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„Zu jüdisch für die Nazis, zu bürgerlich für die DDR, zu links für die BRD“

Daniela Dahn

Warum die Gründerin der DDR-Modezeitschrift Sibylle ihr Leben lang nach einer Heimat gesucht hat. Tochter Daniela Dahn und Enkelin Laura Laabs erinnern sich  Berliner Zeitung – 24. April 2021

 

UN-Verbot von Atomwaffen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag – 28. Januar 2021

Im Wahljahr sollten sich auch die Parteien zur Ächtung bekennen

Seit dem 22. Januar sind Kernwaffen endlich völkerrechtlich geächtet, genau wie Chemie- und Bio-Waffen. Maßgeblich beteiligt an dem Erfolg war die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der Vertrag hat einen vorhersehbaren Haken – kein Atomwaffenstaat hat ihn unterzeichnet, aus freiem Willen seine Machtposition geräumt. Anfangs war das EU-Parlament wacker, alle Fraktionen forderten die EU-Staaten dazu auf, die UN-Vertragsverhandlungen aktiv zu unterstützen. Doch dann traf am 17. Oktober 2016 bei der NATO in Brüssel eine ultimative Depesche der Obama-Regierung ein, die alle Mitglieder eindringlich davor warnte, an Verhandlungen auch nur teilzunehmen. Wie in einem Protektorat üblich, haben alle Angesprochenen sofort gekuscht und ihre ursprünglichen Absichten nie wieder erwähnt. Nur die Niederlande nahm als Beobachter teil, um dann gegen den Vertrag zu stimmen. So war der frühe, geschlossene Boykott der NATO-Staaten den übrigen Atommächten willkommener Vorwand, keine einseitigen Entgegenkommen zu erwägen.
Deutschland als Anstifter zweier Weltkriege, käme eine besondere Verantwortung als Friedensstifter zu. Frieden ist absurderweise beinahe ein zu kleines Wort. Es geht um das Überleben der Menschheit. Die Arten sterben schon, das Klima beginnt zu kollabieren und die Demokratie auch. Eine Pandemie unterwirft alle, aber vertieft die Spaltung in Privilegierte und Benachteiligte. Unter solchen Voraussetzungen sollten Politiker mit gebotener Rationalität in der Lage sein, nicht auch noch mit atomarer Auslöschung zu drohen. Denn das Argument der funktionierenden Abschreckung übersieht willentlich die enormen Risiken von Versagen menschlicher und technischer Intelligenz. Stattdessen will die Bundesregierung auf „nukleare Teilhabe“ nicht verzichten und plant für geschätzte zwölf Milliarden US-Dollar 45 lasergelenkte F-18-Kampfjets anzuschaffen, mit denen unter US-Kommando die Bundesluftwaffe deren A-Bomben ins feindliche Ziel bringt. Trainiert wird das in jedem Herbst. Als im Oktober der zweite Lockdown unvorbereitet anlief, als etwa die normalerweise funktionierenden Online-Lieferdienste der Lebensmittel-Ketten restlos überfordert waren (und bis heute sind), alte, gefährdete Menschen zu Hause zu beliefern, da wäre der sofortige zivile Einsatz von Soldaten geboten gewesen. Aber die waren bei den Manövern „Resilient Guard“ in Nörvenich, südlich von Köln, und „Steadfast Noon“ in Büchel, wo unter größter Geheimhaltung der Einsatz von Atom- bomben gegen Russland geprobt wurde. Auf parlamentarische Anfrage lehnte die Regierung Auskünfte dazu ab, da solche Informationen „in besonders hohem Maße das Staatswohl berühren“ und daher nicht gegeben werden können.
Auf keinem Gebiet ist die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Regierung so abgrundtief, wie in der Frage des friedenspolitischen Staatswohls. Nach einer von Greenpeace initiierten Umfrage sind 92 Prozent der Bundesbürger dafür, dass Deutschland das Atomwaffenverbot unterzeichnet. Allein hundert deutsche Städte haben sich dem ICAN-Städteappell angeschlossen, auf Atomwaffen zu verzichten. Wen repräsentieren unsere Repräsentanten? Die völkerrechtliche Ächtung muss im Wahljahr ergänzt werden durch eine bürgerrechtliche Ächtung aller Parteien, die sich in ihren Programmen nicht unmissverständlich zum UN-Verbotsvertrag bekennen.

