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Alle reden über den Pakt zur Migration. Reden wir über den zu Flüchtlingen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag 6. Dezember 2018

Zwei Pakte, die die UN-Vollversammlung auf den Weg gebracht hat, stehen jetzt vor der Annahme.
Alle reden über den Pakt für Migranten – reden wir über den für Geflüchtete.
Migratio heißt Umzug; Auswanderer hoffen ohne Rechtsanspruch auf Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, ziehen nicht selten nach Jahren wieder zurück. Zur Flucht Gezwungene, politisch Verfolgte dagegen genießen Asylrecht, wenn auch in Deutschland beschnitten bis zur Unkenntlichkeit, nach der Grundgesetzänderung von 1993, bei der die SPD aus der Opposition heraus für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit sorgte.
Als „Menschen mit Migrationshintergrund“ werden heute der Einfachheit halber alle bezeichnet. Eine scharfe Trennung gibt es letztlich nur auf dem Papier. Auch wenn die unter Mitwirkung von 146 Staaten erarbeiteten Abkommen nicht rechtsverbindlich sind, ist die UN mit ihrem Geist der internationalen Solidarität damit endlich wieder in die Offensive gekommen. So wie einst die Menschenrechte eine normative Moral etabliert haben, ohne selbst einklagbar zu sein, hofft man nun auf wachsende Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit.
Waren doch nie mehr Menschen auf der Flucht als heute – 24 Millionen, die Hälfte von ihnen Kinder. Im Windschatten um die Aufregung über die erstmalig geordneten Belange für eine reguläre Migration ist bislang öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden, dass auch für den Umgang mit Geflüchteten in Europa und darüber hinaus eine Abkehr von bisheriger Praxis angestrebt wird. „Robuste und gut funktionierende Regelungen“ sollen die Exil-Länder mit geringem und mittlerem Einkommen entlasten und die Verantwortung gerechter auf alle Staaten verteilen.
Was darauf hinausläuft, die perfiden Dublin-Verträge außer Kraft zu setzen. Deren weitgehend von Deutschland durchgesetzte Logik besteht darin, den ärmeren Ländern zu dekretieren: Wen ihr hereinlasst, für den seid ihr verantwortlich. Derart überforderte Länder wie Griechenland, Bulgarien und Italien wehren die Flüchtlinge ab oder behandeln sie so schlecht, dass sie weiterziehen. Verzweifelt irren die Unwillkommenen durch Europa, werden wie Frachtgut hin und her geschoben.
Freiwillig bekundet die Mehrheit der Staaten nun dazu beitragen zu wollen, dass Flüchtlingen auf humane Weise geholfen wird. Die Würde des Menschen ist kein Konjunktiv, wie es auf der #unteilbar-Demo hieß. Durchgesetzt werden soll das Kardinalprinzip des Flüchtlingsschutzes: Berechtigte Ansprüche dürfen nicht zurückgewiesen werden.
Sosehr also zu wünschen ist, dass die beiden Pakte eine humane Dynamik entfalten, so wenig lässt sich manche Irritation verschweigen. Es wird beteuert, dass der Pakt „völlig unpolitisch“ sei. Bitte was? Ist „unparteiisch“ gemeint, liegt ein Übersetzungsfehler vor? Doch auch im englischen Original ist der Global Compact on Refugees „entirely non-political in nature“. Ist Politik schon so in Verruf geraten, dass man sich in ihrer Nähe nicht mehr sehen lassen will?
Wohl wahr, es gibt derzeit kein Land auf der Welt, dessen politisches Credo wäre: Fluchtursachen first. Ihre Bekämpfung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, räumt der Pakt ein und vertraut auf die „Maximierung von Beiträgen des Privatsektors“. Dessen Investitionskraft, Finanzinstrumente und kommerziellen Geschäftsmodelle, ergänzt durch Arbeitskräftemobilität, sollen es richten. Also letztlich die Instrumente, die das ganze soziale Desaster erst angerichtet haben. Das ist hochpolitisch. Und sollte eine entsprechende Antwort erhalten.

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Ich glaub’, ich spuke – Über die Schrift hinaus, Ulla Berkéwicz

Daniela Dahn

Neopathetik Ulla Berkéwicz’ Essay ist, vorsichtig gesagt, eine kühne Übertretung all dessen, was Prosa bisher wagte

der Freitag | Ausgabe 40/2018

Die Autorin wäre nicht Ulla Berkéwicz, würde sie nicht eine ganz eigene Prosa kreieren: Mit ihrem Hexenbesen der Dekonstruktion fährt sie in überlieferte Weisheiten und mystische Texte. Sie hat keine Scheu, verborgene Zusammenhänge zwischen der vedischen Religion aus vorhinduistischer Zeit, der Mathematik und der jüdischen Weltsicht ans Kunstlicht zu holen.
Auch hat sie wenig Respekt vor formaler Logik, insbesondere vor dem Axiom des ausgeschlossenen Dritten. Sie gibt Paradoxien ihren verdienten Stellenwert zurück und rehabilitiert spukende Gespenster, indem sie ihnen Zutritt zur Rationalität verschafft. Diese darf dann allerdings nicht in dreidimensionaler Vorstellung verharren, sondern muss sich öffnen für sieben und mehr Dimensionen. Mathematisches Denken wird als pathetisches Denken beschrieben, was erklären könnte, weshalb sich Musik letztlich auf Mathematik reduzieren lässt.

Wovon träumt ein Gójlem?

Berkéwicz bricht die Sätze auf, bis schroffe Kanten und Abgründe entstehen, schiebt die Zahlen- und Wortschollen ineinander und macht die Leser zu Zeugen, wie sie Geist, Chuzpe und Wissen zu Fugenfüller verarbeitet und so das Ganze zusammenhält. Ihre neu geschaffene literarische Realität gelangt derart Über die Schrift hinaus, ist aber weder ein Abheben ins akademische Fachsimpeln noch ins abgedreht Versponnene. Vielmehr bleiben alle Gedankenspiele dem irdischen und überirdischen Leben verpflichtet.
Dieser essayistische Prosatext ist fast nebenbei auch ein eminent politisches Buch. So wird der vedische Dualismus von Gut und Böse zum Ausgangspunkt für die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diskutierte Frage, weshalb die technologisch erzogenen Massen eine so rätselhafte Bereitschaft haben, „in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“.

Angesichts des apokalyptischen Schreckens eines Atomkrieges wird an den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert, der „die Anwendung großer Macht um niedriger Zwecke willen“ als Mangel an moralischer Urteilskraft geißelte. Die auch Voraussetzung für die Simonie ist, den Irrglauben, alles mit Geld und Bestechung erlangen zu können, selbst die Gaben Gottes.

