Wie eine Dampfwalze – Nachruf auf Helmut Kohl

Daniela Dahn

Helmut Kohl Eine Mehrheit in Ost und West wollte die Einheit mit mehr Zeit – und im europäischen Rahmen. Doch so hatte der große Europäer nicht gewettet

der Freitag | Nr. 25 | 22. Juni 2017

Nachrufe auf Politiker sind meist überzogene Erfolgsgeschichten. Sie gehen aber in jene Geschichtsschreibung ein, über deren Deutungshoheit die Mächtigen verfügen. Unter all den lobenden Erinnerungen an Helmut Kohl überraschte in den letzten Tagen eine, die auch gleich wieder unterging. Im Deutschlandfunk wurde an ein vertrauliches Gespräch Kohls mit dem Historiker Fritz Stern erinnert, in dem dieser den damaligen Kanzler fragte, ob er im Prozess der Vereinigung Fehler gemacht habe. Kohl habe länger überlegen müssen (was nicht überraschend ist) und dann gesagt, doch, er habe versäumt, ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, dass nicht alles in der DDR falsch war und nicht alles im Westen richtig. Das mag zunächst wie ein lässliches Versäumnis klingen. Aber Fritz Stern fügte hinzu, dass eine solche Wertung des Kanzlers am dringendsten nötig gewesen wäre und genau das war, was am meisten von allem fehlte.

Kohl war nicht der Kanzler der Einheit, sondern der Kanzler dieser Einheit. Der Legende von den mangelnden Alternativen sollte daher auch im Respekt vor seinen tatsächlichen Leistungen ein kritisches Erinnern entgegengesetzt werden. Dem geschickten Taktiker der Macht war das Ende der DDR nicht in den Schoß gefallen. In einem Fernsehinterview brüstete er sich damit, dass die ungarische Führung, der bei einem Geheimtreffen in Bad Godesberg „enorme wirtschaftliche Hilfen“ zugesagt wurden, den Zeitpunkt der Öffnung ihrer Grenze für DDR-Bürger auf die Minute nach Kohls Wunsch getimt hatte. Pünktlich zur Eröffnung des CDU-Parteitages, auf dem er, wie er wusste, wegen seines angeschlagenen Images gestürzt werden sollte, verkündete er die Erfolgsmeldung, und alle Umsturzpläne versanken im Jubel. Sein Geschick zur Überrumpelung setzte er dann durch seine Strickjacken-Diplomatie mit dem gutgläubigen Gorbatschow fort.

Erst als die Dynamik die gewünschte Richtung annahm, ging er zu seinem erbarmungslos konfrontativen Auftreten über. Obwohl er doch wusste, dass beide Seiten in unterschiedlichem Maße Positives und Negatives aufwiesen, war eine Begegnung auf Augenhöhe nicht mehr möglich. Nicht mal auf Bauchnabelhöhe. Nun war Kniefall angesagt. Die zahllosen Aktivbürger der DDR, die mit politischer Reife und Besonnenheit in den aus dem Boden geschossenen räteähnlichen Bewegungen den mehrheitlichen Willen zum Wandel und zu würdevoller Einheit betrieben, wurden arrogant vom Runden Tisch gewischt. Da der führende Historiker wider besseres Wissen ins Horn flächendeckender Delegitimierung blies, wurde die zum Mainstream. Und der zum tauglichen Erfüllungsgehilfen neoliberalen Plattmachens. Die im Osten plötzlich zugängliche Westpresse erfreute sich großer Glaubwürdigkeit, verständlich, war doch die mangelnde Öffentlichkeit in der DDR schwerer zu ertragen, als der Mangel an Konsumgütern. (Eine Feststellung, die auf mich als Autorin zutraf, die zu verallgemeinern aber zu meinen Irrtümern gehörte.) Kaum jemand hatte es damals für möglich gehalten, in welchem Maße diese Presse durch Verbreitung von Fake News die Stimmung anheizte und zum Kippen brachte. Etwa durch die schon aus medizinischer Sicht hahnebüchende Behauptung, DDR-Funktionäre hätten ihren Untertanen bei lebendigem Leibe Organe entnommen, um für die greisenhafte Führung eine Art Ersatzteilbank anzulegen. Zeiten der Revolution sind nicht Zeiten des Dementis. So auch nicht nach der sensationslüsternen Behauptung des damaligen Kanzlerberaters Horst Teltschik, die Zahlungsunfähigkeit der DDR stünde unmittelbar bevor. Viel später hat die Deutsche Bank die Auslandsverschuldung der DDR als nicht besorgniserregend beschrieben. Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Inlandsverschuldung von 20.000 DM pro Kopf, sind die offensichtlich in Saus und Braus lebenden Westdeutschen sogar verschuldeter in die Einheit gegangen. Teltschik sagte dieser Tage, Kohl wäre „wie eine Dampfwalze marschiert“, ohne ihn hätte es die schnelle Einheit nicht gegeben. Das wäre auch besser gewesen. Im Frühjahr 1990, so die Forschungsgruppe Wahlen, waren zwar fast alle Deutschen für die Einheit. Aber selbst da noch verlangten die absolute Mehrheit der Ostdeutschen und gar eine Zweidrittelmehrheit der Westdeutschen, man möge sich damit Zeit lassen. Viele wünschten sich eine Einigung im Rahmen Europas. Doch so hatte der Europäer Kohl nicht gewettet.

