Wir wollen doch auch noch leben oder Die Legende vom faulen Ossi, S. Fischer Verlag, 2005

in: „Ein Land genannt die DDR“, Hg. Ulrich Plenzdorf, Rüdiger Dammann, Frankfurt 2005

DDR-Wirtschaft im Rückblick – wie lässt sich diese ebenso spröde wie widersprüchliche Materie, die sich zudem mit jedem Tag von genauer Erinnerung entfernt, auf den Punkt bringen? Man könnte die Statistik kommentieren: Vom schweren Anfang in die zum Mauerbau führende Krise, über die Stabilisierung in den 60er und die Stagnation in den 70er Jahren, bis zum Niedergang. Doch damit ließe sich wohl nur das von Albert Einstein beschriebene Phänomen illustrieren: „Es gibt die erstaunliche Möglichkeit, dass man einen Gegenstand mathematisch beherrschen kann, ohne den Witz der Sache wirklich erfasst zu haben.“

Der „Witz der Sache“ bestand darin, dass in der DDR zum ersten Mal in Deutschland die Macht des Kapitals gebrochen wurde. Also die Logik derer, die über sehr viel Geld, über Fabriken oder Grundbesitz verfügen.. Damit war auch das Verhältnis zwischen Hinze und Kunze, zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, in bestimmten Bereichen auf den Kopf gestellt. So zumindest meine Beobachtung. Mein Zugang zu dieser Sphäre war begrenzt, aber vielfältig.

Schon in meiner Grundschule hatte jede Klasse eine Patenbrigade, die zu Betriebsbesichtigungen einlud und uns Schüler hin und wieder in der Klasse besuchte. Das Ganze blieb ziemlich formal, genau wie das Fach „Unterricht in der Produktion“, in dem wir unter Anleitung eines Lehrmeisters nervtötend an Werkstücken herumfeilen mussten. Wirklichen Einblick bekamen die Oberschüler meiner Generation erst, als sie neben dem Abitur auch noch einen Facharbeiterabschluss abzulegen hatten, so dass unsere letzten Klassenjahre dem Rhythmus folgten: vier Wochen Schule, zwei Wochen Betrieb. Auch während des Studiums war mancher Arbeitseinsatz zu überstehen. Ich erinnere mich an eine nicht enden wollende Woche Straßenbahnen waschen und eine Woche Druckbögen falzen. Als junge Fernsehredakteurin des Wirtschaftsmagazins „Prisma“ trieb ich mich fünf Jahre zu Recherchen und Dreharbeiten in Betrieben herum und schließlich als Schriftstellerin zu Buchlesungen.

Um mich jenem „Witz der Sache“ anzunähern, sei eine Geschichte erzählt, die ich 1982 im Teltower Stammbetrieb des Kombinates Elektronische Bauelemente aufnahm und die heute schon wie von einem anderen Planeten klingt: Liane Oppermann, fast 20 Jahre, gelernte Mechanikerin, arbeitet seit einem halben Jahr in der hauptsächlich aus Frauen bestehenden Brigade „Helene Weigel“. Hier werden Quarzblöcke zu hauchdünnen Plättchen geschnitten und dann mit wenigen Milligramm Gold bedampft, was große Geschicklichkeit erfordert. Die Arbeit gefällt Liane, das Geld stimmt, sie fühlt sich wohl, nicht zuletzt wegen des Kollegen Uwe. Doch dann geschieht etwas, worauf man Liane bei ihrer Einstellung nicht vorbereitet hatte. Ein Mikroprozessor wird eingebaut, der dafür sorgt, dass eine Maschine künftig ihre Arbeit übernehmen wird. Sie soll deshalb in eine andere Abteilung wechseln. In der Vorfertigung fehlen Leute.

Der Lohn wäre selbstverständlich der gleiche, aber die Arbeit ist Liane zu monoton, sie weigert sich, sie auszuführen. Als sie für diese Weigerung einen Verweis bekommt, beschwert sie sich bei der Gewerkschaft und sagt wörtlich in mein Mikrofon: Ich bin ein Facharbeiter und kein Spielzeug, mit mir kann man so was nicht machen! Wenn ich keine Arbeit kriege, die mir Spaß macht, werde ich wohl kündigen müssen. Mit dieser Drohung bringt sie ihren Bereichsleiter zum Zittern, der nicht zuletzt für ein gutes Arbeitsklima verantwortlich ist und erheblichen Ärger bekommen würde, wenn angesichts der allgemeinen Arbeitskräfteknappheit die Fluktuation ansteigt.

Schließlich werden Lianes Bedingungen erfüllt: Vorfertigung nur, bis eine interessante Arbeit gefunden ist und auch das nur im selben Schichtrhythmus wie ihre alte Brigade, damit sie weiterhin an deren Kegelabenden teilnehmen kann.

Meine Zeugenschaft in dieser Angelegenheit kam der Kombinatsleitung nicht ungelegen, denn derartige Konflikte begannen sich zu häufen, und es galt, über neue Wege nachzudenken. Als ich mich darüber hinaus aber für kontroverse Fragen der Normerfüllung und für eine große, unter Folie herumstehende Maschine mit westlichem Firmenschild zu interessieren begann – offensichtlich ein Fehleinkauf –, war ich in eine sensible Zone geraten, und man erteilte mir Betriebsverbot. Das empörte die Brigade. Durch mein Engagement für Liane war ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen uns entstanden, und es gab das Bedürfnis, über die betrieblichen Konflikte zu reden. Alle Arbeiter, aber auch der Abteilungs- und Bereichsleiter waren bereit, mich bei sich zu Hause zu empfangen und mir bei voller Nennung ihres Namens ihre Meinung ins Mikrofon zu sagen. So entstand das Originalton-Hörspiel „Warum ausgerechnet ich?“, das später im Berliner Rundfunk gesendet und in der Zeitschrift ndl abgedruckt wurde.

Die Kombinatsleitung verfügte über nichts, womit sie diese Leute hätte einschüchtern können. Den Propaganda-Slogan „Ich bin Arbeiter – wer ist mehr?“ hatten sie missverständlicherweise ernst genommen. Der Begriff „abhängig Beschäftigter“ war ihnen ebenso fremd wie die Erfahrung von „Kündigung“. Sie waren einfach nicht erpressbar. Ich weiß nicht, ob sich man sich im Westen diese Art von Selbstbewusstsein auch nur annähernd vorstellen kann. Inzwischen gibt es diesen Elektronikbetrieb nicht mehr. Wer heute zittert, lässt sich denken. Ich bin Arbeiter – wer ist weniger?

Damals war ein Facharbeiter eine ziemlich souveräne Gestalt. Sich seiner Fähigkeiten und des Gebrauchtwerdens bewusst, wissend, andere Betriebe würden ihn jederzeit mit offenen Armen nehmen, gab es für ihn kaum übergeordnete Autoritäten. Aus dem Kabelwerk Oberspree ist mir eine kleine, aber typische Szene erinnerlich: Drei Arbeiter sitzen auf einem Holzstapel in der Sonne, die Frühstückspause ist bereits um eine Viertelstunde überzogen. Da kommt der Betriebsdirektor vorbei und ruft: „Na Kollegen, wollt ihr nicht weitermachen?“ „Ja, ja Kollege Direktor, nur noch uffrochen, dann klotzen wir wieder ran.“ Die Arbeiter bleiben seelenruhig sitzen, während der Kollege Direktor achselzuckend verschwindet.

