Von allen Seiten Nebelkerzen – Ukraine-Berichterstattung

Ukraine-Bilanz Die Berichterstattung über die Ukraine zeigt, wie sich in dem Konflikt viele Medien von westlicher Außenpolitik vereinnahmen lassen

 

Kiew: Monument aus Sowjetzeiten, gewidmet der russisch-ukrainischen Freundschaft Foto: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images
Kiew: Monument aus Sowjetzeiten, gewidmet der russisch-ukrainischen Freundschaft
Foto: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images

Die schon von Günter Gaus beschriebene Kluft zwischen der veröffentlichten Meinung und der nichtveröffentlichten der Menschen „draußen im Lande“ war wohl nie so groß wie angesichts der Deutungsangebote der Leitmedien zur Ukraine. In ausnahmslos allen Chats der Rundfunkanstalten und großen Zeitungen empörten sich die Zuschauer und Leser über unbewiesene Behauptungen, nicht gestellte Fragen, Falschmeldungen und sprachliche Aufrüstung. Sie unternahmen Faktenchecks und zeigten sich nicht selten besser informiert als die Journalisten. Journalismus-Forscher bestätigen in der Tat, dass sich die Sicht vieler Artikel „erstaunlich oft mit der Sicht des Eliten-Milieus“ deckt. Vermutlich würden Informationen und Haltungen in die Texte eintröpfeln, die „machtelitär kontaminiert“ sind.

Nach Wochen des massenhaften „Aufstandes“ der Gebührenzahler wurde es manchen Medien zu bunt, sie schlossen auf ihren Online-Seiten vorerst die Kommentarfunktion zum Krieg in der Ukraine. So die FAZ oder heute.de. Auch tagesschau.de ist oft „überlastet“, weshalb bestimmte Meldungen nicht mehr kommentiert werden können. Die Leser diskutierten in anderen Foren weiter – in einem aufschlussreichen Blog auf freitag.de liest man: „Es ist nämlich nicht die von Mittelstufenschülern durchschaubare Einseitigkeit der ‚journalistischen‘ Perspektive, die auf Mainstream-Seiten noch meinungsbildend ist – es sind die Kommentare.“

Zur Ehre der Zunft sei gesagt, dass sich auch einige Journalisten beschwert haben. Der Fernsehredakteur und ver.di-Gewerkschafter Volker Bräutigam hat an die ARD-Sendeleitung eine „Beschwerde über desinformierende Ukraine-Berichterstattung“ und Verletzung des Rundfunkgesetzes geschickt. Meines Wissens, ohne eine Antwort zu bekommen.

Im Stern hat Julian Nida-Rümelin beklagt, dass „die deutschen Medien auffallend wenig Resistenz gegen eine Ideologisierung der Außenpolitik des Westens“ haben. Es fehle die kritische Distanz gegenüber NATO- und CIA-gesteuerten Informationen. Er spricht von doppelten Standards, gar von „Kriegspropaganda“.

Geistige Selbstverteidigung

Wohl einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik ist, dass angesichts der massenhaften Empörung der Leser und Zuschauer auch mehrere Kontrollorgane in die Kritik einstimmten. Der Deutsche Presserat, dieses Selbstkontrollorgan der großen Verleger und Journalistenverbände in ver.di, missbilligte für ihre Ukraine-Berichterstattung Spiegel und Bild. Eine entlarvende Nähe für den Spiegel, das einstige „Sturmgeschütz der Demokratie“. Kritische Hinweise gingen auch an Stern und Bunte. (Es gehört übrigens zu den Möglichkeiten der geistigen Selbstverteidigung jedes Bürgers, auf der Website des Presserates Beschwerde einzulegen, wenn seiner Ansicht nach in konkreten Fällen Fehlinformationen oder Einseitigkeiten die Pressefreiheit oder das Ansehen der Presse gefährden.)