Denn der Demokratisierungsdruck aus dem Osten begann auf die Bundesrepublik überzugreifen. Schon schlägt die SPD einen Runden Tisch auch für Bonn vor. An der theologischen Fakultät der Universität Tübingen wird eine Resolution verabschiedet: „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und Bündnis 90 vergreift sich am Heiligsten, will einen Volksentscheid über den Erhalt des Volkseigentums. Nun aber schnell durch Rechtsangleichung blockieren. In Kohls Auftrag verhandelt Innenminister Schäuble mit sich selbst den Einigungsvertrag, dessen Kern die im Anhang versteckte Regelung der offenen Vermögensfragen ist.

Die wenigen in Ost und West, die Kohls der heimischen Lobby verpflichteten Politik widersprachen, wurden überhört, beschimpft und der Ostalgie bezichtigt. Das habe ich mit meinen Nachwende-Büchern deutlich zu spüren bekommen. In Westwärts und nicht vergessen zitierte ich den Sozialphilosophen Oskar Negt mit seiner Warnung, man könne nicht die Biografien eines ganzen Volkes mit einem Schlag für null und nichtig erklären. Wer andauernd in einem demütigenden Entwertungszustand gehalten werde, der beginne mit der Wiederherstellung seiner Würde auf einer rebellierenden Ebene. Die Unruhe zeigte sich zunächst in einem enormen Aderlass an jungen, kreativen, gebildeten und lebendslustigen Menschen, die im gewendeten Osten keine Zukunft mehr sahen.

Zurück blieben weniger Bewegliche und ein im Vergleich zu Westdeutschland überdurchschnittlich hoher Anteil an Rentnern, die oft vorzeitig in den Ruhestand geschickt worden waren. Die von Negt vorhergesagte Rebellion hat sich schließlich in Fremdenfeindlichkeit, Pegida und AfD entladen. Ein „neuer Nationalismus der Deklassierten“ – genau das hatten namhafte Wirtschaftswissenschaftler aus beiden Staaten in ihrem „Warnruf der ökonomischen Vernunft“ im Februar 1990 vorausgesagt.

Angeblich bestimmte der Niedergang der DDR das Tempo der Einheit. Wer aber bestimmte das Tempo des Niedergangs? Der Guardian hat die Währungsunion – zu den Bedingungen von Kohl – als „ökonomische Atombombe“ bezeichnet. Die 300-prozentige Aufwertung in der DDR war der kürzeste Weg zur Macht über Gesamtdeutschland. Selbst der Generalbevollmächtigte der Treuhand, Norman van Scherpenberg, beklagte, dass in der Nacht zum 1. Juli 1990 der gesamte Kapitalstock der DDR total vernichtet worden sei. Dann zu behaupten, die Ingenieure, Meister und Arbeiter der DDR hätten sowieso nichts als Schrott produziert, war eine weitere Demütigung. Schnell verscherbelte die Treuhand das Volkseigentum, zu 95 Prozent an Unternehmer aus dem Westen. Das Tempo der Privatisierung sollte dem Tempo der Desillusionierung nicht hinterherhinken. 1990 war das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte. Die Zahl der Millionäre stieg proportional zu der der Arbeitslosen. Der Versuch, diese mit Hartz IV durch Kürzung ihrer Bezüge zu disziplinieren, bewirkte den Niedergang der SPD, die einst mit ihrer Ostpolitik die eigentliche Vorarbeit geleistet hatte. All das sind Folgen der Kohl’schen Einheit.

