Das geplante und anhaltend umstrittene Zentrum gegen Vertreibung unterliegt, entgegen den Intentionen des Parlaments, der Gefahr, als Instrument der Anklage missverstanden zu werden. Dieser Missdeutung, die auch in Polen und Tschechien sehr bald laut geworden ist, sollte begegnet werden. Geht es hier wirklich nur um das Recht auf eine Klagemauer, um Verständnis und Versöhnung, oder geht es um die Zuweisung von Schuld und Unrecht Richtung Osteuropa, mit dem Ziel einer Bewusstseinsverschiebung, die schließlich auch eine Eigentumsverschiebung ermöglichen wird?
Vertreibung ist eine von vielen entsetzlichen Kriegsfolgen. Genauso gut könnte man ein Zentrum gegen Gebietsannexionen befürworten, eins gegen die Geringschätzung des Lebens von Soldaten, gegen Massaker an Zivilisten, gegen Bombenopfer und Ruinen, eins gegen Zwangsarbeit und Gefangenenlager, gegen Hunger und Typhus, ein Zentrum gegen Vergewaltigung, gegen Verrohung der Sitten, gegen „ethnische Säuberungen“, gegen Vergeltung und Strafe der Sieger.
All dies sind im letzten Jahrhundert immer die fatalen Folgen von Kriegen gewesen, je schrecklicher der Krieg, je fataler. Verurteilt man aber die Folge und nicht die Ursache, so greift man zu kurz, ja weckt Illusionen. Man suggeriert, nach Angriffskriegen könnten deren unvermeidliche Folgen vermieden werden.
Für die Zukunft folgt daraus nicht das Unrealistische: Vertreibungen nach Kriegen sind zu verbieten. Sondern: Wer Vertreibungen verhindern will, muss Kriege verhindern.
Wir brauchen kein Zentrum gegen Vertreibung. Wir brauchen ein Zentrum gegen Krieg. Das den Jüngeren veranschaulicht, weshalb Krieg geächtet und künftig zu meiden ist. Jede Art von oben erwähnten Kriegsleiden könnte hier einen Raum bekommen, nicht nur die, die heute noch entschädigungsrelevant sind. In diesem Kontext könnte auch das im Koalitionsvertrag vereinbarte sichtbare Zeichen gegen Vertreibung seinen Platz finden.
Am Eingang wäre eine Warnung von Bertolt Brecht von 1952 denkbar: „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungskraft für kommende Leiden, ist fast noch geringer.“
Die Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises:
Egon Bahr, Elmar Brähler, Daniela Dahn, Hans-Joachim Gießmann,
Günter Grass, Dieter Klein, Irina Mohr, Klaus Noé, Rolf Reissig, Edelbert Richter, Axel Schmidt-Gödelitz, Friedrich Schorlemmer, Klaus Staeck, Christoph Zöpel.
und:
Michael Brzoska und Reinhard Mutz, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Lühr Henken, Hamburger Forum für Frieden, Völkerverständigung und weltweite Abrüstung, Willi Hofmeister, Ostermarschkreis Ruhr, Jörg Huffschmid, Wissenschaftlicher Beirat von Attac, Willi van Ooyen, Ostermarschbüro, Johannes Pfäfflin, Psychotherapeutischer Arbeitskreis für Betroffene des Holocaust e.V., Peter Pogany-Wnendt, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Werner Ruf und Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag, Horst Schmitthenner, „Politikwechsel“, Horst Trapp, Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt a.M., Markus Weingardt, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST, Henning Zierock, Arno Gruen und Konstantin Wecker, Kultur des Friedens.