Die Arbeitsdisziplin ließ zu wünschen übrig, die Arbeitsmoral wünschte: Keinen Job, sondern etwas, das zum Lebensmittelpunkt gehört. Der Arbeitsplatz sollte nicht nur ein Ort sein, an dem man zu höchster Effektivität aufzulaufen hat, sondern an dem man sich auch wohlfühlen kann. Wenn es aus sozialen oder humanen Gründen sein muss, auch auf Kosten der Produktivität.

Ich war zu Zeiten der Mecklenburger LPG Alt Meteln oft in deren Einzugsgebiet. Auf der Landstraße sah man am Morgen einen Kleinbus, der Menschen mit Lernschwierigkeiten, wie es heute korrekt heißt, zur Feldarbeit brachte. Am Nachmittag fuhren sie, immer neugierig aus den Fenstern guckend, zurück. Manchmal mähten die jungen Männer mit Sensen einen Feldrain, überraschend flink und geschickt, sich bei einem Pläuschchen immer wieder ausruhend, dabei lachten sie oft laut, und ich hätte gern gewusst, worüber.

Nach der Wende wurden in allen Genossenschaften Arbeitskräfte entlassen. Nur der Vorsitzende dieser LPG, ein belesener, beliebter Mann, wollte keinen seiner Leute hergeben, nicht einmal die Behinderten. Nach einem Jahr war sein Betrieb zahlungsunfähig, der Vorsitzende so verzweifelt, dass er sich den Strick nahm. Die meisten jener jungen Männer wurden in ein Altersheim gesteckt, wo sie inzwischen hospitalisiert sind. Über den Feldrain fliegt jetzt perfekt der mit Schneidmessern ausgestattete, lange Arm eines riesigen Baggers, dessen Lärm und Gestank noch in der Luft liegt, wenn er schon längst um die Ecke gebogen ist.

Der Dramatiker Heiner Müller erzählte gern folgende Episode: Ein Komsomolze fährt von der Moskauer Universität zum landwirtschaftlichen Praktikum auf eine ferne Kolchose hinterm Ural. Er schaut sich das Treiben dort drei Tage an, dann passt er den Chef ab und sagt: Also Genosse Vorsitzender, so geht das nicht – eure Arbeitsabläufe, das sieht doch ein Blinder, was da alles einzusparen und zu beschleunigen wäre. Der Vorsitzende legt ihm die Hand auf die Schulter und erwidert: Ach Söhnchen, das wissen wir ja alles selber. Aber wir wollen doch auch noch leben.

Ich kann daran bis heute, oder gerade heute, nichts grundsätzlich Falsches finden. Menschen verbringen so oder so den Hauptteil ihres Lebens arbeitend. Deshalb bestimmt die Art der Arbeit ganz wesentlich die Lebensqualität. Und zwar nicht erst mit Beginn des Feierabends. Allein das aus dem 19. Jahrhundert übernommene Wort ist verräterisch: Wenn die Plackerei vorbei ist, gibt’s Grund zu feiern. Daran hatte sich im Sozialismus nur insofern etwas geändert, als man auch während der Arbeit schon ein wenig feiern wollte. Geburtstage, Hochzeiten oder Kindesgeburten wurden gern zum Anlass genommen, den Kollegen eine Runde auszugeben (es konnte Kaffee sein) oder den übriggebliebenen Kuchen und Kartoffelsalat unter die Leute zu bringen.

Die Auflockerung der Arbeitszeit war in der unmittelbaren Produktion sicher am beliebtesten, machte aber auch vor den Büros nicht halt. Mein Mann, in den 70er Jahren Ingenieur einer Forschungsstelle in Dresden, parteilos, aber in der Gewerkschaft für Kultur zuständig, erzählte mir folgende Geschichte: Eines Tages begannen einige fußballbegeisterte Kollegen nach dem Mittagessen in einem Ruinengrundstück noch ein wenig herumzukicken. Schnell gesellten sich weitere dazu, so dass man zwei Mannschaften bilden konnte. Bald reichte der Platz nicht mehr aus, man zog zu den nahe gelegenen Elbwiesen, wo sich leicht ein maßstabgerechtes Spielfeld markieren ließ. Mein Mann war Torwart, der Betriebsgewerkschaftsvorsitzende hatte die tragende Rolle des Ausputzers inne, linker Verteidiger war der Betriebsparteisekretär. Der nachmittägliche Kick wurde zur Gewohnheit. Die Kaderleiterin ließ daraufhin als Ausdruck ihres Missfallens oft in der ersten Nachmittagsstunde mit demonstrativ beleidigter Mine ihre Bürotür offen, zum Zeichen, dass ihr nichts entginge. Einen Vorwurf auszusprechen wagte sie nicht, wusste sie doch, die ihr rhetorisch überlegenen Weißkittel würden ihr nur wieder unwillig bestätigen, dass sie ihre Vorlagen schon termingerecht abliefern würden. Was tatsächlich ja geschah. Erst als nach Monaten auch den Leuten im Ministerium auffiel, dass zu gewissen Zeiten keinerlei telefonische Auskunft zu haben war, musste die Gewohnheit schweren Herzens eingestellt werden.

Da zum sozialistischen Wettbewerb auch der Programmpunkt „Geistig-kulturelles Leben“, kurz GeiKuLe, gehörte, war es nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, sich während der Arbeitszeit kulturell zu bilden. In den 80er Jahren als Buchautorin an diesem gutgemeinten Unfug beteiligt, räume ich ein: Dies ging zu weit. Mein Mitteldeutscher Verlag aus Halle hatte eine Art Patenschaftsvertrag mit dem Chemiekombinat Bitterfeld. Jährlich zogen Heerscharen von Autoren ins viele Tausend Menschen beschäftigende Kombinat, um im dortigen Kulturpalast „Zirkel schreibender Arbeiter“ anzuleiten oder direkt vor Ort, in den Kollektiven, „Tage der Literatur“ abzuhalten. Ich erinnere mich an diese Begegnungen in einer Mischung aus Rührung und Befremden. Begleitet vom Bibliothekar des Betriebes, dem Lokalredakteur und meiner Lektorin, betrat ich junges Ding einen Raum, in dem lauter erwachsene Werktätige auf mich warteten. Im weißen Kittel, im Blaumann oder bunter Kittelschürze unterbrachen sie ihr Gespräch und sahen mir erwartungsvoll entgegen. Ich sah mich um und fand mich zwischen Reißbrettern eines Ingenieurbüros, den Reagenzgläsern eines Labors, den Hängepflanzen eines Versammlungsraums, den Büchern der Bereichsbibliothek, oder in der Kantine.

Nicht, dass die Anwesenden nur pflichtgemäß erschienen wären. Man war für solche Abweichung vom alltäglichen Arbeitstrott dankbar, selbst wenn man nur ein Stündchen abschalten wollte. Es kam vor, dass jemand seinen Platz verließ, um einen Blick auf die den Produktionsprozess steuernden Geräte zu werfen und anschließend auf leisen Sohlen zurückzukehren. Soweit, so gut. Als Vortragende musste mir allerdings klar sein, dass ich es hier mehrheitlich nicht mit geübten Lesern zu tun hatte. Und dass diese Leute außerdem kaum eine Chance hatten, sich einen bestimmten Autor zu wünschen. Ich sah ihrer skeptischen Neugier an, dass sie sich fragten, was für einen bunten Vogel ihnen die Gewerkschaft da wieder vor die Nase gesetzt hatte.

