Musik, leben in WG´s, reisen gemeinsam, da macht es keinen Unterschied mehr, woher jemand kommt.

B: Das gab es alles bei uns auch. Ich sehe da keine Differenz.

Ist der Unterschied möglicherweise der, dass die DDR einem immer sagte: Wir wollen dich, wir brauchen dich, du bist uns etwas schuldig. Im Westen hat der Staat einen weitgehend in Ruhe gelassen, jede und jeder machte sein individuelles Ding.

D: Jede Gesellschaft hat ihr Disziplinierungsmodell. In der DDR war das die Ideologie. Und im Westen ist das der finanzkonforme Arbeitsmarkt. Ich glaube, dass die verhaltensprägende Kraft des Kapitalismus  ungeheuerlich ist.

Wie meinen Sie das?

D: In der DDR konnte niemand entlassen werden, außer man wurde straffällig. Also sah man in den Kollegen nicht so stark Konkurrenten. Das wirkte bis ins Privatleben. Ich beobachte, dass Ostdeutsche heute noch einen größeren Freundeskreis haben als Westdeutsche. Vielleicht ist das Zufall, vielleicht nicht.

Dem widerspricht eine Studie des Zentrums für Sozialforschung in Halle von 2014. Danach empfindet eine Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung als Vorteil für Ostdeutschland. 70 Prozent der Ostdeutschen sagen sogar, dass heute die Chancen für den persönlichen Aufstieg größer sind.

D: Das ist doch sehr schön. Aber kein Widerspruch. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der nach der Wende sagte, die Ostdeutschen müssten jetzt durch den Windkanal.

Was meinte er damit?

D: Marktförmig werden. In der DDR haben sich Ostdeutsche in politischen Anpassungstaktiken geübt, heute müssen sie sich marktpolitisch anpassen.

Was ist schlimmer?

D: Eine Leitungsposition in der DDR war schon deshalb nicht immer erstrebenswert, weil der Unterschied in den Gehältern zwischen Chef und Untergebenen nicht so hoch war wie heute. Und je höher man stieg, umso weniger Spielraum hatte man politisch.

Karriere war im Osten nicht attraktiv?

D: Nicht so attraktiv wie heute. Heute trifft das nicht mehr zu, heute haben sich die Ostdeutschen diesbezüglich vermutlich auf westliche Denkmuster eingestellt.

Der Theologe, SPD- und Linksparteipolitiker Edelbert Richter hat mal gesagt, der Osten wurde nach dem Mauerfall verwestlicht, weil die Menschen die Marktwirtschaft lernen mussten. Und jetzt würde der Westen verostlicht, weil die Menschen in unsicheren Zeichen nach dem starken Staat rufen. Richtig?

B: Ich finde nicht. Der westdeutsche Sozialstaat hat bis in die 80er Jahre hinein sehr gut funktioniert, die sogenannte soziale Marktwirtschaft mit Kündigungsschutz und Rente und so weiter. Ist das verostlicht? Nein.

D: Vielleicht hat es so gut funktioniert, weil es die Systemkonkurrenz gab.

B: Einiges spricht dafür.

Mit Kanzlerin Angela Merkel und dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck hatte die Bundesrepublik zwei Ostdeutsche an der Spitze. Warum erfahren gerade die beiden so viel Hass und Ablehnung?

D: Gauck war nicht der Bürgerrechtler, als der er sich ausgegeben hat. Als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde hat er mit dazu beigetragen, dass sich die Sicht auf die DDR verengte: Die DDR vor allem als Stasi-Staat. Die Behörde hat nach Analyse der Akten herausgefunden, dass nur zwei Prozent der DDR-Leute für die Stasi gearbeitet haben. 98 Prozent hatten also nichts mit ihr zu tun. Und trotzdem war das Vertrauen der Mehrheit in diese Behörde  gering. Weil die meisten wussten, dass Biografien instrumentalisiert werden konnten. Als Bundespräsident hat er den Mächtigen keine unbequemen Fragen gestellt.