Und es geht um die Sorge, die Digitalisierung würde autonome Maschinen und Waffen hervorbringen, die sich von ihren Schöpfern emanzipieren und selbst das Kommando zur Verwüstung übernehmen. So wie es nach der Legende um Rabbi Löw einst der léjmene Gójlem, die Urgestalt eines Roboters, versuchte. Er konnte nur gebändigt werden, als es dem Rabbi gelang, dem wild Gewordenen das Hirschpergament mit den geheimen vier Buchstaben, (also den Chip mit dem Code) aus der Stirn (der Schnittstelle) zu ziehen. Eine Mahnung, die Programmierung nie zu vergessen oder gar aus der Hand zu geben.

Auch nicht die des Kapitalismus, dessen Charakterisierung als gnadenlos sich durch das Buch zieht. Das Übel ist eben nicht erst der Neoliberalismus, den zu verwerfen längst Mainstream ist, sondern die Funktionslogik dieses Wirtschaftssystems von Anfang an, der „Kapitalismus als Religion“, der mit Bezug auf Walter Benjamin als auf die Zerstörung der Welt zielend beschrieben wird. Erlösung von der „Diktatur der Freiheit“ ist nicht in Sicht. Auch nicht von dem Wahn, den falschen Göttern zu folgen. Deshalb kreisen die Reflexionen immer wieder um die Kategorie des Erbarmens. Wo ist angesichts dieser Welt göttliches Erbarmen zu spüren – ist es richtig, aufgrund seines Ausbleibens auf den Tod Gottes zu schließen? Dafür spricht, dass die vermisste Barmherzigkeit nicht nur die Erlösung derer wäre, mit denen sich erbarmt würde, sondern auch die Erlösung des Erbarmers selbst.

Im zweiten Teil des Bandes plötzlich nicht nur totaler Kulissenwechsel, sondern auch der der Erzählperspektive. Die Hoffnung auf Erlösung verlagert sich von der desillusionierenden Reflexion auf ein Mysterienzauberspiel, einen Faschingsfeuersturm in einem Wiener Café oder auch sechs Ecken weiter, in Russland vielleicht.

Die Protagonisten treten heraus aus ihren Rahmen auf der Porträtantenwand, Friederike Mayröcker, der zuvor eingeführte geniale Mathematiker Grigori Perelmann, schließlich die russische Zarenfamilie, die Callas und viele Illustre mehr. „Lebensglück fetzt vorbei, die Schwanenfedern stieben“, wird Ingeborg Bachmann zitiert. Man erwartet, dass es 13 schlägt, und fortwährend blinkt der Judenstern an.

Für manche Leser wohl eine Szenerie, die in ihrer Aberwitzigkeit das Vorherige noch toppt, aber da gerät man an die Geschmacksache. So fantastisch und surreal diese Posse auch ist, so findet sie doch ihre Grenzen, wenn authentischen Personen existentialistische Dialoge aus dem absurden Theater in den Mund gelegt werden. Diese wollen, können und dürfen die intellektuelle Dichte des ersten Teils nicht erreichen.

Dieses Buch ist alles in allem eine fantastische Übertretung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Wer auf eine Vertonung dieses poetischen Textes neugierig ist, dem sei das von der Schauspielerin Ulla Berkéwicz gelesene Hörbuch empfohlen, in dem sie der Autorin Ulla Berkéwicz mit warmdunkler Stimme noch ganz eigene Akzente hinzufügt.

Leb wohl, Schalom, Uri Avnery!

Daniela Dahn

Ossietzy 17/2018 vom 1. September 2018

Als Neunjähriger floh Uri Avnery 1933 mit seiner Familie rechtzeitig von Hannover nach Palästina. Es waren jüdische Intellektuelle, die „an Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit glaubten“, beschrieb er sie. 1945, also drei Jahre vor Gründung des Staates Israel, leitete er als 23-Jähriger eine Gruppe, um die Idee einer neuen hebräischen Nation zu propagieren. Sie sollte mit den arabischen Nationen Teil der semitischen Region sein, in der alle friedlich miteinander leben.
Zwei Wochen vor seinem Tod widmete sich der 94-Jährige in seinem letzten Artikel genau diesem Gedanken und schloss damit einen großen Lebensbogen. Der Artikel begann: „Vor Jahren hatte ich ein freundschaftliches Gespräch mit Ariel Scharon. Ich sagte zu ihm: Ich bin in erster Linie Israeli. Erst dann bin ich Jude. Er antwortete hitzig: Ich bin in erster Linie Jude und erst danach bin ich Israeli! Das mag sich nach einer überflüssigen Debatte anhören. Aber in Wirklichkeit ist eben das die Frage, die im Zentrum all unserer Gespräche steht. Sie liegt der Krise zugrunde, die jetzt Israel in Stücke reißt.“
In der Unabhängigkeitserklärung von Ben-Gurion von 1948 sei Israel noch als ein jüdischer und demokratischer Staat charakterisiert worden, der allen seinen Bürgern, unabhängig von Religion und Volkszugehörigkeit, vollkommene Gleichberechtigung zusagte. Heute sei beides verschwunden. „Keine Demokratie. Keine Gleichberechtigung. Ein Staat der Juden für die Juden von den Juden.“ Die Araber, die Beduinen, die Christen (und übrigens auch die russischen Atheisten – D. D.) würden vollkommen ignoriert. Netanjahu habe öffentlich erklärt, dass alle jüdischen Kritiker des neuen Nationalitätengesetzes „Linke und Verräter (das sind ohnehin Synonyme) seien“.
Der unerschrockene Kämpfer für die Versöhnung mit den Palästinensern war es gewohnt, selbst angefeindet und angegriffen zu werden. Nach dem Krieg von 1967 hatte er in einem Offenen Brief an den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Eschkol gefordert, die eroberten Gebiete nicht dauerhaft zu besetzen, sondern dort einen unabhängigen Palästinenserstaat zu schaffen. Über seine beargwöhnten, frühen Kontakte zu Jassir Arafat schrieb er ein Buch: „Mein Freund der Feind“. All das machte ihn zum verhassten Dissidenten, zum „Outcast“. 1975 wurde er durch ein Attentat mit einem Messer schwer verletzt. Da er den israelischen Interessen schade wie auswärtige Feinde, rief der Fernsehkanal 10 gar zu seiner „gezielten Tötung“ auf. Nach einer Friedenskundgebung in Tel Aviv wurde er noch als 87-Jähriger tätlich angegriffen.
All das hinderte ihn nicht daran, mit anderen Verfemten solidarisch zu sein. Als Günter Grass 2012 für sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ im Kreuzfeuer stand, schrieb er, es sei ein völlig unnötiger Krawall, dass Deutsche und Israelis darin wetteifern: „Wer kann Grass mehr beschimpfen, und wer findet extremere Ausdrücke für ihn“. Antisemitisch sei es vielmehr darauf zu bestehen, dass Israel in Deutschland nicht kritisiert werden dürfe.
Was in den Nachrufen wenig gewürdigt wurde, ist die Gewissheit, dass das Mitglied des internationalen PEN-Clubs Uri Avnery auch ein herausragender Autor war. Seine Fähigkeit, durch klare Thesen und Antithesen, durch rhetorische Fragen und pointierte Antworten seine wohlformulierten Gedanken zu logischen Schlüssen zu führen, die mit Witz und Schärfe gewürzt waren und in denen es auch an psychologischen Erwägungen nicht mangelte, garantierte immer Lesevergnügen. „Gibt es nun also eine israelische Nation? Natürlich gibt es die. Gibt es eine jüdische Nation? Natürlich gibt es die nicht“, schrieb er in seinem letzten Artikel. „Gehört unser Land zu einer Region, die von Arabern bewohnt wird? … Deshalb müssen wir zu friedlichen Nachbarn in der Region werden, die ich schon vor 75 Jahren die ´semitische Region´ genannt habe.“
Seine mutigen Texte werden fehlen. Uns Lesern und den bedrängten Mitstreitern im anderen Israel. Schalom chaverim.