Heinrich Fink zum Gedenken

Daniela Dahn

erschienen in Ossietzky 14/20

Der Theologe Heinrich Fink war mir in der DDR aufgefallen als einer, den das Thema Faschismus, insbesondere die Judenverfolgung, nicht losließ. So als ich 1968 das von ihm herausgegebene, sehr bewegende Buch „Stärker als die Angst. Den sechs Millionen, die keinen Retter fanden“ las. Wenig später engagierte er sich zusammen mit Bremer Pastoren in der „Lidice-Initiative“, in der es um die Anerkennung deutscher Schuld als Voraussetzung für ehrlich gemeinte Annäherung ging.

Die eigene Biografie hatte ihn gelehrt, was es heißt, als Individuum in die Geschichte geworfen zu sein. 1935 als Sohn eines Bauern im bessarabischen Korntal geboren, wurden die deutschen Siedler von den Nazis über entbehrungsreiche Flucht erst nach Polen, dann „Heim ins Reich“ beordert. Nirgends ganz dazuzugehören bedeutete neben schmerzlicher Herabsetzung auch die Chance, aus gewisser Distanz den Blick für das notwendige Gegenhalten nicht zu verlieren (siehe „Als ich der Iwan war“ in Ossietzky 9/2015).

Heinrich Fink promovierte an der Humboldt-Universität (HU) zur Lehre des Baseler Theologen Karl Barth, der sich als radikaldemokratischer Sozialist verstand. Gott sei die „große Störung“ menschlichen Tuns, hieß es bei ihm. Da scheint sich Heiner gedacht zu haben: Von Gott lernen, heißt stören lernen.

Ich lernte den Dekan der Theologischen Fakultät der HU Heinrich Fink im Oktober 1989 kennen, als sich in Berlin die erste Unabhängige Untersuchungskommission der DDR bildete. Wir wollten die Befehlsstrukturen während der gewaltsamen Misshandlungen von protestierenden Demonstranten durch Polizei und Sicherheitskräfte anlässlich des 40. Jahrestages der DDR in Berlin aufdecken. Fink und seine erwachsenen Kinder waren, kerzenhaltend, nahe der Gethsemanekirche wie viele andere von Polizisten mit Schlagstöcken traktiert worden. Gut dokumentiert ist seine herausfordernde Befragung von Egon Krenz vor der Kommission, welche Instanz denn nun für diese Übergriffe verantwortlich zu machen sei. Mit dem Enthusiasmus der damaligen Tage befand er: Wir haben jetzt die Möglichkeit, ein neues Verständnis von Polizei in den zusammenwachsenden Staat einzubringen.

Trotz aller Widersetzlichkeit habe ich Heinrich Fink als sanften, warmherzigen Menschen erlebt, der allerdings wusste, dass die erstrebte Harmonie nur über Auseinandersetzung zu gewinnen ist. Vielleicht auch deshalb wurde er in jenen Herbsttagen im Konzil, unter vier Kandidaten, mit 72 Prozent zum Rektor der Humboldt-Universität gewählt. Auch hier ging es ihm um Erneuerung aus eigener Kraft. Und das funktionierte zunächst. Inzwischen waren auch die Studenten aufgewacht, mit unabhängiger Studentenzeitschrift, Studentenrat und Studentenparlament kämpften sie für eine Abkehr von den konservativen Strukturen der Professoren-Universität. Und sie bekamen Zuspruch von den Kommilitonen der Freien Universität, der Technischen Universität, ja der Sorbonne.

Der Funke begann auf den Westen überzuspringen. Auf einem Studientag der theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde eine Resolution verabschiedet, in der es hieß, die bundesdeutsche protestantische Kirche sei auf dem Weg, „ihr staatskonform obrigkeitshöriges Verhalten fortzusetzen … Es ist Zeit, für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus.“ Und die SPD schlug einen Runden Tisch auch für Bonn vor. Die taz warnte am 9. Dezember 1989: „Denkbar, dass Bonn bald den Wiedervereinigungsprozess massiv beschleunigen will, um den möglichen Demokratisierungsdruck aus dem Osten zu brechen.“

„Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde“, davon erzählt der letzte DDR-Rektor in seinem gleichnamigen Buch auf detaillierte, bedrückende Weise. Dass die Dogmatiker, die unkreativen Bürokraten abgesetzt werden, war von den Bürgerrechtlern beabsichtigt. Dass aber flächendeckend abgeräumt wird, auch unter politisch unbescholtenen, hochqualifizierten Spezialisten, sogar unter links gebliebenen Dissidenten wie Rudolf Bahro, das war nicht beabsichtigt.