Um das Ereignis schließlich im Brigadetagebuch abheften zu können, wurde eine „Kollektive Stellungnahme zur Buchdiskussion“ geschrieben, wovon der Autor bekam erbarmungslos einen Durchschlag bekam. Einige vergilbte Exemplare solcher Beurteilungen haben sich bei mir noch gefunden:

„Wir haben für 1982, wie schon in den Vorjahren, die Durchführung einer Buchlesung in unseren Kultur- und Bildungsplan aufgenommen“, heißt es im Bericht der Kollektive der Investkoordinierung. „Eine Lesung der Schriftstellerin Dahn wurde uns vorgeschlagen. Von der Gewerkschaftsbibliothek bekamen wir 3 Exemplare ihres Erstlingswerkes „Spitzenzeit“ zur Verfügung gestellt. Es war für alle Teilnehmer, auch für unsere Gäste der Prozessoptimierung, die bisher noch an keiner Buchlesung teilgenommen haben, sehr anregend. Wir haben Wissenswertes und Nachdenkliches erfahren.“

„Es gab auch ablehnende Stimmen, welche die Schreibweise der Autorin als zu kompliziert und damit als unverständlich bezeichneten“, schrieb Christiane Wirth für das Kollektiv Forschung/Farben des Betriebsteils Wolfen. „Ich hielt es deshalb für angebracht, mit den Kollegen einige kurze Arbeiten gemeinsam zu lesen und zu besprechen. Dadurch ergab sich bereits ein lebhafter Meinungsaustausch vor der eigentlichen Buchdiskussion, die wir nun mit einer gewissen Spannung erwarteten. Gleich zu Beginn der Veranstaltung stellten wir gezielt unsere Fragen, und die Autorin gab uns Gelegenheit, unsere Meinungen – sowohl positive als auch negative – offen zu äußern. Uns gefiel die Art und Weise, wie sie dann in einer uns überraschenden Ehrlichkeit sachlich und gelassen Rede und Antwort stand, woraus sich ein – wohl für beide Seiten – fruchtbarer Meinungsaustausch entwickelte. Wir entdeckten Querverbindungen, wie sie die Autorin selbst vorher nicht gesehen hatte.“

Ähnliche Startschwierigkeiten schildert der von L. Kreuzberger unterzeichnete Bericht des Kollektivs vom Zentrallabor im Industriekraftwerk: „Das Buch hat bei unseren Kolleginnen ein sehr unterschiedliches Echo ausgelöst. Während einige mit Freude darin gelesen haben, gab es andere, die es als ´nicht lesbar´ ablehnten. Der Leser muss aufgeschlossen sein, er muss mitdenken und sich in den charakteristischen Stil der Schriftstellerin einfühlen. Ist ihm das gelungen, wird er das Büchlein nicht mehr aus der Hand legen. In vielen Beschreibungen erkennen wir unsere Alltagsprobleme in Betrieb, Familie und überhaupt im Zusammenleben der Menschen wieder. Wir können das, was uns bewegt an Begeisterung, aber auch an Kritik, nicht besser formulieren. So wurde aus der anfangs mit Skepsis aufgenommenen Begegnung ein sehr offenes und herzliches Gespräch, für das wir uns bedanken möchten.“

Die Kulturobmännin Trauzettel unterzeichnete den Bericht der Brigade „Technisches Kontrollorgan“: „… Zwei Kolleginnen brachten zum Ausdruck, dass sie ein Buch mit fortlaufender Handlung lieber lesen. Doch D. Dahn schreibt oftmals Gedankengänge auf, über die viele Menschen nachdenken aber nicht den Mut haben, ihre Gedanken öffentlich preiszugeben. Das Kollektiv schätzt ein, dass jeder Leser, der das Buch einmal in den Händen hält, zum Lesen verführt wird, denn das Lesen ist und bleibt die eigenwilligste und intensivste Form der Entspannung und Unterhaltung.“

Um eine noch eigenwilligere Form der Entspannung, nämlich das Feiern und seine Darstellung in der Kunst, gab es zu dieser Zeit gerade eine landesweite, heftige Debatte. Zunächst war unter Journalisten nur bekannt, dass im Kulturministerium eine ganze Mappe voller Beschwerdebriefe lag. Alle zu dem umstrittensten Bild der VIII. DDR-Kunstausstellung im Dresdner Albertinum: „Brigadefeier“ von Sighard Gille. Ein etwas karikaturistisches Bild von einer turbulenten Feier, bei der ich nicht ungern dabei gewesen wäre. Schon der Torten wegen, die darauf von einer engelsgleichen, pausbäckigen Frau zu einem Tisch jongliert werden. Auf diesem Tisch steht aber ein junger Mann, der einen großen Lampion befestigt. Im Vordergrund – neben einem leeren Kasten Bier – ein nicht mehr ganz nüchterner Mann, der einen Kassettenrecorder auf den Knien hält. Rechts vier sich zuprostende Männer und eine Frau, die ihren Arm um die Schulter des neben ihr sitzenden Mannes legt, der wiederum seine Hand beruhigend an den Nacken seines krakeelend debattierenden Nebenmannes hält. Das ist alles. Doch die Lektüre der mit Name und Adresse versehenen Briefe verschlug mir die Sprache:

„Ich kann es nicht verstehen, dass Ihr nichts dagegen unternehmt, dass unsere bildenden Künstler Arbeiter und Werktätige mit entstellten Gesichtern darstellen. … Man hat das Gefühl, die Herrschaften auf diesem Bild müssen ins Trinkerheim. … Um das negative an solchen Feiern zu erkennen, brauchen wir keine Ölgemälde. … Unsere Künstler sollen das Typische darstellen, nicht die unliebsamen Ausnahmen. … Mit einer wüsten Sauferei und Völlerei und Gruppensex hat unser Brigadeleben nichts zu tun… er hat wohl eine Künstlerorgie vor Augen gehabt. … Das Bild ist von einer Hemmungslosigkeit, die dem Empfinden sozialistischer Moral direkt entgegensteht. Ich lehne deshalb entschieden ab, dass das Bild zur Betrachtung gelangt. … Die Kunstausstellung wird von einem internationalen Publikum besucht, soll es mit so einem Eindruck über ein feierndes Arbeiterkollektiv unserer Republik wieder nach Hause fahren?“

Die Kunstausstellungen lösten immer Debatten aus, aber diesmal war das Ausmaß der Empörung überraschend. Das waren keine bestellten Briefe, sie wurden aus eigenem Antrieb geschrieben. Auch die Genossen im Kulturministerium zeigten sich ratlos. Schließlich waren sie der gesellschaftliche Auftraggeber für das Bild, und sie hatten es auch wohlwollend abgenommen. Sollten sie sich nun hinter den Künstler stellen und damit weitere Beschimpfungen provozieren? Das Schreiben des Abteilungsleiters fiel so aus: „Wir haben den Künstler auch nicht darüber in Unklarheit gelassen, dass er den kritischen Akzent offensichtlich überzogen hat. Dennoch sind wir der Auffassung, dass das Problem dem realen Leben entnommen ist.“

Der Bezug zum realen Leben brachte mich auf die Idee, einige Briefschreiber zu besuchen, um herauszufinden, was das für Menschen sind. Aus einer sächsischen Lackfabrik hatten gleich vier Kollektive geschrieben, die mich herzlich empfingen, da sie mich irrtümlich für das personifizierte schlechte Gewissen des Ministeriums hielten. Ich erfuhr zunächst, dass die 300 Betriebsangehörigen in 20 Brigaden aufgeteilt seien, von denen neun in der Produktion und elf in der Verwaltung arbeiteten. Zu meiner Verblüffung hörte ich, dass die vier Briefe nur aus Verwaltungsbrigaden kamen – ich saß also inmitten von Technologen, Ingenieur-Ökonomen, EDV-Leuten, Justitiaren, Sachbearbeiterinnen. Das verwirrte mich, hatten sich doch alle ausdrücklich auf die Würde der Arbeiterklasse berufen.