Ohne Beispiel ist auch die Kritik des ARD-Programmbeirates, dem Mitglieder der Landesrundfunkanstalten angehören. Unter Vorsitz des bayrischen Rechtsanwaltes Paul Siebertz erfuhren fast alle Sendungen eine vernichtende Kritik: Die Berichterstattung sei „einseitig zu Lasten Russlands“ gerichtet gewesen, gefehlt hätten differenzierte Berichte über das EU-Assoziierungsabkommen und die „politischen und strategischen Absichten der NATO“. Ebenso habe es an Informationen über die Legitimation des „so genannten Maidanrats“ gemangelt und dessen Rolle beim Scheitern einer friedlichen Lösung. Die „Verfassungs- und Demokratiekonformität“ der Absetzung Viktor Janukowitschs sowie die Rolle der rechtsradikalen Kräfte bei dessen Sturz seien nicht oder nicht hinreichend Gegenstand der Berichterstattung gewesen. Außerdem hätten „belastbare Belege für eine Infiltration durch russische Armeeangehörige“ gefehlt. Normalerweise hätten wir von diesen ungeheuren Vorwürfen nichts erfahren, denn der Beirat unterliegt laut Gesetz der Schweigepflicht. Aber das Protokoll der Sitzung wurde auf der Plattform Telepolis geleakt. Auch eine Form geistiger Selbstverteidigung.

Selbstverteidigt hat sich am 29. September 2014 auf blog.tagesschau.de dann auch Chefredakteur Kai Gniffke. Er widersprach „ganz energisch den Vorwürfen einer gezielten Desinformation“ und sah „keinen Grund, sich für Fehler zu entschuldigen“. Vielleicht hätte man manchen Akzent anders setzen können. „Möglicherweise sind wir zu leicht dem Nachrichten-Mainstream gefolgt.“ Vielleicht … eventuell … andere Formulierungen. „Dieser Beitrag kommuniziert exakt die Selbstwahrnehmung von ARD-aktuell“, heißt es in einem der wiederum vielen kritischen Kommentare. Offenbar hat man immer noch nicht verstanden, dass man sich als Journalist nicht auf eine Seite von Konfliktparteien schlagen darf. Mein Vorschlag für weitere Analysen: Wie viele Minuten O-Töne waren beiden Seiten vergönnt? Nicht verstanden hat man, dass Journalisten Fehler und Mängel in Sendebeiträgen korrigieren sollten.

Die Einseitigkeit setzt sich bei den neuen Krisen fort. Wenn Obama behauptet, der Islamische Staat verstehe nur die Sprache der Gewalt, gibt es niemanden, der nachdrücklich fragt, ob je eine andere Sprache versucht wurde. Oder ob Gewalt nicht immer wieder mehr Terrorismus schafft als abschafft. Oder gar, woher der wahrlich extreme Hass auf den Westen kommt.

Auch über die 2017 erstmalig in Hongkong anstehenden Wahlen würde man gern mehr erfahren. 150 Jahre lang wurde der Gouverneur der Stadt in London bestimmt. Nun maßt sich Peking an, kontrollieren zu wollen, ob der künftige Kandidat die Stabilität der Stadt im Sinne Pekings garantieren wird oder auf erneute Separation setzt. Das empört die protestierenden Studenten nachvollziehbarerweise. Aber welches Wahlgesetz schlagen sie vor? Im Westen werden Kandidaten von winzigen Minderheiten der Parteieliten aufgestellt. In China gibt es nur eine Partei. Geht es also um die Einführung des westlichen Mehrparteiensystems in diesem Riesenreich? Dann sollten die Journalisten es doch sagen. Allein, dass von „Regenschirmbewegung“ die Rede ist, erinnert an die Otpor-Strategie, durch einen von außen beeinflussten regime change nicht-westliche durch westliche Systeme zu ersetzen.

In Informationskriegen werden von Anfang an von allen Seiten Nebelkerzen zur Kaschierung geostrategischer Interessen geworfen. Zur Mündigkeit gehört, sich wenigstens von den Desinformationen der eigenen Seite zu emanzipieren. Zu denen, die sich Kritik nicht verbieten lassen, gehört der US-Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer von der Universität Chicago. Er ist bekannt für seine Forschungen über Lügen in der Politik. Die Verantwortung für den Ukraine-Krieg sieht er bei den USA und ihren europäischen Verbündeten, die mit Geld und Manipulationen versucht haben, die Ukraine in ein NATO-Bollwerk an den Grenzen Russlands zu verwandeln. Mit Recht spreche Putin von einem „illegalen Putsch gegen den demokratisch gewählten ukrainischen Präsidenten“, nur weil er prorussische Positionen vertreten habe. Nun, da die Konsequenzen offenbar seien, wäre es ein noch größerer Fehler, diese ekelhafte („misbegotten“) Politik fortzusetzen.

Kein Vertrauen zur NATO

In einem äußerst ungewöhnlichen offenen Brief haben einstige führende CIA-Mitarbeiter Kanzlerin Merkel am 2. September 2014 empfohlen, misstrauisch zu sein gegenüber den unbewiesenen Behauptungen des US-Außenministeriums und der NATO, es gäbe eine Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Die nichtssagenden, verschwommenen Fotos würden fatal an jene erinnern, die Colin Powell 2003 als Beweis für Massenvernichtungswaffen im Irak präsentiert hatte. In einem Interview ergänzte einer der Unterzeichner, der frühere CIA-Offizier und Russland-Spezialist Ray McGovern, dass es vor dem „vom Westen gesponserten Staatsstreich gegen die verfassungsmäßige gewählte Regierung in Kiew“ keinerlei geheimdienstliche Hinweise gegeben habe, „dass Putin und seine Genossen je daran dachten, die Krim aufzunehmen“. Mit dem Putsch beginne „die jüngste Geschichte und nicht mit der Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation“.

Die Abtrennung der Krim war ein Verstoß gegen die ukrainische Verfassung. An die Russland aber nicht gebunden ist. Dass der Ukrainer Nikita S. Chruschtschow als KPdSU-Chef 1954 der Ukraine die Krim geschenkt hat, war in der sowjetischen Verfassung seinerzeit auch nicht vorgesehen. Wie viel Rückabwicklung von Geschichte ist legitim? Dass Russland die Krim annektiert habe, sei Propaganda – so der Völkerrechtler Reinhard Merkel in der FAZ: „Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus.“ Russland habe die Krim angenommen, nicht weggenommen. Man mag das als Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts bezeichnen.

Der Westen verkörpert die Moderne: Man will keine Territorien, sondern Märkte und Einfluss. Auf der Berliner Mauer prangte 1990 ein Graffito: „Das Kapital ist schlauer, Geld ist die Mauer.“ Man gibt Kredite mit Auflagen, zurück bleiben Konzerne mit Gewinngarantie. Man verteidigt seine Sicherheit in aller Welt, man begreift seine Souveränität als Schutzverantwortung für strategisch und wirtschaftlich interessante Gebiete, zurück bleiben Protektorate, Geheimdienst- und Militärstützpunkte. Allein die USA haben 1.000 solche Stützpunkte auf der ganzen Welt. Der Neokolonialismus braucht keine Territorien. Bezahlte Statthalter genügen.

Im Aufsichtsrat des ukrainischen Gasproduzenten Burisma sitzt kein einziger Ukrainer mehr. Cheflobbyist ist indessen Hunter Biden, Sohn von US-Vizepräsident Joe Biden. Damit haben die USA mehr als einen Fuß in der für den Westen nunmehr offenen Tür zur Ukraine. 49 Prozent des einträglichen ukrainischen Gastransportsystems gehören inzwischen den USA und der EU.

Diese Methoden zu schildern, heißt nicht: Seht, seht, der Westen ist auch nicht besser. Das wäre wenig tröstlich. Angesichts der schwer erträglichen Einseitigkeit unserer Großmedien ist es allerdings unerlässlich, auf Gegenargumente zu verweisen und sich so ein differenziertes Bild zu bewahren.