Was ist Demokratie?

Daniela Dahn

25.8.2018 WDR 3 „Gutenbergs Welt“

Es gibt wohl keinen Staat auf der Welt, der sich selbst für undemokratisch hält. Alle beanspruchen irgendeine Art von Demokratie, auch die Monarchien und die Autokratien. Die Mehrheit der Länder der Erde lebt mit anderen Werten als den westlichen und erwartet, dafür respektiert zu werden. In Zeiten, in denen es nicht mehr darauf ankommt, ob eine Aussage wahr ist, sondern nur, ob sie wirksam ist, ist Vorsicht geboten vor den großen Gewissheiten. Auch der, genau zu wissen, was eine funktionierende Demokratie ist. Sie ist nämlich nichts, das einmal errungen auch ein bleibendes Gut ist, sondern bleibt ein ständiges Wachsen und Vergehen, allzeit gefährdet.
Der Grundgedanke der Demokratie besteht darin, dass Mehrheiten bestimmen, wo es langgeht. Als wichtigstes Kennzeichen galten daher bislang freie Wahlen. Aber das Vertrauen in diesen Vorgang ist im Schwinden, schon im Vorfeld wird bezweifelt, ob alles mit rechten Dingen zugehen wird, Manipulation der Meinungen und der Computer. Gegenkandidaten in Entwicklungsdemokratien erkennen Wahlergebnisse nicht an, was nicht selten zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt. Und auch dort, wo Ergebnisse akzeptiert werden, hält sich die Zuversicht der Wähler, dass die Versprechen eingehalten und ihr Wille berücksichtigt werden wird, in Grenzen. Die Repräsentative Demokratie handelt treuhänderisch fürs Volk – aber wie treu sind diese Hände wirklich?
Bis eben noch galten die USA als Erblasser und Patron der bundesdeutschen Demokratie, ungeachtet deren eigenem virulenten Rassismus, den zahllosen Menschenrechtsverletzungen, nicht nur in der McCharthy-Ära, den CIA-gesteuerten Attentaten, Regime Changes und kriegerischen Aggressionen, die Millionen Menschenleben gekostet haben. Mit Trampel Trump ist nun die Unverbrüchlichkeit der Nibelungentreue dahin, zurückgeworfen auf das eigene „Was bleibt?“.
Da immerhin gibt es ein Grundgesetz, das sich sehen lassen kann. Und an dem die Verfassungswirklichkeit zu messen ist. Demokratie heißt Machtbeschränkung. Spieglein, Spieglein, an der Wand – wer ist der Stärkste im ganzen Land? Gesetzgeber, Regierung, Justiz, Medien oder die Finanzwirtschaft? Der öffentliche Diskurs seit der Krise lässt keinen Zweifel an der Antwort: die Finanzwirtschaft. Doch dieser Befund ist verräterisch, denn er beschreibt eben eine Oligarchie, nicht eine Demokratie.
Offenbar sind die Gewalten nicht gleichwertig, die einen machen den Plan, die anderen führen ihn aus, sind also nachgeordnet. Der Gesetzgeber macht die Spielregeln, die Regierung macht das Spiel, die Justiz setzt durch, dass dabei die Regeln eingehalten werden, die Medien diskutieren, ob es die richtigen Regeln sind und dann ziehen die Banken den Joker und kaufen das ganze Casino.
Bedingung für Demokratie ist eine funktionierende Gewaltenteilung. Im auch in der Bundesrepublik geltenden Modell der repräsentativen Demokratie ist diese zumindest unvollkommen: Da die stärkste Partei des Parlaments auch die Regierung wählt, bestimmt eine Partei oder Koalition sowohl die Politik des Parlaments, als auch die der Regierung – wodurch die Gewaltenteilung zwischen beiden zur Formsache wird.
Kritik an der Art, wie die Gewaltenteilung umgesetzt wurde, gab es von Anfang an. Das ist kein Symptom, dass erst mit Globalisierung und EU-Erweiterung eintrat. Schon der Juristentag von 1953 hatte die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive angemahnt. Die Staatsanwaltschaften und die Verwaltung der Gerichte unterstehen dem Justizminister, er ist zuständig für die Einstellung der Landes-Richter. Das führt zu vielfältiger Abhängigkeit, von der Berufung über die Beförderung bis zu den Haushaltsmitteln. Richter, die sich über diese obrigkeitsstaatlichen Strukturen kritisch äußern, müssen mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. Wer kontrolliert die Regierung, wenn diese sich ihre Kontrolleure selbst aussucht und gefügig hält?
Dass der Generalbundesanwalt als politischer Beamter den Weisungen des Justizministeriums unterstellt ist, führt nach Ansicht vieler Juristen dazu, dass bestimmte Sachverhalte gar nicht erst zur Anklage kommen. Börsenmanipulation? In der Finanzkrise hatten die Staatsanwaltschaften so gut wie keine strafrechtliche Relevanz. Veruntreuung von Milliarden Euro Steuergeldern bei Großprojekten wie dem Stuttgarter Bahnhof oder dem Berliner Flughafen, werden nicht geahndet. Ermittlungen im Rechtsextremismus, siehe NSU, lassen am Aufklärungswillen zweifeln. Wenn die Justizminister glauben, ihre politische Verantwortung nur über abhängige Staatsanwälte durchsetzen zu können, sollten sie aber auch eine Kriminalpolitik machen, die überzeugt.
Die Gewaltenteilung ist beschädigt, alle Abhängigkeiten weisen auf einen Parteienklüngel, der sich der Wirtschaft andient. Denn die ist weitgehend ein demokratiefreier Raum. Hier ist der Eigentümer Souverän. Wer über den Kapitalismus nicht reden will, sollte auch über Demokratie schweigen. Einer der es wissen muss, der erfolgreiche Börsenspekulant George Soros, schreibt in seinem Buch „Die Krise des globalen Kapitalismus“: „Der heftige Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft als jede totalitäre Ideologie.“ Man bekenne sich zu keinem anderen Prinzip mehr als dem puren Eigeninteresse. Nicht der Beitrag zum Gemeinwohl zähle, sondern geschäftlicher Erfolg. Das ganze Gerede von Freiheit und Demokratie sei „offenkundig nichts anderes als Propaganda“. Der Marktfundamentalismus sei eine der Formen von radikalem Extremismus.
Als solcher müsste er eigentlich vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Aber der beschäftigt sich lieber mit denjenigen, die gegen diesen Extremismus protestieren. Dabei ist der Kampf um den Erhalt einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit die wichtigste Aufgabe, vor der die Aktivbürger stehen. Eine Zuschauerdemokratie ist untauglich. Denn Demokratie heißt auch, selber schuld sein. Eben haben über Hunderttausend die Petition unterschrieben: Erst stirbt das Recht, dann der Mensch. Das ist wichtig, aber Petitionen genügen nicht mehr. Mündige, wissende, aufgeklärte Bürger praktizieren längst Formen der stärkeren Einmischung und Selbstbeteiligung. Die wirkmächtigste Form ist die Teilhabe an der Gesetzgebung. Darüber wird verstärkt zu reden sein. Wann, wenn nicht jetzt ist alle Kraft gegen die Gefahr von Rechts zu bündeln: Aufwachen, Aufstehen, das Primat der Politik zurückerobern. Also im besten Fall die Vernunft.