Genau diese Art von Demütigung wollte Heinrich Fink an seiner Humboldt-Universität vermeiden. Er hatte dafür die Studenten und den Akademischen Senat hinter sich. In seinem Buch erzählt er, wie der damalige Wissenschaftssenator Erhardt (CDU) dennoch Abwickler ins Haus schickte: Etwa den einstigen SS-Sturmbannführer der Panzergrenadierdivision »Götz von Berlichingen«, die sich unter anderem an der Okkupation Griechenlands beteiligt hatte. Jener Wilhelm Krelle war als „Gründungsdekan“ für den Fachbereich Wirtschaftswissenschaften eingesetzt, nicht gewählt. Einvernehmlich mit seinem Senator verkündete er: „Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe.“

Fink schilderte, wie die Humboldt-Universität die einzige war, die es wagte, gegen die Abwicklungen gerichtlich vorzugehen. Auch weil die gleichberechtigte Teilnahme von Studenten in allen Gremien noch nicht zerschlagen war. Wie er im November 1991 von Mitgliedern des Studentenparlaments gebeten wurde, doch wieder als Rektor zu kandidieren. Wie just in diesem Moment von der damaligen Gauck-Behörde Verdächtigungen lanciert wurden, Fink habe für die Stasi gearbeitet. Ein „bestelltes Ding“, wie Rudolf Bahro schimpfte.

Es ging um unbewiesene und unbeweisbare Vorwürfe, da es Zeugen der Anklage nicht gab und die eigentliche Akte vernichtet war. Eine damals nicht seltene Groteske, in der einen nichts so belastete wie verschwundene Akten. Stefan Heym fragte: „Was ist das für eine Demokratie, was für ein Rechtsstaat, in dem ein Mann von einer Verwaltungsinstanz für schuldig erklärt und bestraft werden kann, ohne dass ein Beweis seiner Schuld vorgelegt, ohne dass er selber auch nur gehört worden wäre von einem der hohen Herren der Kommission?“

„Unsern Heiner nimmt uns keiner“, skandierten die Studenten im überfüllten Auditorium Maximum. Im Podium saßen, neben Rudolf Bahro und Stefan Heym, Christa und Gerhard Wolf, Christoph Hein, Käthe Reichel und auch ich – wir protestierten gegen die geistige Wüste der unbelegten Verdächtigungen, die zur Methode geworden waren, wenn man unbequeme Leute ausschalten wollte. Unter dem Vorwand, politische Altlasten zu entsorgen, wurden einträgliche Posten an meist zweitrangige, konservative Westimporte vergeben. Fink musste mit ansehen, wie im ersten Jahrfünft fast 2500 Universitätsmitarbeiter zu gehen hatten. Seine eigene fristlose Entlassung hatte das Berliner Landgericht als rechtswidrig eingestuft, andere Gerichte verneinten dies mit dehnbaren Formulierungen. Dabei war das einzige belastende Indiz, der Anruf eines IM Heiner vom Kirchentag bei der Stasi, durch Aufdeckung des Klarnamens des wirklichen Anrufers zusammengebrochen.

Es hatte seine innere Logik, dass Heinrich Fink als Parteiloser einige Jahre für die PDS im Bundestag saß. Und danach elf Jahre Vorsitzender und bis zu seinem Tod Ehrenvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) war. Zuletzt hat es ihn fassungslos gemacht, dass in diesem Deutschland, mit seinem massiven Naziproblem, im rechtslastigen bayerischen Verfassungsschutzbericht die Organisation der Verfolgten des Naziregimes und ihrer Nachkommen als „linksextremistisch beeinflusst“ eingestuft wird und daraufhin ein sozialdemokratischer Berliner Finanzsenator in vorauseilendem Gehorsam der Vereinigung die Gemeinnützigkeit absprechen will. Und dass auf Anfrage der Partei Die Linke nach konkreten Gründen, vom Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Günter Krings, die Antwort kam, Auskünfte über die VVN-BdA, also über diejenigen, die den Kampf gegen Rechts zum Programm erhoben haben, könnten „negative Folgen für die künftige Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörden haben“ (Drucksache 19/17233). Sich nicht mit Verdächtigungen abzufinden, die zu begründen nicht für nötig befunden werden, dazu hat Heinrich Fink viele ermutigt. Neben Niederlagen gab es auch immer wieder Erfolge.