Und Merkel?

D: Merkel wurde nicht  gehasst –  bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Flüchtenden  ins Land gelassen hat. Unabhängig davon hat sie sich nicht wirklich mit ostdeutschen Interessen profiliert. Sie ist eine gesamtdeutsche Kanzlerin.

B: Das ist ihre Aufgabe.

D: Ja, natürlich. Sie hätte trotzdem dann und wann offener sein können für den Frust der Leute.

Wann wird die Ost-West-Herkunft keine Rolle mehr spielen?

B: In der vierten Generation, bei jenen Menschen, die in den vergangenen zwei, drei Jahren geboren worden sind. Sagen wir also mal, 2030 bis 2035 wird das keine Rolle mehr spielen.

D: Sie wird keine Rolle mehr spielen, wenn die Lebensverhältnisse in Ost und West tatsächlich angeglichen sind. Noch heute kann sich Ostdeutschland wirtschaftlich nicht selbstständig tragen, es ist nach wie vor in hohem Maße subventionsbedürftig. Auch wenn drei Viertel der Ostdeutschen mit ihrer persönlichen materiellen Situation zufrieden sind, muss man wissen, dass das ein  alimentierter Wohlstand ist. Vielleicht wird das auch zum Dauerzustand. Auf jeden Fall dauert es noch mehrere  Generationen.

Können Sie sich vorstellen, dass es 2040, wenn Ost-West-Identität keine Rolle mehr spielen, eine Identität gibt, die Europa heißt?

B: Das kann ich nicht. Aber was ich heute feststelle, ist, dass wir ein Land sind, in dem bereits ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat. Ich glaube dass uns diese Entwicklung sehr viel stärker beeinflussen wird, als wir uns das heute vorstellen können.

D: Ich denke, dass es diese Europa-Mentalität gibt. Ich jedenfalls fühle mich als Europäerin.

Wir haben einen starken Zustrom von Menschen mit Migrationshintergrund und damit einer anderen Identität. Werden wir irgendwann ein Europa mit vielen verschiedenen Identitäten haben? Was wiederum ebenfalls identitätsstiftend ist?

D: Ja, die Vielfalt  als Identität. Wenn man sie als Bereicherung erfährt. Ich glaube, dass die Schwäche des heutigen Europas  ihren Konstruktionsfehler offenbart. . Es gab  eine Währungsunion, aber keine Sozialunion. Ja die Währungsunion hat die Abhängigkeit der schwächeren Länder vertieft, weil sie ihnen die finanzielle Souveränität genommen hat. Deshalb stoßen heute nationale Interessen aufeinander. Um das zu ändern müsste grundsätzlich die Struktur geändert werden.

Was meinen Sie konkret?

D: Es ist eine Schande für Europa, dass für die Bankenrettung zwanzig Mal mehr Geld ausgegeben wurde als für Flüchtlingsintegration.

B: Da stimme ich Ihnen zu. Um mit einem bösen Zitat des Historikers Hans-Ulrich Wehler zu enden. Er sagte: „In einigen Jahren wird die DDR nur eine Fußnote der deutschen Geschichte gewesen sein.“ Aber manchmal steht in den Fußnoten ja das Interessanteste drin.