 

Primat der Politik zurückerobern – »Aufstehen« soll Möglichkeiten zur Selbstermächtigung eröffnen

Daniela Dahn

Die Bewegung »Aufstehen« will sammeln, ohne zu spalten. Sie könnte den pflichtvergessenen Parteien Dampf machen und so neue Mehrheiten schaffen.

erschienen in neues deutschland 18./19. August 2018

Angesichts der postdemokratischen Auflösungserscheinungen im Lande, in Europa und in der Welt wollen sich viele Menschen mit den mangelnden Möglichkeiten zu Einmischung und Selbstermächtigung nicht mehr abfinden. Gerade im weitesten Sinne Linksorientierte wollen nicht in Ratlosigkeit und Resignation verharren. Das zeigt der große Widerhall, den die Idee einer Sammlungsbewegung schon in den ersten Tagen des Registrieren-Könnens erfährt. Bislang war für Hunderttausende die einzige Möglichkeit, ihre Veränderungswünsche durch Resolutionen und Appelle an die Politiker zu erbitten. Das war mitunter nicht ohne Wirkung, befriedigt aber das Bedürfnis aktiv mitzugestalten nicht.
Dazu sind die noch aus dem vorigen Jahrhundert mitgeschleppten und aufgestauten Probleme zu grundsätzlich. Ob eine vernünftige Politik die Bürger vor dem globalen Finanzkapitalismus schützen kann, ist bisher nicht bewiesen. Denn die Macht der Wirtschaft ist größer als die der Politik. Die zersplitterte nationale und internationale Linke stellt derzeit keine konzept- und handlungsfähige Opposition dagegen dar. Opposition aber ist die Seele der Demokratie.
Der Auftrag der Sammlungsbewegung wäre, das Primat der Politik zurückzuerobern. Kann man dafür sammeln, ohne zu spalten? Den drei quasi-linken Parteien im Bundestag war bisher die Kultivierung ihrer Unverträglichkeiten wichtiger als das Ergreifen einer gemeinsamen Veränderungsoption. Dabei sind die programmatischen Schnittstellen nicht gering. Es bleiben dennoch markante Unterschiede, innerhalb und zwischen den Parteien. Insbesondere in der Friedens- oder Interventionspolitik, in der angeblichen Notwendigkeit von Rüstung und deren Export. Hier ist auch die Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsentanten besonders groß.
In solches Vakuum könnten Bewegungen vordringen und damit Abgeordnete ermutigen, ihr vermeintlich freies Mandat mehr am Wählerauftrag zu orientieren, als an den Partei-Hierarchien. Außerparlamentarischer und außerpropagandistischer Druck muss klarstellen: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Und zwar nur diesem – im Gegensatz zur Wirtschaft, die pflichtschuldig nur der Rendite ist. Diese dient nur dann dem Gemeinwohl, wenn sie gerecht verteilt wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein sicheres Maß dafür, wie ungezügelt die vermögende Elite schaltet und waltet.
Das Kapital hat seine internationale Sammlungsbewegung schon vor etwa zweihundert Jahren begonnen. Und die Internationale der Rechtspopulisten ist dabei, diesem Vorsprung nachzueifern. Sie vereinnahmt Gramscis Theorie vom Kampf um die kulturelle Hegemonie und beansprucht die Interpretationshoheit. Wenn ein Jegliches seine Zeit hat, dann ist sie gekommen für einen linken öffentlichen Thinktank. Es geht um Emanzipation, um Gegenhalten, um Aufstehen. Dem sich ein aufrechter Gang anschließt. Über dessen Richtung eine allen Sympathisanten offen stehende Denkwerkstatt ohne hierarchische Strukturen und Tabus beraten sollte.
Dabei muss nicht am Nullpunkt angefangen werden, es gibt kompetente Bürgerbewegungen, Forschungs- und Gesprächskreise, die seit Jahren alternative Entwürfe vorlegen, auch zur Öffnung der Demokratie für mehr Bürgerbeteiligung. So diskutierten wir im Willy-Brandt-Kreis die Anregung des damaligen Direktors des Hamburger Friedensforschungsinstitutes, Dieter S. Lutz, nach der Parteien nicht der einzige Repräsentant des Gemeinwesens sein sollten. Zusätzlich zum Generallistenparlament schlug er ein dem Druck der Interessen entzogenes Expertenparlament vor, einen Zukunftsrat. Über dessen Wahlmodus und Zuständigkeit wäre gemeinsam nachzudenken. Auch darüber, ob es seine Unabhängigkeit durch Verzicht auf Diäten bewahren könnte. Aufwandsentschädigung sollte genügen. Diese Kammer könnte sowohl das Initiativrecht für Gesetze haben als auch ein Veto-Recht, um Politik und Kapital in den Arm zu fallen. Ein solches Gremium wäre der Ort, etwa Klima- und Friedensforschern regelmäßig das Wort zu erteilen.
Ergänzend sollte auch Gregor Gysis Jahre zurückliegender Vorschlag von der, nicht zufällig von LINKEN initiierten, Sammlungsbewegung diskutiert werden: neben dem Bundestag eine Kammer der sozialen Bewegungen zu wählen. Solche Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie bedürfte einer Grundgesetzänderung. Aber wenn der Druck dafür groß genug ist, wird es sich jede Partei überlegen müssen, ob sie sich dem Anspruch auf mehr Bürgerbeteiligung entgegenstellt. Und damit den Eindruck vertieft, die Vertretung des Volkes gegenüber den Eliten habe vermeintlich die AfD übernommen.