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Es ist Heiner Finks persönlichem Einsatz zu verdanken, dass die 11. Feuerbach-These von Karl Marx in der Eingangshalle der Humboldt-Universität nicht entfernt wurde, sondern als Kulturdenkmal konserviert werden musste. Bei aller Trauer wird sich die Erinnerung durchsetzen: Diesen Heiner nimmt uns keiner.

Mini-Utopie nach Corona: Ewiger Frieden

Daniela Dahn

Es war einmal ein Großmanöver, das zigtausende Waffen und Soldaten einflog als Speerspitze gegen jegliche Bedrohung. Defender bedeutete, mehrere Tausend Kilometer an die russische Grenze zu rollen, um dort abzuschrecken. Die Friedensbewegten protestierten ohne Hoffnung, der Marsch von 28 Staaten gen Osten sei eine überflüssige Drohgebärde, ein verheerender Beitrag zur Klimakatastrophe und Verschwendung von Geld und Ressourcen.
Noch bevor Mann und Maus Straßen und Schienen verstopften, wurde die Übung kontrolliert beendet. Kriegsschiffe drehten auf dem Atlantik um. Ein unsichtbarer Feind war aufgetaucht, der unter jedem Radar hindurchflog, sich von nichts abschrecken lies und totbringend das öffentliche Leben auf dem Globus lahmlegte. Die Soldaten mit ihren schweren Geschützen waren machtlos und traten die Heimreise an. Die Blamage über das falsche Konzept von Sicherheit war überwältigend. Der UN-Generalsekretär forderte einen sofortigen globalen Waffenstillstand. Als dieser eingehalten wurde, atmeten alle auf. Fortan verteidigte man sich weltweit gemeinsam gegen kaputtgesparte Gesundheitssysteme und Lungen verpestenden Smog. Gegen Hunger und Armut wurde auf Rat von Immanuel Kant ein Weltbürgerrecht erlassen. Zum ewigen Frieden waren es nur noch wenige Meter.

erschienen in der Freitag 15/2020

Lebhafter Streit im schmalen Korridor

Daniela Dahn

Radikale Aufklärung über Herrschaft – zu Rainer Mausfelds Demokratiekritik

Erschienen in Neues Deutschland 29.12.2018

Angesichts der Wahlerfolge von fremdenfeindlichen Erzkonservativen und Nationalisten häufen sich apokalyptische Prognosen über drohende Barbarei. Wenn dem Mittelstand die angstfreie Existenz entzogen wird, rückt der Extremismus in die Mitte. Das ist der Nährboden für Faschismus. Schlafwandler war mal, nicht wenige Intellektuelle, Historiker, Psychologen und Künstler wollen sich diesen Vorwurf zu Recht nicht noch einmal gefallen lassen. Haltet den Dieb, rufen sie, den Dieb der Demokratie. Und der Freiheit und der Würde. Denn es handelt sich um einen beabsichtigten, wohlgeplanten Raub, nicht einfach nur um einen bedauerlichen Fehltritt der Geschichte.

Wie konnte es dazu kommen, dass große Mehrheiten dem Räuber ihre hart erarbeiteten Habseligkeiten noch kniefällig darbieten oder zumindest stumm, wenn nicht beifällig zuschauen, wie diese in des Räubers goldener Kutsche verschwinden? Dies erklärt nun mit seltenem Scharfsinn der Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld in seinem Buch: »Warum schweigen die Lämmer?«. Jahrzehntelang hat er an Universitäten die psychologischen Methoden der Bewusstseinsmanipulation ergründet. Es geht um die Frage, was mit uns Lämmern, Lemmingen und Lemuren geschehen sein muss, dass wir ohnmächtig mit ansehen, wie Elitenherrschaft und Neoliberalismus die Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören.
Das Metier des Professors sind Vorlesungen. Mausfelds Vortrag über die Lämmer wurde mit simpler Kamera eher beiläufig aufgezeichnet, geriet auf YouTube und wurde dort über eine halbe Million Mal angehört. Ein Indiz dafür, dass das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und politischer Aufklärung viel größer ist, als die Gegner von Basisdemokratie glauben machen wollen. Kompetenz zeichnet sich auch dadurch aus, den Kern komplizierter Zusammenhänge so nachvollziehbar herauszuschälen, dass eine einfache Logik erkennbar wird. Denn Logik ist letztlich immer einfach, in ihrer formalen Struktur. Dem Westend Verlag ist zu danken, dass aus derartiger Kompetenz nun ein erhellendes, gut lesbares Demokratie-Kompendium entstanden ist, überarbeitete Vorträge und Gespräche, ergänzt durch ausführliche Fußnoten, Quellen und Register.