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Wie eine Dampfwalze – Nachruf auf Helmut Kohl

Daniela Dahn

Helmut Kohl Eine Mehrheit in Ost und West wollte die Einheit mit mehr Zeit – und im europäischen Rahmen. Doch so hatte der große Europäer nicht gewettet

der Freitag | Nr. 25 | 22. Juni 2017

Nachrufe auf Politiker sind meist überzogene Erfolgsgeschichten. Sie gehen aber in jene Geschichtsschreibung ein, über deren Deutungshoheit die Mächtigen verfügen. Unter all den lobenden Erinnerungen an Helmut Kohl überraschte in den letzten Tagen eine, die auch gleich wieder unterging. Im Deutschlandfunk wurde an ein vertrauliches Gespräch Kohls mit dem Historiker Fritz Stern erinnert, in dem dieser den damaligen Kanzler fragte, ob er im Prozess der Vereinigung Fehler gemacht habe. Kohl habe länger überlegen müssen (was nicht überraschend ist) und dann gesagt, doch, er habe versäumt, ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, dass nicht alles in der DDR falsch war und nicht alles im Westen richtig. Das mag zunächst wie ein lässliches Versäumnis klingen. Aber Fritz Stern fügte hinzu, dass eine solche Wertung des Kanzlers am dringendsten nötig gewesen wäre und genau das war, was am meisten von allem fehlte.

Kohl war nicht der Kanzler der Einheit, sondern der Kanzler dieser Einheit. Der Legende von den mangelnden Alternativen sollte daher auch im Respekt vor seinen tatsächlichen Leistungen ein kritisches Erinnern entgegengesetzt werden. Dem geschickten Taktiker der Macht war das Ende der DDR nicht in den Schoß gefallen. In einem Fernsehinterview brüstete er sich damit, dass die ungarische Führung, der bei einem Geheimtreffen in Bad Godesberg „enorme wirtschaftliche Hilfen“ zugesagt wurden, den Zeitpunkt der Öffnung ihrer Grenze für DDR-Bürger auf die Minute nach Kohls Wunsch getimt hatte. Pünktlich zur Eröffnung des CDU-Parteitages, auf dem er, wie er wusste, wegen seines angeschlagenen Images gestürzt werden sollte, verkündete er die Erfolgsmeldung, und alle Umsturzpläne versanken im Jubel. Sein Geschick zur Überrumpelung setzte er dann durch seine Strickjacken-Diplomatie mit dem gutgläubigen Gorbatschow fort.

Erst als die Dynamik die gewünschte Richtung annahm, ging er zu seinem erbarmungslos konfrontativen Auftreten über. Obwohl er doch wusste, dass beide Seiten in unterschiedlichem Maße Positives und Negatives aufwiesen, war eine Begegnung auf Augenhöhe nicht mehr möglich. Nicht mal auf Bauchnabelhöhe. Nun war Kniefall angesagt. Die zahllosen Aktivbürger der DDR, die mit politischer Reife und Besonnenheit in den aus dem Boden geschossenen räteähnlichen Bewegungen den mehrheitlichen Willen zum Wandel und zu würdevoller Einheit betrieben, wurden arrogant vom Runden Tisch gewischt. Da der führende Historiker wider besseres Wissen ins Horn flächendeckender Delegitimierung blies, wurde die zum Mainstream. Und der zum tauglichen Erfüllungsgehilfen neoliberalen Plattmachens. Die im Osten plötzlich zugängliche Westpresse erfreute sich großer Glaubwürdigkeit, verständlich, war doch die mangelnde Öffentlichkeit in der DDR schwerer zu ertragen, als der Mangel an Konsumgütern. (Eine Feststellung, die auf mich als Autorin zutraf, die zu verallgemeinern aber zu meinen Irrtümern gehörte.) Kaum jemand hatte es damals für möglich gehalten, in welchem Maße diese Presse durch Verbreitung von Fake News die Stimmung anheizte und zum Kippen brachte. Etwa durch die schon aus medizinischer Sicht hahnebüchende Behauptung, DDR-Funktionäre hätten ihren Untertanen bei lebendigem Leibe Organe entnommen, um für die greisenhafte Führung eine Art Ersatzteilbank anzulegen. Zeiten der Revolution sind nicht Zeiten des Dementis. So auch nicht nach der sensationslüsternen Behauptung des damaligen Kanzlerberaters Horst Teltschik, die Zahlungsunfähigkeit der DDR stünde unmittelbar bevor. Viel später hat die Deutsche Bank die Auslandsverschuldung der DDR als nicht besorgniserregend beschrieben. Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Inlandsverschuldung von 20.000 DM pro Kopf, sind die offensichtlich in Saus und Braus lebenden Westdeutschen sogar verschuldeter in die Einheit gegangen. Teltschik sagte dieser Tage, Kohl wäre „wie eine Dampfwalze marschiert“, ohne ihn hätte es die schnelle Einheit nicht gegeben. Das wäre auch besser gewesen. Im Frühjahr 1990, so die Forschungsgruppe Wahlen, waren zwar fast alle Deutschen für die Einheit. Aber selbst da noch verlangten die absolute Mehrheit der Ostdeutschen und gar eine Zweidrittelmehrheit der Westdeutschen, man möge sich damit Zeit lassen. Viele wünschten sich eine Einigung im Rahmen Europas. Doch so hatte der Europäer Kohl nicht gewettet.

Denn der Demokratisierungsdruck aus dem Osten begann auf die Bundesrepublik überzugreifen. Schon schlägt die SPD einen Runden Tisch auch für Bonn vor. An der theologischen Fakultät der Universität Tübingen wird eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und Bündnis 90 vergreift sich am Heiligsten, will einen Volksentscheid über den Erhalt des Volkseigentums. Nun aber schnell durch Rechtsangleichung blockieren. In Kohls Auftrag verhandelt Innenminister Schäuble mit sich selbst den Einigungsvertrag, dessen Kern die im Anhang versteckte Regelung der offenen Vermögensfragen ist.

Die wenigen in Ost und West, die Kohls der heimischen Lobby verpflichteten Politik widersprachen, wurden überhört, beschimpft und der Ostalgie bezichtigt. Das habe ich mit meinen Nachwende-Büchern deutlich zu spüren bekommen. In Westwärts und nicht vergessen zitierte ich den Sozialphilosophen Oskar Negt mit seiner Warnung, man könne nicht die Biografien eines ganzen Volkes mit einem Schlag für null und nichtig erklären. Wer andauernd in einem demütigenden Entwertungszustand gehalten werde, der beginne mit der Wiederherstellung seiner Würde auf einer rebellierenden Ebene. Die Unruhe zeigte sich zunächst in einem enormen Aderlass an jungen, kreativen, gebildeten und lebendslustigen Menschen, die im gewendeten Osten keine Zukunft mehr sahen.

Zurück blieben weniger Bewegliche und ein im Vergleich zu Westdeutschland überdurchschnittlich hoher Anteil an Rentnern, die oft vorzeitig in den Ruhestand geschickt worden waren. Die von Negt vorhergesagte Rebellion hat sich schließlich in Fremdenfeindlichkeit, Pegida und AfD entladen. Ein „neuer Nationalismus der Deklassierten“ – genau das hatten namhafte Wirtschaftswissenschaftler aus beiden Staaten in ihrem „Warnruf der ökonomischen Vernunft“ im Februar 1990 vorausgesagt.

Angeblich bestimmte der Niedergang der DDR das Tempo der Einheit. Wer aber bestimmte das Tempo des Niedergangs? Der Guardian hat die Währungsunion – zu den Bedingungen von Kohl – als „ökonomische Atombombe“ bezeichnet. Die 300-prozentige Aufwertung in der DDR war der kürzeste Weg zur Macht über Gesamtdeutschland. Selbst der Generalbevollmächtigte der Treuhand, Norman van Scherpenberg, beklagte, dass in der Nacht zum 1. Juli 1990 der gesamte Kapitalstock der DDR total vernichtet worden sei. Dann zu behaupten, die Ingenieure, Meister und Arbeiter der DDR hätten sowieso nichts als Schrott produziert, war eine weitere Demütigung. Schnell verscherbelte die Treuhand das Volkseigentum, zu 95 Prozent an Unternehmer aus dem Westen. Das Tempo der Privatisierung sollte dem Tempo der Desillusionierung nicht hinterherhinken. 1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte. Die Zahl der Millionäre stieg proportional zu der der Arbeitslosen. Der Versuch, diese mit Hartz IV durch Kürzung ihrer Bezüge zu disziplinieren, bewirkte den Niedergang der SPD, die einst mit ihrer Ostpolitik die eigentliche Vorarbeit geleistet hatte. All das sind Folgen der Kohl’schen Einheit.