Der damalige Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl sagte mir 1994 in einem mehrstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte: „Ich hielt damals wie heute zwei demokratische deutsche Staaten, die eine allmähliche Konvertierbarkeit ihrer Währungen anstreben, für das bessere Konzept. Mit der Hälfte der heutigen Transferleistungen hätte die DDR gut leben können.“ Aber nichts war für Kohl und seine Mannen unerwünschter als das. Lieber finanzierte er die Kosten der Einheit, die auf bis zu zwei Billionen Euro geschätzt werden, durch Belastung der Sozialsysteme und vor allem künftiger Generationen, die die enorme Staatsverschuldung noch lange abzuzahlen haben.

„Der kalte Krieg gegen den Sozialstaat hinterlässt eine andere Republik“, in der Grundrechte und Demokratie verfallen, lautete die Anklage von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Theologen und Gewerkschaftern aus West und Ost im Januar 1997. Wir forderten erstmals einen Politikwechsel mit Rot-Rot-Grün, der dem Grundgesetz wieder gerecht würde. Diese Erfurter Erklärung brachte den Choleriker Kohl in Rage, er beschimpfte uns als „intellektuelle Anstifter“ (was sonst ist die Aufgabe von Intellektuellen?), wir würden uns zusammenrotten und unser „Haupt erheben“ (gegen den Koloss aus Oggersheim war das nicht vorgesehen), wir wandelten auf der „Straße des Verrats“. Verrat – es gibt in der Moralgeschichte kaum einen schwerwiegenderen und in der Kunst öfter reflektierten Vorwurf. Nach diesem persönlichen Angriff nehme ich mir das Recht, zurückzufragen: Ist Helmut Kohl des Verrats an der inneren Einheit zu bezichtigen? Hat er seinen Machterhalt über alles gestellt? Die Währungsunion ohne Wirtschafts- und Sozialunion wurde später auch zum Modell für Europa. Deutschland ist der größte Nutznießer des Euro. Die armen Südeuropäer zahlen drauf und damit indirekt auch für unsere formidable Einheit. Die von Helmut Kohl beförderte Überwindung der Teilung und der Beitritt zu Wohlstand und Freizügigkeit haben zweifellos viel Normalität und Annehmlichkeit gebracht, die niemand mehr missen möchte. Aus zerfallenen Städten sind Schmuckstücke geworden, denen man nicht ansieht, wer Hausherr und wer Hausmeister ist. Die neuen Länder können ihren Verbrauch bis heute nicht selbst erwirtschaften. Aber besonders die junge Generation erfreut sich des gewachsenen Spielraums, auch wenn im Schnitt das Vermögen ostdeutscher Eltern immer noch weniger als halb so groß ist wie das der Westeltern. Doch durch die subventionierte Kaufkraft der Ostdeutschen scheinen sie sich weitgehend mit der Deklassierung abgefunden zu haben.

Als größtes Versäumnis der Einheit sehen viele in Ost und West dennoch an, dass die Vorschläge für neue Lösungen nicht gemeinsam erörtert, die Chance zu gesellschaftlichem Wandel vertan wurde, stattdessen der Osten zur schlechten Kopie des Westens gemacht und so überholte Machtstrukturen restauriert wurden. Etwas anderes war im Weltbild der Regierenden nicht vorgesehen. Kohl ein Glücksfall der Geschichte? Da muss Angela Merkel etwas verwechselt haben – er war ein Glücksfall ihrer Geschichte. Doch das ist schon ein anderes Kapitel.

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