Warum Mehrheiten sich so vieles gefallen lassen, was gegen ihre Interessen verstößt, beschäftigt die Denker seit der griechischen Antike. Karl Marx verwies in »Die deutsche Ideologie« darauf, dass die Gedanken der Herrschenden aufgrund deren materieller Macht immer die herrschenden Gedanken sind. Man hatte also Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Propaganda jeder Ordnung systemimmanent ist – so auch der Demokratie. Ohne Indoktrination würde sie nicht funktionieren. Sie ist angewiesen auf die Illusion der politischen Selbstbestimmung der Bürger.
Rainer Mausfeld würdigt die Wissenschaftler, die sein Denken geprägt haben, zentral Noam Chomsky: »Der intelligente Weg, Menschen passiv und fügsam zu halten, besteht darin, das Spektrum akzeptabler Meinungen strikt zu begrenzen, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums zu ermöglichen – und sogar kritischere und abweichende Ansichten zu fördern. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass freies Denken stattfindet.« Solche nicht zu überschreitenden Grenzen sind etwa die kapitalistische Marktwirtschaft und die repräsentative Demokratie. Dissens ist erlaubt, so lange er nichts Wesentliches verändert. So das Fazit eines anderen im Buch genannten Vordenkers, des politischen Philosophen Sheldon Wollin, dessen demokratiekritischen Bücher in den USA mehrfach ausgezeichnet und sieben Millionen Mal verkauft wurden, der aber hierzulande fast völlig unbekannt ist.

Zu den von Mausfeld benannten und von PR-Agenturen bevorzugten Techniken gehört das aus dem Zusammenhang reißen von Fakten, so dass ihr Sinnzusammenhang nicht erkennbar wird. Umgekehrt werden isolierte Tatsachen in neue Kontexte gestellt, so dass Empörung in die gewünschte Richtung auf- oder abgebaut werden kann. Das Schüren von Angst dient der Legitimation von Kriegen. Auch Doppelstandards bei der Bewertung von Freund und Feind. Je häufiger eine Behauptung wiederholt wird, je mehr Glaubwürdigkeit gewinnt sie. Ideologisch getränkte Begriffe wie »Humanitäre Intervention« oder »Kampf gegen Terrorismus« helfen, unerwünschte Tatsachen aus dem Bewusstsein zu löschen. Etwa die, dass die »westliche Wertegemeinschaft« in den letzten 15 Jahren vier Millionen Muslime getötet hat und das in irgendeinem auch nur entfernten Zusammenhang mit dem Terror des IS stehen könnte.

Selbst das Wissen um Manipulationstechniken, so warnt Rainer Mausfeld, ist kein Schutz vor ihnen. Denn Erkennen und Wahrnehmen unterliegt einem hohen Anteil von Unbewusstem, der willentlichen Kontrolle entzogen. All das mache es immer schwerer, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, habe zu einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung geführt. Jenseits des Aufmerksamkeitsschirms der Bürger konnte ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der unsichtbar ökonomische Macht legal in politische Macht verwandelt. Wer Geld hat, darf damit Parteien finanzieren, Think-Tanks, Lobbyisten, Kanzleien, Gutachter, Forschung, Bildung, Kunst und natürlich Medien. Er kauft sich eine ideelle und materielle Umverteilung zu seinen Gunsten. Dies führe bisweilen dazu, dass die organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse durch derartige Verrechtlichung gegen demokratische Eingriffe abgedichtet werde. Zitiert wird das »Wall Street Journal«, demnach der Neoliberalismus nicht mehr demokratisch abwählbar sei.

Zwar gebe es noch formale demokratische Elemente, doch seien sie strukturell auf ein Minimum reduziert, so Mausfeld. »Wirkliche Demokratie ist ersetzt worden durch die Illusion von Demokratie«, sie würde nunmehr eher Oligarchien ähneln. Der Autor nötigt Position zu beziehen, zum Denken also, was bekanntlich zu den größten Vergnügungen des Menschen gehört. Denken heißt Verstehen und Widersprechen. Am vergnüglichsten also: Zweifeln, ins Gespräch kommen wollen. Etwa darüber, ob es je wirkliche Demokratie gegeben hat. Hier wäre sogar ein strengerer Maßstab, an anderer Stelle etwas mehr Nachsicht denkbar.

Etwa wenn der Schluss gezogen wird, die kapitalistische Demokratie sei inzwischen »vollständig einer demokratischen Kontrolle entzogen« und würde somit »eine neuartige Form totalitärer Herrschaft darstellen«. Totalitär ist ein Begriff, der nicht gesteigert werden kann. Staatliche Praxis aber hält noch vielfältige Steigerungsmöglichkeiten bereit. Gerade diese Sorge ist Motiv genug, sich entgegen zu stemmen. Allein die Existenz dieses Buches ist untotalitär. Nach aller erfahrenen Geschichte bleibt es eine Gratwanderung, die Gefährdung gesellschaftlicher Balance in gebotener Schärfe bewusst zu machen, ohne die vielleicht letzten Mittel der Befriedung zu verschütten.

Schließlich sieht Mausfeld selbst eine gewisse Hoffnung auf Emanzipation vom jetzigen Zustand, wenn es gelänge, die Entpolitisierung der Bevölkerung zu überwinden. Wozu auch die verbreitete Apathie im politischen Engagement gehört, die durch die praktischen Heraus- und Überforderungen seinen Alltag zu bewältigen, erzwungen werde. Die Selbstoptimierung und die der Kinder kostet Kraft. Und wozu das alles? Um sich endlich dem einzig erwünschten Lebenszweck widmen zu können: dem hemmungslosen Konsum. Manipulationskontexte zu durchschauen, erfordere dagegen Sachkenntnis und den Willen zum Selberdenken. Ein bestechend radikaldemokratisches Buch in der Tradition der Aufklärung.

Wenn allerdings Mausfelds Thesen in der etablierten Medienwelt überhaupt wahrgenommen werden, dann meist polemisch oder belehrend. Gerade das bestätigt sie. Denn in diesem Spiel ist auf Dauer nur satisfaktionsfähig, wer sich in dem beschriebenen Korridor zwischen Affirmation und erwünschtem, weil stabilisierendem Dissens bewegt. Dafür bedarf es keiner Kontrollinstanz, auf diese Anpassungsleistung werden diejenigen, die in die Sphäre mit dem Selbstverständnis Qualitätsmedien aufrücken dürfen, von Anbeginn teils sanft, teils knallhart geeicht. Um diese Disziplinierung ertragen zu können, wird sie als selbstbestimmt verinnerlicht, so dass man sich ganz ehrlich für einen kritischen Geist hält.

Das erklärt die Empörung über das Spiegelbild, das Mausfeld diesem System vorhält. Sie entlädt sich in einer Rhetorik der Ausgrenzung, deren beliebteste Diagnose derzeit »verschwörungstheoretische Züge« lautet. Dass trotz aller Zerfallserscheinungen so erwartbar reagiert wird und eine Zuschreibung wie »umstritten« genügt, um ein bemerkenswertes Gesprächsangebot auszuschlagen, zeugt dann doch davon, dass die vermeintliche Vielstimmigkeit sich nur in ihrer Toleranzbreite von der Einstimmigkeit diktatorischer Zwänge unterscheidet.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1108904.demokratie-lebhafter-streit-im-schmalen-korridor.html

Alle reden über den Pakt zur Migration. Reden wir über den zu Flüchtlingen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag 6. Dezember 2018