Der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl sagte mir 1994 in einem mehrstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte: „Ich hielt damals wie heute zwei demokratische deutsche Staaten, die eine allmähliche Konvertierbarkeit ihrer Währungen anstreben, für das bessere Konzept. Mit der Hälfte der heutigen Transferleistungen hätte die DDR gut leben können.“ Aber nichts war für Kohl und seine Mannen unerwünschter als das. Lieber finanzierte er die Kosten der Einheit, die auf bis zu zwei Billionen Euro geschätzt werden, durch Belastung der Sozialsysteme und vor allem künftiger Generationen, die die enorme Staatsverschuldung noch lange abzuzahlen haben.

„Der kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik“, in der Grundrechte und Demokratie verfallen, lautete die Anklage von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Theologen und Gewerkschaftern aus West und Ost im Januar 1997. Wir forderten erstmals einen Politikwechsel mit Rot-Rot-Grün, der dem Grundgesetz wieder gerecht würde. Diese Erfurter Erklärung brachte den Choleriker Kohl in Rage, er beschimpfte uns als „intellektuelle Anstifter“ (was sonst ist die Aufgabe von Intellektuellen?), wir würden uns zusammenrotten und unser „Haupt erheben“ (gegen den Koloss aus Oggersheim war das nicht vorgesehen), wir wandelten auf der „Straße des Verrats“. Verrat – es gibt in der Moralgeschichte kaum einen schwerwiegenderen und in der Kunst öfter reflektierten Vorwurf. Nach diesem persönlichen Angriff nehme ich mir das Recht, zurückzufragen: Ist Helmut Kohl des Verrats an der inneren Einheit zu bezichtigen? Hat er seinen Machterhalt über alles gestellt? Die Währungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion wurde später auch zum Modell für Europa. Deutschland ist der größte Nutznießer des Euro. Die armen Südeuropäer zahlen drauf und damit indirekt auch für unsere formidable Einheit. Die von Helmut Kohl beförderte Überwindung der Teilung und der Beitritt zu Wohlstand und Freizügigkeit haben zweifellos viel Normalität und Annehmlichkeit gebracht, die niemand mehr missen möchte. Aus zerfallenen Städten sind Schmuckstücke geworden, denen man nicht ansieht, wer Hausherr und wer Hausmeister ist. Die neuen Länder können ihren Verbrauch bis heute nicht selbst erwirtschaften. Aber besonders die junge Generation erfreut sich des gewachsenen Spielraums, auch wenn im Schnitt das Vermögen ostdeutscher Eltern immer noch weniger als halb so groß ist wie das der Westeltern. Doch durch die subventionierte Kaufkraft der Ostdeutschen scheinen sie sich weitgehend mit der Deklassierung abgefunden zu haben.

Als größtes Versäumnis der Einheit sehen viele in Ost und West dennoch an, dass die Vorschläge für neue Lösungen nicht gemeinsam erörtert, die Chance zu gesellschaftlichem Wandel vertan wurde, stattdessen der Osten zur schlechten Kopie des Westens gemacht und so überholte Machtstrukturen restauriert wurden. Etwas anderes war im Weltbild der Regierenden nicht vorgesehen. Kohl ein Glücksfall der Geschichte? Da muss Angela Merkel etwas verwechselt haben – er war ein Glücksfall ihrer Geschichte. Doch das ist schon ein anderes Kapitel.

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