Da äußerte ich den Wunsch, mir auch noch die Produktionshallen ansehen zu dürfen. Unterwegs, im Treppenhaus des Verwaltungsgebäudes, erblickte ich zwei aufgeblockte Drucke von Brueghels Bauernfeiern an der Wand. Dort wird aus großen Krügen gesoffen, man geht sich an die Gurgel und unter den Rock, knutscht oder zerrt sich in die Scheune, Scherben liegen auf dem Tanzplatz… „Na das war doch früher, und auf dem Land“, verteidigt sich der mich begleitende Sekretär für Wissenschaftliche Arbeitsorganisation.

In der Nitro-Lacke-Abteilung wurde mir Brigadier Fiedler vorgestellt. Wir mussten in der lauten Halle reden, weil er ein Auge auf die Maschinen haben wollte: Er verstehe die ganze Diskussion nicht. Ob typisch oder nicht, sei doch ganz egal, jedenfalls wäre das Bild real. Alles andere sei kleinbürgerlich. Wer da von Bild zurückziehen fasele, dem spreche er jede Sachkenntnis ab. (Mir wurde übel vom Farbgestank.)

Beim Verabschieden gestand mir der WAO-Sekretär, er wäre nie auf die Idee gekommen, dass im Betrieb zu jenem Bild auch andere Meinungen auftauchen könnten. Das gebe ihm jetzt zu denken. Ich fand ihn plötzlich nett, weil er genau den Erfolg verkörperte, den ich mir von meinem Besuch versprochen hatte.

All die bisher beschriebenen Personen, ihre Motive und Verhaltensweisen, wären wohl unter westdeutschen Bedingungen undenkbar gewesen. Hier lebte kein neuer Mensch, aber in mancher Beziehung ein anderer. Aber wann und weshalb hatte dieses Auseinanderdriften begonnen?

Nach dem Krieg war man sich noch auf beiden Seiten einig, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem den „Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“ ist, wie es im Ahlener Programm der CDU hieß. Eine „Neuordnung von Grund auf“ sollte als Ziel „nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes“ verfolgen. So wurden auch in der Bundesrepublik in den 50er Jahren Bergwerke und Großbetriebe verstaatlicht, was aber in den 60er Jahren meist wieder rückgängig gemacht worden ist.

Als die DDR 1950 den ersten Fünfjahrplan in Angriff nahm, kamen erst 45 Prozent der Industrieproduktion aus volkseigenen Betrieben und nur zehn Prozent der landwirtschaftlichen Güter aus Genossenschaften. Der Großhandel befand sich fast noch völlig in privater Hand. Es muss eine Zeit voller schmerzlicher, administrativer Eingriffe, aber auch voller Enthusiasmus und Willen zum Neuanfang gewesen sein. Obwohl die sowjetischen Reparationsforderungen für ganz Deutschland allein von der DDR erbracht wurden, war die nicht gerade geringe Vorkriegsindustrieproduktion auf dem DDR-Territorium bereits 1954 wieder erreicht. (Und wurde bis 1989 immerhin auf das Dreizehnfache erhöht.)

Nach dem Mauerbau, Ende 1962, betrug der Anteil privater Industriebetriebe an der Gesamtproduktion nur noch knapp drei Prozent. Die volkseigenen Betriebe erwirtschafteten bereits 89 Prozent. Und die LPG und Volkseigenen Güter bearbeiteten 93 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

Ich habe diese Umbruchzeit noch nicht bewusst erlebt, kenne sie nur vom Hörensagen oder aus der frühen DDR-Literatur, die sich der Vorgänge mit Vorliebe annahm. Heiner Müller schrieb 1957 das Stück „Der Lohndrücker“, eine Auseinandersetzung der Arbeiter mit den neuen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Denn zu dieser Zeit gab es innerhalb der Brigadebewegung durchaus engagierte Leute, die eigene Vorstellungen davon hatten, was die Forderung, „sozialistisch arbeiten“ bedeuten könnte. Ihre Absichten liefen darauf hinaus, hohe Arbeitsleistungen nicht durch Anweisungen von oben zu erreichen, sondern unter eigener Regie, nach genauerer Kenntnis der Lage vor Ort. Sie wollten Selbstverwaltung und betriebliche Mitbestimmung, um die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung zu verbessern.

1961 folgte von Müller „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“, in dem es um die Konflikte der Bodenreform und der Kollektivierung ging und das bald nach der Uraufführung abgesetzt wurde.

Damals entbrannte eine merkwürdige Diskussion darüber, ob denn Künstler von ihrem häuslichen Schreibtisch aus überhaupt befähigt und befugt seien, die komplizierte Sphäre der Werktätigen in den sozialistischen Betrieben darzustellen. Ergebnis dieser Debatten war im April 1959 eine Konferenz von 500 Kulturschaffenden, Arbeitern und Funktionären im Kulturpalast des Chemischen Kombinates Bitterfeld. Dieser von Ulbricht ins Leben gerufene „Bitterfelder Weg“ sollte unter der Losung „Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalliteratur braucht dich!“, die Werktätigen ermutigen, ihre Geschichten selbst aufzuschreiben, der Weg vom lesenden zum schreibenden Arbeiter. Gleichzeitig sollten Künstler zu so etwas wie Praktika in die Betriebe gehen, um die Probleme vor Ort kennen zu lernen.

Aus heutiger Sicht erstaunlich viele Autoren ließen sich auf dieses Experiment ein. Das Thema Volk und Volkseigentum hatte eine gewisse Faszination. (Auch in der westdeutschen Linken.) Bei Carlfriedrich Claus las ich: „Der Prozess der Zersetzung des Besitzstrebens ist ein Prozess der Befreiung. Die aus der Teilung in Herrschende und Beherrschte resultierenden Zwänge vergehen.“ Das trieb mich sogar noch zwanzig Jahre später in die Betriebe, als sich schon kein Künstler mehr dafür interessierte.

1961 schrieb Heiner Müller „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“, in dem es um die Konflikte der Bodenreform und der Kollektivierung ging und das bald nach der Uraufführung abgesetzt wurde. Damals wurde Sarah Kirsch Mitglied einer LPG, und Christa Wolf zog mit ihrer Familie nach Halle, um im Waggon -Werk Ammendorf einige Monate in einer Brigade zuzubringen. Das Ergebnis war im Roman „Der geteilte Himmel“ nachzulesen. Darin trennen sich die Wege eines Liebespaares, weil er in den Westen geht.

Denn das Problem war, dass die Kumpel weniger zur Feder griffen als zum Koffer, um auszureisen. Sie hatten Gängelei und Mangelwirtschaft satt. Nach dem Mauerbau 1961 stabilisierte sich die ökonomische Lage; die Fluchtmöglichkeiten und die Störmanöver aus dem Westen waren geringer geworden, die Arbeitsproduktivität und die Wachstumsraten stiegen beträchtlich, so dass westliche Beobachter zu fragen begannen, ob das eigentliche Wirtschaftswunder nicht in der DDR stattfände.

Im Fach „Ökonomie des Sozialismus“ lernten wir im ersten Studienjahr nach einem Lehrbuch, das das „Neue Ökonomische System“ lobpries. Dies war ein unter dem im Alter überraschend reformfreudig gewordenen Walter Ulbricht entwickeltes Konzept, das die starre, zentralistische Planwirtschaft beweglicher und effektiver machen sollte. Es zielte auf eine Verbindung von Plan, ökonomischen Hebeln und Markt. Die Betriebe sollten erstmals Gewinn und Rentabilität ausweisen, realistische Industriepreise sollten Ergebnisse vergleichbar machen, und leistungsbezogener Lohn sollte die Werktätigen aus der Reserve locken. Betriebe und ihre Belegschaften würden also mehr Selbständigkeit bekommen, was natürlich auf einen Machtverlust der Zentrale hinausgelaufen wäre. Dies hätte zu grundlegenden Veränderungen des Gesellschaftssystems führen können, zu etwas, was später „dritter Weg“ genannt wurde – aber in solchen Kategorien dachten wir damals noch nicht.

Der Vordenker des Prager Frühling, Ota Sik, hatte einen wohlwollenden Kommentar zum NÖS geschrieben. Ich verstand nur: die wissenschaftlich-technische Revolution würde gemeistert und die Volkswirtschaft auf Weltniveau gebracht werden. Was ja auch nicht schlecht gewesen wäre. Unter Chruschtschow konnte ein solcher Ansatz gedeihen, nach dessen Sturz aber witterte Breschnew offenbar die Gefahr eines Verlustes an Kontrolle und damit eines schleichenden Abrutschens in die pure Marktwirtschaft. Er ging auf Ulbrichts Initiative für eine neue Wirtschaftspolitik des RGW (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) nicht ein. Obwohl, oder vielleicht gerade weil es auch in anderen sozialistischen Ländern solche Bestrebungen gab.

Ungarn führte am 1. Januar 1968 von einem Tag auf den anderen eine weitgehende Wirtschaftsreform ein, hin zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. Truppen des Warschauer Vertrages, also auch Ungarn, marschierten im gleichen Sommer in Prag ein, um dort einen möglichen Ausbruch aus dem sozialistischen Lager zu verhindern. War das der Preis, den der ungarische Parteichef Kadar zu zahlen hatte, um auch in den 70er Jahren unbehelligt seine Reformen durchziehen zu können? Ich war zu dieser Zeit Oberschülerin, und meine Stimmung ließe sich als aufgebrachte Verwirrung beschreiben.

Ulbricht gelang es zwar noch ein paar Jahre an Breschnew vorbeizuregieren, aber sein „NÖS“ hatte auch einheimische Gegner, allen voran Erich Honecker. So blieb sein System nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch inkonsequent: An der politischen Festsetzung der Preise wurde nicht gerüttelt, Mieten und Pachten blieben in all den Jahren auf dem Vorkriegsstand. Das führte zu immer größeren Disproportionen zwischen Bedarf und Angebot, zur Verschwendung von Material und Energie, zu einer Erosion der materiellen Basis.

Im zweiten Studienjahr, 1971, hatten wir plötzlich kein Lehrbuch mehr. Das Experiment NÖS war abrupt abgebrochen worden. Eine neue Theorie aber gab es noch nicht. Auch keine öffentliche Debatte über diese Vorgänge. Doch die Vorlesungen und Seminare mussten ja weitergehen. Und „Ökonomie des Sozialismus“ war ein Schwerpunktfach im Journalistik-Studium, weil sich das Volk ja für das Volkseigentum zu interessieren hatte. Die besten Sendeplätze und fast alle „Seiten drei“ der Zeitungen waren für Reportagen und Kommentare aus Betrieben und Genossenschaften reserviert. Das hätte nicht von vornherein uninteressant sein müssen. Wenn es nur wahrhaftig gewesen und nicht in reinen Erfolgsmeldungen und Lobhudelei erstarrt wäre. Kein Wunder also, dass die täglichen Berichte von Ernteschlachten und Sonderschichten zugunsten der Planerfüllung auf wenig Gegenliebe stießen. Das wollten wir eines Tages besser machen. Doch nun war uns erst mal die Theorie weggebrochen.

Wir erlebten Dozenten, die dem Spott der Studenten hilflos ausgeliefert waren. Am ehesten konnten noch diejenigen ihr Ansehen bewahren, die den Mut zu eigenen Erklärungen und Konzepten aufbrachten. Andere flüchteten nicht ohne Geschick in die Wirren der westlichen Volkswirtschaftslehre, die auch gerade im Umbruch stand. Seit den 20er Jahren hätten sich die Lehren des Briten John Maynard Keynes weitgehend durchgesetzt, hörten wir. Ein Assistent sonnte sich sogar in dem Umstand, dass Keynes nach der Oktober-Revolution die russische Ballerina Lydia Lopokova geheiratet hatte – als sei dies ein Beweis für die Herkunft seines für kapitalistische Verhältnisse sozialen Denkens und Empfindens. So lehnte er eine Laisser-faire Wirtschaft ab und befürwortete staatliche Eingriffe, um zum Beispiel die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Davon blieben auch die Franzosen nicht unbeeindruckt, die in den 60er Jahren die Planification einführten, oder die Japaner, deren MITI etwas Ähnliches war. Man begann damals von der Konvergenz der Systeme zu sprechen. Denn mehr Plan bedeutet natürlich mehr Verfügungsgewalt über die Ressourcen und damit ein Abzug von Macht aus der Wirtschaft, hin zur Regierung. Kein Wunder, so die Dozenten damals, dass inzwischen eine Gegenbewegung im Anmarsch sei, die Monetaristen der Chicago School unter Milton Friedman, die alles umstürzen wollten. Im Grunde ginge die Auseinandersetzung, dem Streit um das NÖS letztlich gar nicht so unähnlich, um die Rolle des Geldes und die Stimulierung von Interessen. Welcher Kräftepol steuert die Wirtschaft? Im Westen bleibt im Zweifelsfalle der Markt. Im Osten blieb im Zweifelsfalle der Zweifel.

So war ich sehr früh zu der Überzeugung gelangt, dass Wirtschaftslehre keine exakte Wissenschaft ist. Auf beiden Seiten nicht. Im Westen sagte man: Ökonomie besteht zur Hälfte aus Psychologie. Das mag zutreffen, wenn Kunden zum Kaufen überredet werden sollen. Ansonsten bin ich überzeugt: Ökonomie besteht zu zwei Dritteln aus Interessen und zu einem Drittel aus politischen Überzeugungen. Einer sagt Hüh, der andere Hot, und ein Gespann setzt sich durch. Je nach Auftrag des Kutschers und Laune der Gäule. Keine gültige Ampel, nirgends. Gesetze, wie das Wertgesetz, wirken nur über ihre Nichteinhaltung, wie schon Karl Marx bemerkte.

Dessen Lehre, die die „Furien des Privatinteresses“ geißelt, war allerdings gefühlsmäßig stark verinnerlicht. Die Existenz von Volkseigentum an sich galt unter allen, auch den Kritikern und Dissidenten, als eine notwendige Voraussetzung für Fortschritt. Daran ließ auch der wegen seines Buches Die Alternative verhaftete Rudolf Bahro keinen Zweifel, als er darin die Überwindung der realsozialistischen, organisierten Verantwortungslosigkeit durch eine Selbstverwaltung der gesamten Reproduktion forderte, in der die Aufhebung des Privateigentums die Versöhnung von Kultur und Natur bedeuten wird.

Formal war zwar bereits das Meiste Volkseigentum, faktisch aber agierte die SED als Eigentümer. Die Produzenten, die angeblich herrschende Klasse, hatte keine Verfügungsgewalt über die Art und Weise und Ziele der Produktion, die Betriebe keine eigenen Interessen. So konnte sich zu den Produktionsmitteln auch kein Eigentümerbewusstsein herausbilden.

Ich erinnere mich an einen Prisma-Beitrag, den ich drehte: Als Arbeiter eines Maschinenbau-Betriebes nach Schichtschluss an der Bushaltestelle standen, sahen sie aus einer Lagerhalle Rauchwolken aufsteigen. Zu diesem Zeitpunkt war das ausgebrochene Feuer noch klein; wenn sie sofort hingeeilt wären oder wenigsten die Feuerwehr alarmiert hätten, wäre der Schaden geringfügig gewesen. Doch sie verließen sich darauf, dass die nächste Schicht es schon bemerken und sich darum kümmern würde, und stiegen in die Busse. Das Feuer hatte Zeit sich auszubreiten und Materialien zu vernichten, die für die Arbeit der nächsten Wochen gebraucht wurden. Ich fragte mich damals, wie wohl „Arbeitnehmer“ in diesem Fall reagiert hätten.

Ein ganz anderes Engagement begegnete mir während der Dreharbeiten zu einem Beitrag über Betriebsferienheime. Die Gewerkschaftsleitung jedes mittleren oder größeren Betriebes verfügte über mindestens eins solcher Heime, vergab die Plätze und übergab Kollegen die Verantwortung für Erhalt und Ausbau der Anlagen. Hier, wo für jeden ein direkter Zusammenhang von Pflege und Nutzung spürbar wurde, stieß ich auf liebevoll ausgestattete Anwesen.

In der Redaktion diskutierten wir endlos, wie wohl ein in sich geschlossenes System ökonomischer Hebel aussehen müsste, in dem nicht ein Anreiz den anderen aufhob. Die Verstaatlichung der Produktion allein erwies sich jedenfalls nicht als hinreichende Voraussetzung für jenen „Befreiungsprozess der Arbeit“, in dem angeblich ohne äußeren Zwang, aus einem inneren Bedürfnis heraus, schöpferischer gearbeitet würde als im Kapitalismus, da die Produzenten nicht mehr der Produktionsmittel beraubt seien und erstmalig nicht für andere, sondern für sich selbst arbeiten würden. Belegt wurden solche Thesen gern mit den teilweise tatsächlich beeindruckenden Leistungen sowjetischer Technik, wie 1957 dem Sputnikstart, oder mit Mengenkennziffern. Erzeugte die Sowjetunion 1922 nur 0,4 Prozent der Stahlmenge, auf die es die USA brachte, so waren es 1975, trotz der Kriegsverluste, 133 Prozent. Ähnlich sahen die Zahlen der Erdölförderung und Zementproduktion aus.

Die RGW-Länder wiesen bis Anfang der 70er Jahre im Vergleich insgesamt deutlich höhere Zuwachsraten auf als die westlichen Industrieländer. Dies sei nur erwähnt, um nachvollziehbar zu machen, dass der Glaube an die Planwirtschaft kein ununterbrochener Selbstbetrug war, sondern für danach Hungrige auch Nahrung bot. Honecker hatte von Ulbricht 1971 eine fast schuldenfreie Wirtschaft übernommen, die aber den Wohnungsbau und die Konsumgüterproduktion vernachlässigt hatte. Die Gunst der Bevölkerung sollte nun durch großzügige Sozialleistungen und subventionierte Preise gewonnen werden. Dass sich die DDR damit übernehmen würde und so eine der Ursachen für den Untergang der sogenannten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt wurde, war damals noch nicht klar.

In dieser Zeit wurde der Realsozialismus vom Westen als wirtschaftliche und vor allem als soziale Herausforderung durchaus noch ernst genommen. „Der Widerstand gegen den Kommunismus bildete den Grundzug praktisch aller geopolitischen Strategien und Sozialpolitiken, die der Westen seit dem Zweiten Weltkrieg entworfen hat“, schrieb der gescheiterte US-Präsidentschaftskandidat Al Gore in seinem Buch „Wege zum Gleichgewicht“. Dies begann beim Konzept des Todrüstens und sei bis zur Unterstützung westeuropäischer Gewerkschaften durch die CIA gegangen.

Es zeigte sich auch an der Embargo-Politik, die bei Strafe verbot, Güter mit moderner Technik in die DDR oder die anderen sozialistischen Länder zu liefern. Was bedeutete, diese Länder von der lebenswichtigen internationalen Arbeitsteilung auf dem Gebiet der Hochtechnologie auszuschließen. Deshalb wurden 1969 die Dresdner Elektronik-Betriebe, der Rechenmaschinenbetrieb in Karl-Marx-Stadt und Neuansiedlungen in Riesa und Hoyerswerder zum Kombinat Robotron verschmolzen, in dem die gesamte Forschung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung zentralisiert wurde. Das ehrgeizige Ziel bestand darin, bis 1975 den Rückstand der DDR-Computerproduktion auszugleichen. Als dies trotz aller Anstrengung nicht gelang, sollte diesem wirtschaftspolitischen Schwerpunkt mit dem „Mikroelektronikbeschluss“ des ZK der SED von 1977 Nachdruck verliehen werden.

Die Großrechner R55 und R57 wurden in riesigen Mengen in die Sowjetunion exportiert, als Äquivalente für Öl- und Erdgaslieferungen. Die Mikrorechner K1510 und K1520 eroberten alle Bereichen der Volkswirtschaft, die meisten DDR-Bürger werden sich an Bankautomaten oder an Fahrkarten- und Auskunftsterminals erinnern. Das Kombinat Robotron war 1989 mit beinahe 70000 Beschäftigten das größte Industriekombinat der DDR. Dennoch konnte es beim Trend zum PC in keiner Weise mithalten.

Die Planwirtschaft war für die ökonomische Aufbauphase, für Strukturpolitik und Großvorhaben nicht ohne Vorteile. Der Übergang in anhaltend hochwertige Produktion hätte aber die eigenverantwortliche Wirtschaftstätigkeit der Betriebe bedurft, was durchzusetzen nicht gelang oder gelingen sollte. Denn dies betraf nicht einfach Meinungsverschiedenheiten über diese oder jene wirtschaftpolitische Maßnahme, sondern das Verständnis von Volkseigentum in seinem Kern. Die Eigentumsfrage, soweit eine Lehre, ist weder mit Verstaatlichung noch mit Privatisierung entschieden, sondern sie erweist ihren Charakter daran, ob der Umgang mit den Produktionsmitteln und der Natur demokratisch legitimiert ist.

Ermutigt durch die Perestroika Gorbatschows hat Mitte der 80er Jahre die Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED eine Linie eingeleitet, die wie eine abgewandelte Neubelebung des NÖS wirkte. Zusammen mit der Plankommission und dem Finanzministerium wurde ein Modell entwickelt, das die Selbständigkeit der Kombinate erhöhte, indem ihnen eine begrenzte Eigenverfügbarkeit über ihren Gewinn zugesprochen wurde. Diesen Weg probierte man immerhin in 16 großen Kombinaten aus, ohne dies großartig zu propagieren, auch ohne es geheim zu halten. Intern sprach man von einem Konzept für die „Nach-Honecker-Ära“. Dass diese Ära dann keinen Raum mehr für sozialistische Wirtschaftsexperimente lassen würde, damit hatte niemand gerechnet.

War die DDR am Ende bankrott? Wie misst man überhaupt den Bankrott einer Volkswirtschaft? Die Ökonomie war schwer angeschlagen, der Zuwachs an Nationaleinkommen ging zurück. Dennoch wurde seit Jahren mehr verbraucht als selbst produziert. Die Löhne wuchsen schneller als der Warenfonds, was zu einem besorgniserregenden Kaufkraftüberhang und zu einem Mangel an hochwertigen Gütern führte. Über die Hälfte der Ausrüstungen in der Industrie, im Bau- und Verkehrswesen und in der Landwirtschaft waren veraltet, das heißt nicht unbrauchbar, aber arbeitsintensiv. Arbeitshygienische Grenzwerte wurden oft überschritten und die Modernisierung des Gesundheitswesens vernachlässigt. Die Investitionen für Wissenschaft und Technik erhöhten sich zwar kontinuierlich, gleichzeitig sank aber ihre Effizienz, weil der Abstand zum Weltniveau zunahm. Das Dilemma war: Vom volkswirtschaftlichen Gewinn hätte mehr in die Modernisierung der Ökonomie reinvestiert werden müssen, aber das wäre auf Kosten des Lebensstandards gegangen.

Die Frage ist nur, ob dieses Krankheitsbild beim derzeit weltweiten Wirtschaftssiechtum so singulär war, wie all die Exitus-Diagnosen behaupteten. So ist ein Pleitebild entworfen worden, nach dem man schließen musste, dass praktisch überhaupt nicht mehr akkumuliert werden konnte. Im Jahr der Wende kaufte der Staat aber Anlagen im Wert von 93,6 Milliarden DDR-Mark. 1989 wurden pro Erwerbstätigen in der DDR 10540 Mark investiert, in der Bundesrepublik 16217 DM. Auch wenn dieser Vergleich wegen des unterschiedlichen Preisniveaus nur bedingt aussagefähig ist, fällt es schwer, zwischen beiden Größen die Trennlinie zwischen Wohlstand und Armut, zwischen Wachstum und Ruin auszumachen.

Die Behauptung, die DDR stünde unter den Industrieländern an 10. Stelle, war ja keine eigene Erfindung, sondern ging auf Schätzungen westlicher Banken zurück und wurde von der einheimischen Propaganda überrascht, aber erfreut aufgenommen. Streng vertrauliche Berechnungen der Zentralverwaltung für Statistik der DDR hatten im Sommer 1989 ermittelt, dass die DDR, gemessen am Volumen der Industrieproduktion, in der Welt den 15. bis 17. Platz einnahm. Beim Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung kam ein 14. bis 16. Platz heraus.

Nach der Übernahme und Prüfung sämtlicher Daten durch das Bundesamt für Statistik haben sich diese Angaben in etwa bestätigt. Der Abteilungspräsident „Deutsche Einheit“, Oswald Angermann, hat mir damals im Gespräch erklärt, dass er im nachhinein eine akute Kollaps-Situation nicht erkennen konnte: „Bei einem geschützten Binnenmarkt und eigener Währung hätte die DDR noch 20 Jahre so weiterwursteln können.“

Zu spät. Die historische Chance, die Kombination von Volkseigentum und Demokratie zu erproben, war erst von ost-, dann von westdeutscher Seite verhindert worden. Die feindliche Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen verstieß gegen jede ökonomische Vernunft und gab so dem geschwächten Corpus den Rest – aber das ist eine andere Geschichte. Das Ende dieser Gesellschaft war ein politisches Ende. Die DDR ist gescheitert mitsamt ihrer Wirtschaft und könnte demnach zu den Akten gelegt werden. Wenn nicht die Unruhe bliebe, ob denn der eingangs erwähnte „Witz der Sache“ von mir und allen Beteiligten und Nichtbeteiligten hinlänglich verstanden wurde.

Deshalb zieht es mich am Ende dieser Betrachtung noch einmal zurück zur ersten und in gewisser Weise letzten Kurskorrektur durch die Werktätigen – den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. Was alle Historiker verdrängen: Die Bauarbeiter Westberlins haben von April bis Anfang Juni 1953 anhaltend für höhere Löhne gestreikt. Ich habe darüber unlängst gelesen – in der Berliner Zeitung von damals, die mehrfach ausführlich davon berichtete. Naheliegend, dass der Unmut auf der Karl-Marx-Alle vom Unmut auf dem Kuhdamm zusätzlich angestachelt wurde. Aber warum schlossen sich die Kollegen im Osten den westlichen Forderungen nicht einfach an? Warum wurde nicht auch hier, wie bei Streiks üblich, für mehr Geld, sondern für weniger Arbeit gekämpft?

Man könnte einwänden, dies laufe auf das selbe hinaus., Aber warum hat man sich dann nicht dazu bekannt? Die Arbeiter hätten allen Grund gehabt zu argumentieren: Zugegeben, zwei Drittel der in der DDR geltenden Normen sind technisch nicht begründet, auch unsere nicht. Wenn ihr jetzt im Bauwesen die Norm pauschal um zehn Prozent erhöht, dann wollen wir auch entsprechend mehr Geld. Aber genau das taten sie nicht. Sie forderten die Rücknahme der über ihre Köpfe hinweg beschlossenen Normerhöhung.

Der Hamburger Soziologe Thomas Roethe sieht den „Witz der Sache“ nach dem 17. Juni in einem „uneingestandenen Gesellschaftsvertrag“ zwischen Arbeiterschaft und SED-Führung: „Wir, die Arbeiter und Bauern, erklären, die Macht der Partei nicht mehr herauszufordern. Wir werden loyal sein, wenn ihr uns dafür zusichert, uns zu versorgen und von der Arbeitsfron zu befreien.“ Von Fron befreien – sollte sich hier schon sehr früh ein neues Verständnis von Freiheit manifestiert haben?

Tatsächlich unterblieb die administrative Durchsetzung des Leistungsprinzips seither, die Führung der DDR hat sich nie wieder ernsthaft mit den Brigaden anlegen wollen, selbst dann nicht, wenn der Kampf um Effizienz dies eigentlich erfordert hätte. Das mag für westliche Beobachter überraschend sein – die Diktatur hatte nicht die Kraft, jenseits von Ideologie bis ganz unten zu greifen.

Die Hauptabteilung XVIII der Stasi war für die Sicherheit der Volkswirtschaft verantwortlich – sie hat übrigens den umfangreichsten Archivbestand aller Hauptverwaltungen des MfS hinterlassen. Aber auch sie sah sich nicht in der Lage, die Arbeitsdisziplin zu kontrollieren oder gar Verstöße zu ahnden. Wenn die Mitarbeiter jener Abteilung nach Havarien oder zur deren Vorbeugung in einem Betrieb waren, klangen sie anschließend oft resigniert. Ein Beispiel aus den Archivbeständen der MfS-Bezirksverwaltung Cottbus, aus einem Bericht über Erschließungsbohrungen in einem Lausitzer Braunkohletagebau vom Januar 1988:

„Bereits mit Beginn der Frühschichten entstehen aufgrund einer angeblich existierenden Arbeitsschutzanweisung, nach welcher erst mit Eintreten der Morgendämmerung in der Entwässerung gearbeitet werden dürfte, bis zu zwei Stunden Arbeitszeitverluste. Die dadurch entstandene Wartezeit von Schichtbeginn 6 Uhr bis 8 Uhr verbrachte ein Teil von Werktätigen des Bereiches in Kantinen und Aufenthaltsräumen frühstückend, schlafend oder kartenspielend.“

Das ging also seinen sozialistischen Gang – ich gestehe, dafür immer noch Verständnis zu haben. Ist Schichtarbeit nicht überhaupt ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert? Warum müssen sich Menschen an dunklen, eisigen Januarmorgen in Wassergräben zu schaffen machen? So etwas denken sich Leute aus, die sicher sein können, es selbst nie tun zu müssen. Inkonsequent daran erscheint mir nur, die Kumpels dennoch aus dem Bett getrieben und nicht gleich erst um 8 Uhr bestellt zu haben.

Man könnte Schlendrian als Ursache für den Niedergang verdammen und hätte Recht. Man könnte ihn auch als pragmatisch durchgesetzte Humanisierung der Arbeitswelt akzeptieren und hätte ebenfalls Recht. Der westdeutsche Soziologe Lutz Niethammer, der in der DDR Arbeiter befragt hatte, kam zu dem Schluss, dass es neben der herrschenden Oberschicht aus Partei- und Betriebsfunktionären der SED und der anderen Blockparteien auch „die andere herrschende Klasse“ gab, die Industriearbeiter. „Und vor nichts – vielleicht mit Ausnahme sowjetischer Direktiven – hatte die Führungsschicht der SED soviel Respekt, um nicht zu sagen Angst, wie vor ihr. An der Werkbank herrschte die größte Freiheit der DDR (vielmehr als z.B. bei den Intellektuellen und Kulturschaffenden).“

Seit dem 17 Juni war eine offene Konfrontation mit Arbeitern zum Trauma geworden und eine Wiederholung konnte auch deshalb vermieden werden, weil sich die Führung als Repräsentanten der Arbeiterschaft verstand. Trotz des alltäglichen Gemeckers und Genörgels über Mängel und Versorgungslücken und des diesbezüglich sehnsuchtsvollen Westblicks konnte bei der Mehrheit der Arbeiter von einer grundsätzlichen Oppositionshaltung keine Rede sein.

Der Wechsel von hektischen Überstunden oder zusätzlicher Wochenendarbeit zu lästigen Stillstandszeiten wurde zwar ständig beklagt, aber für die unkontinuierliche Materialversorgung machten die Brigaden nach meiner Erfahrung nicht die Planwirtschaft an sich, sondern Schlamperei und Unfähigkeit der Leiter verantwortlich. Sie versicherten ihre Bereitschaft, ihr Letztes zu geben, wenn nur die Voraussetzungen dafür geschaffen würden. Doch der chronische Mangel wurde immer nur vorübergehend beseitigt. Er führte zu schlechter Qualität und damit letztlich zu Vergeudung. Dies war wohl der eigentliche Grund für den zunehmenden Verfall des Leistungswillens in den 70er und 80er Jahren.

Außerdem hätte nach sozialistischer Logik die eigene Arbeitsintensität gar nicht so hoch sein dürfen, wie die, die als Folge unerbittlicher kapitalistischer Konkurrenz, Ausbeutung, Selbstausbeutung, egoistischem Gewinnstreben und Angst vor Konkurs und Arbeitslosigkeit als unzumutbar angeprangert wurde. Diese Logik wurde begünstigt durch die Erfahrung, dass die finanzielle Verantwortung für das Produktionsergebnis der Staat übernahm, also weder vom Betrieb noch von dessen Belegschaft zu tragen war. Ein sozialistischer Bankrott wurde solange für Tabu erklärt, bis der ganz große kam.

„Eine sanktionsschwache Wirtschaft funktioniert nicht“, behauptet Christian von Weizsäcker und rechtfertigt die starken „Disziplinierungsinstrumente der Marktwirtschaft“ – also feindliche Übernahme, Konkurs, Entlassung – mit der Belohnung, die der „vergleichsweise sanktionsschwache Raum“ des Politischen bietet: die Freiheit der Meinung, der Presse, der Versammlung und Koalition. Da die Planwirtschaft über so gut wie keine disziplinierenden Sanktionen verfüge, wäre ihre Demokratisierung zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn damit wären dem Staat seine Disziplinierungsinstrumente, die ideologischen Sanktionen, aus der Hand genommen worden, die er bedurfte, um das System funktionsfähig zu halten.

Vielleicht stimmt das. „Das Maß der Unterdrückung ist gleich“, las ich unlängst auf einem Transparent der neuerlichen Berliner Montagsdemo. Tröstlich ist das nicht. Die Qualität eines dritten Weges wird auch daran zu messen sein, inwiefern es den Menschen gelingt, sich von dem Anpassungsdruck in Politik und Wirtschaft zu emanzipieren.

Denn das, was der Kapitalismus am besten kann, wird in absehbarer Zeit nicht mehr gebraucht werden: die Steigerung von Effektivität. Die moderne Technik hat soviel Zeit eingespart, dass sie nun im Überfluss da ist. Geronnen im wachsenden Heer der Arbeitslosen. Ihre Zeit ist kein Geld. Sie kostet Geld. Es ist soviel brachliegende Zeit organisiert worden, dass Zeit eigentlich nichts Kostbares mehr ist. Insofern wird es keinen Sinn mehr machen, den Wert einer Ware an verausgabter Arbeitszeit zu messen. Das wird das Ende der herkömmlichen Wirtschaftstruktur sein.

Bis dahin aber wird der Kapitalismus unter den Augen von Milliarden Arbeitslosen nicht ruhen, bis auch der letzte Feldrain, hinten weit in der Mongolei, von einer langarmigen Höllenmaschine gemäht wird.

Betrachtet man es mit wohlwollender Nachsicht, so ist die Legende vom „faulen Ossi“ in ihrem rationalen Kern eher als ein Stück moderner Emanzipationsgeschichte zu begreifen, deren Rückabwicklung unabsehbare Konsequenzen haben könnte.