Zwei Pakte, die die UN-Vollversammlung auf den Weg gebracht hat, stehen jetzt vor der Annahme.
Alle reden über den Pakt für Migranten – reden wir über den für Geflüchtete.
Migratio heißt Umzug; Auswanderer hoffen ohne Rechtsanspruch auf Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, ziehen nicht selten nach Jahren wieder zurück. Zur Flucht Gezwungene, politisch Verfolgte dagegen genießen Asylrecht, wenn auch in Deutschland beschnitten bis zur Unkenntlichkeit, nach der Grundgesetzänderung von 1993, bei der die SPD aus der Opposition heraus für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit sorgte.
Als „Menschen mit Migrationshintergrund“ werden heute der Einfachheit halber alle bezeichnet. Eine scharfe Trennung gibt es letztlich nur auf dem Papier. Auch wenn die unter Mitwirkung von 146 Staaten erarbeiteten Abkommen nicht rechtsverbindlich sind, ist die UN mit ihrem Geist der internationalen Solidarität damit endlich wieder in die Offensive gekommen. So wie einst die Menschenrechte eine normative Moral etabliert haben, ohne selbst einklagbar zu sein, hofft man nun auf wachsende Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit.
Waren doch nie mehr Menschen auf der Flucht als heute – 24 Millionen, die Hälfte von ihnen Kinder. Im Windschatten um die Aufregung über die erstmalig geordneten Belange für eine reguläre Migration ist bislang öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden, dass auch für den Umgang mit Geflüchteten in Europa und darüber hinaus eine Abkehr von bisheriger Praxis angestrebt wird. „Robuste und gut funktionierende Regelungen“ sollen die Exil-Länder mit geringem und mittlerem Einkommen entlasten und die Verantwortung gerechter auf alle Staaten verteilen.
Was darauf hinausläuft, die perfiden Dublin-Verträge außer Kraft zu setzen. Deren weitgehend von Deutschland durchgesetzte Logik besteht darin, den ärmeren Ländern zu dekretieren: Wen ihr hereinlasst, für den seid ihr verantwortlich. Derart überforderte Länder wie Griechenland, Bulgarien und Italien wehren die Flüchtlinge ab oder behandeln sie so schlecht, dass sie weiterziehen. Verzweifelt irren die Unwillkommenen durch Europa, werden wie Frachtgut hin und her geschoben.
Freiwillig bekundet die Mehrheit der Staaten nun dazu beitragen zu wollen, dass Flüchtlingen auf humane Weise geholfen wird. Die Würde des Menschen ist kein Konjunktiv, wie es auf der #unteilbar-Demo hieß. Durchgesetzt werden soll das Kardinalprinzip des Flüchtlingsschutzes: Berechtigte Ansprüche dürfen nicht zurückgewiesen werden.
Sosehr also zu wünschen ist, dass die beiden Pakte eine humane Dynamik entfalten, so wenig lässt sich manche Irritation verschweigen. Es wird beteuert, dass der Pakt „völlig unpolitisch“ sei. Bitte was? Ist „unparteiisch“ gemeint, liegt ein Übersetzungsfehler vor? Doch auch im englischen Original ist der Global Compact on Refugees „entirely non-political in nature“. Ist Politik schon so in Verruf geraten, dass man sich in ihrer Nähe nicht mehr sehen lassen will?
Wohl wahr, es gibt derzeit kein Land auf der Welt, dessen politisches Credo wäre: Fluchtursachen first. Ihre Bekämpfung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, räumt der Pakt ein und vertraut auf die „Maximierung von Beiträgen des Privatsektors“. Dessen Investitionskraft, Finanzinstrumente und kommerziellen Geschäftsmodelle, ergänzt durch Arbeitskräftemobilität, sollen es richten. Also letztlich die Instrumente, die das ganze soziale Desaster erst angerichtet haben. Das ist hochpolitisch. Und sollte eine entsprechende Antwort erhalten.

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Ich glaub’, ich spuke – Über die Schrift hinaus, Ulla Berkéwicz

Daniela Dahn

Neopathetik Ulla Berkéwicz’ Essay ist, vorsichtig gesagt, eine kühne Übertretung all dessen, was Prosa bisher wagte

der Freitag | Ausgabe 40/2018

Die Autorin wäre nicht Ulla Berkéwicz, würde sie nicht eine ganz eigene Prosa kreieren: Mit ihrem Hexenbesen der Dekonstruktion fährt sie in überlieferte Weisheiten und mystische Texte. Sie hat keine Scheu, verborgene Zusammenhänge zwischen der vedischen Religion aus vorhinduistischer Zeit, der Mathematik und der jüdischen Weltsicht ans Kunstlicht zu holen.
Auch hat sie wenig Respekt vor formaler Logik, insbesondere vor dem Axiom des ausgeschlossenen Dritten. Sie gibt Paradoxien ihren verdienten Stellenwert zurück und rehabilitiert spukende Gespenster, indem sie ihnen Zutritt zur Rationalität verschafft. Diese darf dann allerdings nicht in dreidimensionaler Vorstellung verharren, sondern muss sich öffnen für sieben und mehr Dimensionen. Mathematisches Denken wird als pathetisches Denken beschrieben, was erklären könnte, weshalb sich Musik letztlich auf Mathematik reduzieren lässt.

Wovon träumt ein Gójlem?

Berkéwicz bricht die Sätze auf, bis schroffe Kanten und Abgründe entstehen, schiebt die Zahlen- und Wortschollen ineinander und macht die Leser zu Zeugen, wie sie Geist, Chuzpe und Wissen zu Fugenfüller verarbeitet und so das Ganze zusammenhält. Ihre neu geschaffene literarische Realität gelangt derart Über die Schrift hinaus, ist aber weder ein Abheben ins akademische Fachsimpeln noch ins abgedreht Versponnene. Vielmehr bleiben alle Gedankenspiele dem irdischen und überirdischen Leben verpflichtet.
Dieser essayistische Prosatext ist fast nebenbei auch ein eminent politisches Buch. So wird der vedische Dualismus von Gut und Böse zum Ausgangspunkt für die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diskutierte Frage, weshalb die technologisch erzogenen Massen eine so rätselhafte Bereitschaft haben, „in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“.

Angesichts des apokalyptischen Schreckens eines Atomkrieges wird an den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert, der „die Anwendung großer Macht um niedriger Zwecke willen“ als Mangel an moralischer Urteilskraft geißelte. Die auch Voraussetzung für die Simonie ist, den Irrglauben, alles mit Geld und Bestechung erlangen zu können, selbst die Gaben Gottes.

Und es geht um die Sorge, die Digitalisierung würde autonome Maschinen und Waffen hervorbringen, die sich von ihren Schöpfern emanzipieren und selbst das Kommando zur Verwüstung übernehmen. So wie es nach der Legende um Rabbi Löw einst der léjmene Gójlem, die Urgestalt eines Roboters, versuchte. Er konnte nur gebändigt werden, als es dem Rabbi gelang, dem wild Gewordenen das Hirschpergament mit den geheimen vier Buchstaben, (also den Chip mit dem Code) aus der Stirn (der Schnittstelle) zu ziehen. Eine Mahnung, die Programmierung nie zu vergessen oder gar aus der Hand zu geben.

Auch nicht die des Kapitalismus, dessen Charakterisierung als gnadenlos sich durch das Buch zieht. Das Übel ist eben nicht erst der Neoliberalismus, den zu verwerfen längst Mainstream ist, sondern die Funktionslogik dieses Wirtschaftssystems von Anfang an, der „Kapitalismus als Religion“, der mit Bezug auf Walter Benjamin als auf die Zerstörung der Welt zielend beschrieben wird. Erlösung von der „Diktatur der Freiheit“ ist nicht in Sicht. Auch nicht von dem Wahn, den falschen Göttern zu folgen. Deshalb kreisen die Reflexionen immer wieder um die Kategorie des Erbarmens. Wo ist angesichts dieser Welt göttliches Erbarmen zu spüren – ist es richtig, aufgrund seines Ausbleibens auf den Tod Gottes zu schließen? Dafür spricht, dass die vermisste Barmherzigkeit nicht nur die Erlösung derer wäre, mit denen sich erbarmt würde, sondern auch die Erlösung des Erbarmers selbst.

Im zweiten Teil des Bandes plötzlich nicht nur totaler Kulissenwechsel, sondern auch der der Erzählperspektive. Die Hoffnung auf Erlösung verlagert sich von der desillusionierenden Reflexion auf ein Mysterienzauberspiel, einen Faschingsfeuersturm in einem Wiener Café oder auch sechs Ecken weiter, in Russland vielleicht.

Die Protagonisten treten heraus aus ihren Rahmen auf der Porträtantenwand, Friederike Mayröcker, der zuvor eingeführte geniale Mathematiker Grigori Perelmann, schließlich die russische Zarenfamilie, die Callas und viele Illustre mehr. „Lebensglück fetzt vorbei, die Schwanenfedern stieben“, wird Ingeborg Bachmann zitiert. Man erwartet, dass es 13 schlägt, und fortwährend blinkt der Judenstern an.

Für manche Leser wohl eine Szenerie, die in ihrer Aberwitzigkeit das Vorherige noch toppt, aber da gerät man an die Geschmacksache. So fantastisch und surreal diese Posse auch ist, so findet sie doch ihre Grenzen, wenn authentischen Personen existentialistische Dialoge aus dem absurden Theater in den Mund gelegt werden. Diese wollen, können und dürfen die intellektuelle Dichte des ersten Teils nicht erreichen.

Dieses Buch ist alles in allem eine fantastische Übertretung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Wer auf eine Vertonung dieses poetischen Textes neugierig ist, dem sei das von der Schauspielerin Ulla Berkéwicz gelesene Hörbuch empfohlen, in dem sie der Autorin Ulla Berkéwicz mit warmdunkler Stimme noch ganz eigene Akzente hinzufügt.