Eine solche Kammer wäre mit der Hoffnung verbunden, dass dort die Debatten geführt werden, die man im Parlament vermisst. Hier würde etwa die Friedensbewegung nach dem Sinn von all den Regime Changes fragen, die oft ins Chaos, aber nie in eine Demokratie geführt haben. Stärker hinterfragt würde wohl die US-dominierte NATO, die ohne konkrete Bedrohungs- und Bedarfsanalysen Rüstungsforderungen stellt, die auch als Bestandteil des Wirtschaftskrieges gegen Europa gedeutet werden können. Für diese Bürgerkammer könnten sich all die bewerben, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden: Arbeitslose und Gewerkschafter, Mieter und Bürgerrechtsanwälte, Klein- und Mittelstandsunternehmer, Künstler, Seenotretter und Migranten.
Denn schließlich dürfte die Sammlungsbewegung, in welcher Kammer auch immer, keinen Zweifel daran lassen, dass die Folgen westlicher Lebensweise und postkolonialer Politik Hauptursache für viele Flüchtende sind, ihre Heimat zu verlassen. Schon deswegen haben wir die moralische Verpflichtung, gegenüber denjenigen, die sich unter Lebensgefahr bis zu uns durchgeschlagen haben, mitfühlend und entgegenkommend zu sein. Die praktischen Schwierigkeiten der Aufnahme verlangen genauso viel Beachtung. Ohne Solidarität keine Heimat. Die Geflüchteten erteilen uns eine Lektion, die zu ignorieren sich niemand, und schon gar nicht versammelte Erneuerer, leisten können.
Um mitzumachen, muss und kann man gar nicht einer Meinung sein. Der gemeinsame Wille zur Veränderung mag vorerst genügen. Da werden sich auch einige ungebetene Gäste einfinden, was zu verkraften ist, wenn die Stichhaltigkeit des Argumentes ausschlaggebend ist. Es soll an vereinter linker Kraft nicht interessierten Kreisen kein weiteres Mal gelingen, ein Zusammengehen zu verhindern, wie unlängst bei der alten und jungen Friedensbewegung. Einem Neuaufguss der unseligen Querfrontdebatte durch das Hochspielen einiger weniger Trittbrettfahrer sollte von Anfang an eine Absage erteilt werden.
Keine Experimente mehr, schallte es 1989 von konservativer Seite, um das neoliberale Experiment ungestört durchziehen zu können. Verändert wird in Umbruchsphasen allemal, fragt sich nur, wer in wessen Interesse agiert. In einem solchen historischen Moment plötzlich ohne Konzept dazustehen, ist eine traumatische Erfahrung der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Sie bedarf keiner Wiederholung.
»Aufstehen« wäre auch die Suche nach der zu gewinnenden Zeit. Bleibt zu hoffen, dass sie gelingt. Ein Experiment. Kein Spiel. Denn Vorsicht, allzu viele Versuchsanordnungen hält die diesseitige Geschichte womöglich nicht mehr bereit. Wird die Chance verspielt, rette sich, wer kann: Der Wald steht schwarz und schweiget.

 

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Willkommen und Abschiebung – Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Daniela Dahn

erschienen in: der Freitag | Nr. 25 | 21. Juni 2018

Willkommen und Abschiebung

Über menschliche Kälte, den Kampf der Kulturen von Haben oder Sein und das Gebot grundstürzender Umverteilung: Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Der sogenannte Befreiungskampf gegen illegale Einwanderung hat das Potenzial, Regierungen zu stürzen und Faschismus zu mobilisieren. Nicht nur in Ungarn, wo sich fast drei Viertel der Wähler zu Kämpfern erhoben haben. Wer sich in Deutschland an der Basis umhört, gerade unter Gewerkschaftern, der könnte wie der Soziologe Klaus Dörre zu dem fassungslos machenden Schluss kommen: Der Faschismus ist nicht mehr aufhaltbar. Und morgen gehört ihnen Europa?

Man muss miteinander reden, heißt es allenthalben. Also reden wir. Die Vertreter von Willkommen und Abschiebung. Die Unterscheidung ist unscharf. Allein die Wortwahl – wegschieben, Schnee schieben, Menschen schieben. Der eher dem Abschottungslager zuzurechnende Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz schrieb 2016 im Cicero: „Dass Menschen aufgezwungene Veränderungen nicht wollen, dass sie Parallelgesellschaften ablehnen, dass sie kulturelle und religiöse Konflikte nicht wünschen, ist weder fremdenfeindlich oder rechtsradikal, noch rückschrittlich, sondern ihr gutes Recht.“ Natürlich sind mit dem Aufeinandertreffen fremder Kulturen Konflikte verbunden; wer sie nicht selbst erlebt, wird über die Medien reichlich damit versorgt.

Wofür Medien (und Psychologen) weniger sensibilisieren, ist, sich in die zu versetzen, denen seit vielen Generationen von Wohlstandsmenschen wie uns brutale Veränderungen ihrer gewohnten Lebensweise aufgezwungen werden. Die Parallelgesellschaften der übelsten Art ertragen mussten und müssen: als Sklaven, Kolonialisierte, Missionierte, Opfer imperialer Putsche und des Terrors kapitaler Ökonomie und auch noch des Krieges gegen den Terror. Der Trugschluss, ein kleiner Teil könne unbeschwert in Luxus leben, während der Großteil dafür in Armut und Konflikten versinkt, könnte gerade darauf beruhen, dass wir nicht wünschen, diesen Missstand als „kulturellen Konflikt“ wahrzunehmen.

Auch religiöse Konflikte mögen wir gar nicht. Wir finden es bedauerlich, wenn westliche Länder islamische in Kriegen mit Erniedrigung, Leid, Raub, Chaos und so genährtem Fundamentalismus geflutet haben. Aber es gab keine Alternative zum Schutz unserer und ihrer Sicherheit. Was ist der Dank? Jetzt wird der Hindukusch auch in Deutschland verteidigt.

„Wir wollen unsere abendländische und christliche Kultur“ bewahren – hält die AfD dagegen. Der Mythos vom Abendland war auch den Nazis willkommen, als Abgrenzung gegen „jüdischen Bolschewismus“ und alles Fremde. Nun richtet sich das Geschütz gegen die „islamische Überflutung“. Da schaltet so mancher Erzbischof, beinahe wie einst Don Camillo, bei unliebsamen Kundgebungen schon mal die Kirchenbeleuchtung aus. Muslime brächten auch Werte mit, die zu beleben uns guttäte – wie familiärer Zusammenhalt, meint der Ratsvorsitzende und wirft der AfD „menschliche Kälte“ vor. Innerchristliche Konflikte, wie befremdlich sie auch sein mögen, werden als nicht so störend empfunden wie die mit fremden Religionen.

Grünbeins Weltrevolution

Dabei prägt unsere Lebensweise Migranten viel mehr als umgekehrt. Die allermeisten Muslime passen sich nach einiger Zeit der hier üblichen Familienplanung an und sind toleranter als gedacht. Selbst von den hochreligiösen Sunniten in Deutschland wollen laut einer Bertelsmann-Studie 40 Prozent homosexuelle Paare heiraten lassen – in der Türkei wollen das nur 12 Prozent. Gar 90 Prozent „unserer“ Sunniten halten die Demokratie für eine gute Regierungsform, also nicht die Scharia.

Sind noch alle an Bord? Hört noch jemand zu? Ist es tatsächlich unser Recht, uns frei zu halten von Übeln, die wir aktiv oder durch schweigende Duldung anderen antun? Die Übereinstimmung mit der eigenen kleinen Welt verlieren – nicht mit uns, rufen die aus dem Westen, nicht schon wieder, die aus dem Osten. Und beide wissen: Es wird nie wieder, wie es war.

Denn es darf nicht so bleiben, wie es war. Mit unserer Kultur des Habens und der Ignoranz gegenüber der immer offensichtlicher werdenden Erkenntnis der „Habenichtse“: Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich. Allein in den letzten vier Jahren, so die Internationale Organisation für Migration, sind auf der Flucht 25.000 Menschen umgekommen – hinzu kämen die namenlosen, die in der Sahara verdursteten und im Mittelmeer ertranken. Es ist die Nagelprobe für Wutbürger, ob sie den Glutkern des Humanismus verinnerlicht haben: Alle Menschen sind gleich an Würde und an Rechten. Alle, nicht nur Bio-Deutsche, die es so wenig gibt wie Bio-Autos. Deutschland hat seinen ökologischen Fußabdruck für 2018 bereits Ende April hinterlassen. Der weitere Verbrauch geht auf Kosten anderer, Ärmerer. Deren Existenz nicht selten internationale Konzerne mit deutscher Beteiligung durch Knebelverträge und verseuchte Natur zerstört haben. Wer gegen diesen permanent betriebenen Verstoß gegen Recht und Würde nie aufbegehrt hat, nicht durch praktisches Engagement noch durch theoretisches Rebellieren in Bild, Schrift und Ton, der möge vom Obersten Gericht mit christlicher Nächstenliebe und Mitgefühl bestraft werden. Und dann aufwachen.

Sicher, die Einreise über die blaue oder grüne Grenze ohne gültiges Visum ist illegal. Aber wessen Antrag nach Prüfung anerkannt wurde, der hatte offensichtlich keine Chance, seine legalen Ansprüche anders als über illegale, lebensbedrohende Wege durchzusetzen. Seine Einreise war legitim. Das Grundgesetz bestimmt: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Da wir politische Verfolgung nicht begrenzen können, dürfen wir auch die Aufnahme der Betroffenen nicht begrenzen. Armut, Bürgerkriege oder Naturkatastrophen gelten, selbst wenn durch westliche Politik mit ausgelöst, als unpolitische Verfolgung. Das ist unlogisch, aber konsequent für eine Welt, die so viele ins Elend gestürzt hat, dass die ursprüngliche Idee von Asyl ad absurdum geführt wurde. Allein mit Aus- und Einwanderung sind die Probleme nicht zu lösen, darüber dürfte sogar Einigkeit herrschen.

Durs Grünbein hat, rückblickend auf die Kontroversen unter Literaten und Verlegern in der Süddeutschen, das eigentliche Problem in einem Nebensatz abgehandelt: Die Lage sei so komplex, dass sie „nur noch durch eine Weltrevolution zu lösen“ sei. Das wurde unhinterfragt hingenommen. Könnten wir uns bitte darauf einigen, an diesem Punkt mit den Überlegungen nicht aufzuhören, sondern anzufangen?

Ende des Jahres will die UNO zwei Pakte verabschieden, einen für Flüchtlinge und einen für geordnete Migration. Die Entwürfe liegen vor. Die Kapazitäten von Gemeinden sollen gestärkt werden, um Flüchtlinge besser integrieren zu können, gezielter auszubilden und leichter arbeiten zu lassen. Individuelle Unterbringung soll größere Camps ersetzen. Denkbar sei eine verpflichtende Aufnahmequote. Friedenspolitik soll weltweit gestärkt werden. Völlig offen bleibt bisher, wer all das Wünschenswerte bezahlen soll.

Ran an die Steuerflüchtlinge

Regierungen haben da meistens eine Idee: Nach einem Bericht der Bundesbank vom Juni 2015 hat die Bankenrettung den Steuerzahler 236 Milliarden Euro gekostet. Das hat heftig auf die Sozialsysteme gedrückt, aber kaum jemand außer der Linken hat das beklagt. Das Finanzministerium hat für 2018 „Flüchtlingskosten“ von 15,2 Milliarden Euro bereitgestellt. Das ist, hochgerechnet über Jahre, im Vergleich mit dem Rettungsschirm für Banken, nur eine Rettungsmütze. Aber alle beschwören den Untergang der Sozialsysteme. Wenn deutsche Rentner heute Flaschen sammeln, dann nicht wegen der Rettung von Geflüchteten, sondern wegen der Rettung von Banken. Wer ist bei 440.000 fehlenden Arbeitskräften wirklich eine Last? Wenn sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, so wurde Ende Mai beiläufig gemeldet, werden schon fünf Jahre nach ihrer Ankunft die Hälfte der Asylbewerber in Lohn und Brot stehen und so der Gesellschaft mehrfach zurückgeben, was sie empfangen haben. Würde all das transparenter vorgerechnet, könnten Verlustängste gemildert werden.

Viel schwerer ist die Bekämpfung von Fluchtursachen, denn die sind systemimmanent. Der diesjährige Haushalt weist 6,6 Milliarden Euro dafür aus. Dagegen 38,5 Milliarden für Rüstung. Da weiß man, wo der Schwerpunkt liegt. Das vorrangige Mandat ist nicht mehr Rettung aus Seenot, sondern Schutz, auch militanter, der europäischen Grenzen. Wie von Frontex praktiziert. Wurde in Kauf genommen oder gar beabsichtigt, dass die wieder steigende Zahl von Ertrunkenen der kostengünstigste und wirksamste Schutzschild gegen Fluchtwillige ist? Die Konsuminseln im Norden werden immer brutaler verteidigt. Wer das befürwortet, stärkt wohl kaum den Rechtsstaat, sondern wachsende, faschistoide Strukturen. Und beschädigt so Deutschland. Hoppla, gab es da eben Tumulte? „Andersdenkende sind niemals die Feinde der Demokratie, sondern die zu verstehenden Symptomträger von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“, behauptet Maaz kühn. Niemals? Auch nicht, wenn sie Nazis sind? Selbst wenn diese den durch Rosa Luxemburg geadelten Status der Andersdenkenden in Anspruch nehmen, bleiben sie Feinde der Demokratie. Die ihnen dennoch Freiheitsrechte zugesteht. Wenn sie funktioniert, sucht sie auch politische Defizite hinter den rassistisch Verirrten. Aber diese als Symptomträger zu verharmlosen oder gar als gesellschaftliche Entwicklungshelfer zu verstehen – das empfiehlt sich nicht. Wenn nicht eine grundstürzende Lastenumverteilung gelingt, dann wird das Konfliktpotenzial womöglich jeder Kontrolle entgleiten. Wenn die Flucht vor Steuern nur halb so entschlossen bekämpft würde wie die Flucht vor Elend, dann wäre schon viel gewonnen. Die Opfer globaler Missstände sollten nicht auch noch deren Bekämpfung bezahlen müssen. Das käme den Profiteuren zu. Im nationalen Maßstab hieße das, gesicherte Sozialleistungen, aber eine wohlbedachte Zwangsanleihe bei den 5,7 Billionen Euro deutschem Privatvermögen. Vergleichbar dem Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wer das als Kampfansage an Unternehmer und Privateigentümer sieht, irrt. Es ist vielmehr Programm auch ihrer Rettung: Um die subversive Ungleichheit der Bewohner dieser Welt zu mildern, müssten sie einen Bruchteil des wie auch immer entstandenen Vermögens hergeben, um so den Großteil bewahren zu können. Vor Unruhen bis Rebellionen, vor Handelskrieg bis Krieg. Ob der Widerspruch zwischen Nötigem und Machbarem demokratisch zu überwinden sein wird, ist existenziell. Fremdenfeindlichkeit ist letztlich eine Folge der Kapitallogik. Die unversöhnliche Ursache verleugnet ihre Wirkung. Kapitalismus mit menschlichem Antlitz first. Wer lacht sich da tot?

Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben. Damit die Mehrheit am liebsten zu Hause lebt, muss sich vieles, wenn nicht alles, ändern. Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vorantreibt? Prekarier aller Länder, vereinigt euch. Hallo? Ist da noch jemand? Wer hat das Licht ausgemacht?

Originalartikel als pdf

 

Israelkritik und Meinungsfreiheit: Annäherung an ein schwieriges Thema

Daniela Dahn

22.01.2018 Kontext TV

Debatte über Israelkritik und Meinungsfreiheit – Versuch, einer vergifteten Diskurskultur kollegialen Widerspruch entgegen zu setzen

Von: Daniela Dahn und David Goeßmann

Die Debatte von Daniela Dahn und David Goeßmann bezieht sich auf den Blog Angst essen Israelkritik auf.

Erwiderung von Daniela Dahn:

Lieber David Goeßmann,

es freut mich, dass mein Artikel dich zu weiterführenden Überlegungen angeregt hat. Wie schwierig das Thema ist zeigt, dass ich diesmal nicht ganz froh mit deinem vielleicht in der schnellen Empörung geschriebenen Blog bin. Deshalb will ich gleich deiner am Ende geäußerten Bitte nachkommen, es möge unter Linken in der Diskussion mehr Offenheit und „Durcheinander“ geben. Stark finde ich deinen Text im zweiten Teil, wo ganz sachlich daran erinnert wird, wie viele Friedensinitiativen Israel schon ausgeschlagen hat. Auch deine Feststellung, dass Israel durch seine Expansions- und Besatzungspolitik den palästinensischen Terrorismus genährt hat und so z.T. für das Leid der israelischen Juden mitverantwortlich ist, ist kaum zu bestreiten.

Doch am Anfang missfällt mir deine überspitzte Haltung, dass Kritik an Israel einseitig sein muss, da Israel den Konflikt auch politisch allein zu verantworten hat. Das ist falsch. (Aus der Konfliktforschung wissen wir, dass es gerade das Wesen von Konflikten ist, dass sie von mindestens zwei Seiten ausgehen, wenn auch durchaus zu sehr unterschiedlichen Anteilen.) Die Gründung des Staates Israel wäre ohne die deutsche NS-Schuld wohl nie zustande gekommen, d.h. politische Verantwortung trägt Deutschland allemal. Und es kann nichts schaden, wenn wir unter diesem schwarzen Schatten unsere Worte besonders abwägen.

Auch die UN trägt Verantwortung, weil die Teilung Palästinas unsensibel gegen den Willen der arabischen Staaten beschlossen wurde. Da lag von Anfang an Sprengstoff. Der sich sofort entlud, als Israel seine Unabhängigkeit erklärte und eine arabische Allianz im ersten Palästina-Krieg 1948 Israel überfiel, noch vor jeder Expansionspolitik Israels. Die arabischen Staaten haben mit ihrer generellen Nichtanerkennung des Existenzrechts Israels am Anfang keine konstruktive Rolle gespielt. Sie haben diese Position (teilweise) erst aufgegeben, als es machtpolitisch und militärisch für sie keine Chance mehr gab. Daher sind das Existenzrecht Israels und das Selbstverteidigungsrecht für mich nicht, wie du schreibst, PR-Slogans, sondern wirkliche Rechte.

Wir müssen uns hier nicht all der bekannten Verfehlungen bei der Durchsetzung dieses Rechts vergewissern, die bis heute nicht erfolgte Aufarbeitung der Nakba usw. Ich werfe allerdings auch der palästinensischen Seite vor, dass in ihren Schulen der Holocaust nicht gelehrt wird. Wie soll man sich gegenseitig verstehen, wenn jede Seite die Leidensgeschichte der anderen tabuisiert? Die Einerseits-Andererseits Betrachtungsweise ist unverzichtbar, will man nicht zu verkürzten Schlüssen kommen.

Ich gehöre nun wirklich zu den Chomsky-Verehrerinnen, habe ihn oft zitiert. Seine Verteidigung der Faurisson-Rechte hat natürlich mit Antisemitismus nichts zu tun, sondern mit seiner Auffassung von Meinungsfreiheit. In diesem Fall hätte ich seine Intervention aber  für verzichtbar gehalten. Die Holocaust-Leugnung ist ja keine Meinung, sondern die Verbreitung eines volksverhetzenden Fakes. Sehr zu Recht ist die Klage von Faurisson 1992 vom Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zurück gewiesen worden. Über die Grenzen von Meinungsfreiheit in den sozialen Medien und die Frage, wer diese setzt, wird zurzeit viel diskutiert. Im UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte ist dazu eigentlich alles gesagt: Die Meinungsfreiheit muss da ihre Grenze finden, wo es für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer erforderlich ist.

Es ist sicher von der Meinungsfreiheit gedeckt, wenn der von dir zitierte israelische Sicherheitsmann die Brutalität der israelischen Okkupation ähnlich findet wie die der Deutschen im 2. Weltkrieg. Ich finde das dennoch maßlos. Massenerschießungen wie im ukrainischen Babi Jar, wo an 2 Tagen 30.000  Juden umgebracht wurden, Massaker wie im französischen Oradour, wo alle Bewohner niedergemetzelt wurden oder die Methode der Verbrannten Erde in Russland und Weißrussland, wo immer wieder Menschen in Holzkirchen und Scheunen bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, wie die 257 Frauen und Kinder in der Dorfkirche von Dory, nahe Minsk – solche Gräuel  bleiben SS und Wehrmacht vorbehalten.

Das schier unerträgliche Ausmaß der Verbrechen bringt es mit sich, dass das Thema nicht ohne Emotionen behandelt werden kann. Ein Schlüsselsatz von Albert Camus hat mich zu Vorsicht  gemahnt, wenn Opfer zu Tätern werden:“Wer lange verfolgt wird, wird schuldig.“Es geht nicht darum, moralische Vorwürfe an die ganze israelische Gesellschaft zu richten, sondern deren tiefe Zerrissenheit zu beklagen und jene zu bestärken, die so differenziert und sachlich wie möglich, die Interessen hinter der israelischen Politik aufdecken. Interessen, die denen der Mehrheit der Gesellschaft widersprechen.

Daniela Dahn


Antwort von David Goeßmann:

Liebe Daniela Dahn,

vielen Dank für Deine Kritik und die Ergänzungen. Die Rückmeldung hat mich sehr gefreut, umso mehr, als Du auf eine Reihe von Dingen hinweist, auf die ich nicht eingehe, die aber wichtig sind. Auch gibt es Stellen, die missverstanden werden können und stärkerer Erläuterung bedürfen. Vielleicht kann ich zur Aufklärung der Sachverhalte und der unterschiedlichen Positionen mit einigen Anmerkungen beitragen.

Ich habe nicht den Eindruck erwecken wollen, dass Israel für alle Missstände in der Region verantwortlich ist. Auch nicht, dass die arabische und palästinensische Seite keine Fehler begangen hat und weiter begeht. So sind die Selbstmordanschläge oder das Abfeuern von „Raketen“(meist selbstgebastelte Geschosse mit wenig Explosionskraft) kriminell und destruktiv. Sie unterminieren die Chancen, Israel und die USA dazu zu bringen, das Völkerrecht und die Forderungen der internationalen Gemeinschaft sowie des Internationalen Strafgerichtshofs anzuerkennen.

Wie Du richtig feststellst gibt es in jedem Konflikt Gewalt, Fehler, Missstände auf beiden Seiten. Daraus folgt eine Reihe von „Einerseits-Andererseits“. Du hast einige genannt. Wenn wir vor 1948 zurückgehen würden, wären noch andere Faktoren zu nennen, die den Konflikt beeinflusst oder hervorgerufen haben. Aber bei der Frage, wer die politische Verantwortung für die gegenwärtige Konfliktlage zu tragen hat, ist das nicht entscheidend. Vor allem ist heute die Frage gar nicht mehr wie noch am Anfang „Staat Israel“ –  ja oder nein. Der politische Konflikt ist seit Jahrzehnten: Staat Israel, aber keiner für die Palästinenser. Das ist der Grund für die Gewalt, die Missstände, die Unsicherheit, die Bedrohungen in Palästina. Denn nach dem Sechstagekrieg hat sich die Konfliktlage entscheidend verändert.

Für die Beantwortung der Frage nach der Verantwortung für die gegenwärtige Konfliktlage lassen sich meines Erachtens zwei zentrale Beobachtungen machen bzw. müssen gemacht werden.

1. (Darauf habe ich schon im Blog hingewiesen): Israel ist Besatzungsmacht und blockiert seit vier Jahrzehnten das Recht auf nationale Selbstbestimmung der Palästinenser, die vom Völkerrecht, der internationalen Gemeinschaft und dem internationalen Strafgerichtshof eingefordert wird. Israel zusammen mit den USA verweigert aber seit den 1970er Jahren die von allen drei Instanzen geforderte Staatslösung. Das ist ein Verstoß gegen eines der höchsten internationalen Rechte; die Besatzung, die Annexion von Land ist illegal, wie der internationale Strafgerichtshof in einer Entscheidung 2004 feststellte. