Geschichtsschreibung ist bekanntlich die Summe der Lügen, auf die sich die Mehrheit einigt. In Ost und West hatte man sich mehrheitlich darauf geeinigt, das Elend der Flüchtlinge weitgehend auszublenden. In meiner Kindheit waren bildhafte Schilderungen von der Flucht dennoch präsent, denn die Familie meiner Mutter stammte aus Breslau. Sie verlor dort all das, was die Existenz ausmachte, auch ein vierstöckiges Geschäftshaus mit Renaissancefassade in bester Lage am Ring.
Inzwischen sind die einst Redeunwilligen aus mancherlei Gründen offensiver geworden. Ein Zentrum gegen Vertreibung benennt allerdings schon im Titel das falsche Objekt der An-klage. Genauso gut könnte man ein Zentrum gegen Gebietsannexionen befürworten, eins ge-gen gefallene Soldaten, gegen Massaker an Zivilisten, gegen Bombenopfer und Ruinen, eins gegen Zwangsarbeit und Gefangenenlager, gegen Hunger und Typhus, ein Zentrum gegen Vergewaltigung, gegen Verrohung der Sitten, gegen Vergeltung und Strafe der Sieger.
All dies hat mehr Todesopfer gekostet als Flucht und Vertreibung. All dies sind im letz-ten Jahrhundert immer die fatalen Folgen von Kriegen gewesen, je schrecklicher der Krieg, je fataler. Verurteilt man aber die Folge und nicht die Ursache, so greift man zu kurz, ja weckt Illusionen. Man suggeriert, nach Angriffskriegen könnten deren unvermeidliche Folgen ver-mieden werden. In dem Fall die Vertreibung der mehrheitlich kriegswilligen deutschen Be-völkerung.
In einem Memorandum der tschechischen Exilregierung vom November 1944 hieß es: „Nach den Erfahrungen der beispiellosen Akte der Barbarei, die von den Deutschen während des gegenwärtigen Krieges am tschechoslowakischen Volk begangen wurden, ist es unvor-stellbar geworden, daß in bezug auf die deutsche Minderheit der jetzige Zustand beibehalten wird“, statt dessen ist von einer „radikalen Reduzierung“ durch „Transfers“ die Rede. Einen Monat später hat Churchill in seiner Rede „Über Polen“ den Vorschlag erweitert: „Völlige Vertreibung der Deutschen – aus den Gebieten, die Polen im Westen und Norden gewinnt. Denn die Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel.“ So sollten „endlose Unannehmlichkeiten“ vermieden werden. Und Präsident Truman fügte in der New York Herald Tribune am 10. August 1945 hinzu: „Das neue Gebiet im Westen wird Polen in die Lage versetzen, seine Bevölkerung besser zu ver-sorgen.“
Umgekehrt kam die Verkleinerung Deutschlands der wenige Tage zuvor im Potsdamer Abkommen festgelegten Reduzierung der „bestehenden übermäßigen Konzentration der Wirtschaftskraft“ entgegen: „… das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden.“ Reparationen und die Entflechtung von Monopolen gehör-ten zu den „Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nach-barn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann“.
Obwohl es heftig bestritten wird, kritisiert man mit dem Slogan „gegen Vertreibung“ rückwirkend eben doch, was die Alliierten und mit ihnen andere Staaten für richtig hielten. Wer bedingungslos kapituliert, sollte nach einem halben Jahrhundert nicht anfangen, Bedin-gungen zu stellen.
Selbst wenn die Alliierten in einem wichtigen Punkt irrten: Eine „Überführung der deutschen Bevölkerung“ „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“, wie es im Potsdamer Abkommen vorgesehen ist, war von den traumatisierten Osteuropäern nicht zu erwarten. Die Vorstellung, nach dem mitleidlosen Verhalten der Nationalsozialisten, nach der Ungeheuer-lichkeit der Polengesetze, hätte mit dem Tag der Kapitulation nachsichtige Milde und Rechts-staatlichkeit walten können, ist lebensfremd. Sie setzt nicht nur übermenschliche Versöh-nungsbereitschaft voraus, sondern verkennt, daß die schmachvollste Kriegsverletzung, die man dem Gegner antut, dessen anhaltende Demoralisierung ist. Es gibt kein Volk von Heili-gen.
In überaus weiser Voraussicht hat Camus gewarnt: „Wer lange verfolgt wird, wird schuldig“. Die Wehrmacht und SS, all die Nazibediensteten, haben die Polen, die Russen, die Tschechen und andere Europäer solange verfolgt, bis deren Rachebedürfnis einen Teil von ihnen schuldig gemacht hat. Deutsche Forderungen nach Entschuldigung halte ich deshalb für unangemessen. Präsident Havel hat sich dennoch für die Exzesse entschuldigt, nicht für die Aussiedlungen an sich. Und der Germanist Frantisek Cerný, nach der Wende zehn Jahre be-liebter tschechischer Botschafter in der Bundesrepublik, sagt heute: „Ich glaube, daß es ei-gentlich keine andere Lösung gab. Oder man hätte warten müssen, bis dieser Haß, das emoti-onale Feindbild abgebaut ist. Aber: Wie hätten die Deutschen dann hier leben sollen? Sie wa-ren damals Parias, für lange Zeit und nicht nur bei uns.“
Als Nachgeborene, die ich mich für die damaligen Ereignisse nicht verantwortlich, aber zuständig fühle, empfinde ich für mich keine andere Option, als dieses Urteil in Demut zu akzeptieren. Genauso wie ich akzeptiere, daß man über das unermeßliche Leid vieler Vertrie-bener öffentlich reden dürfen muß. Dies geschieht seit Jahren und wird weiter geschehen in Verbänden, in der Literatur, in Filmen, in Medien, an Universitäten wie der Viadrina in Frankfurt Oder oder dem Willy-Brandt-Zentrum an der Universität in Wroclaw, im Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gliwice (Gleiwitz) oder der Gedenkstätte für den Kreisauer Kreis im heutigen Krzyzowa. Wenn all das als ungenügend empfunden wird, ist sicher auch ein weiterer Ort des Gedenkens und der Mahnung legitim.
Ein Zentrum gegen Vertreibung aber nimmt dem Vorgang von Anfang an seine Recht-mäßigkeit. Zumal die Verquickung von Recht und Politik bis heute keine absolute Ächtung von Aussiedlungen für nötig befunden hat. Im 1998 in Rom verabschiedeten Statut des Inter-nationalen Strafgerichtshofes werden nur solche gewaltsamen Vertreibungen als Kriegs-verbrechen gebrandmarkt, die ungesetzlich sind. Für die Zukunft folgt daraus für mich nicht das Unrealistische: Vertreibungen nach Kriegen sind zu verbieten. Sondern: Völker, die nicht vertrieben werden wollen, müssen ihren Regierungen in den Arm fallen, wenn diese kriegs-lüstern sind.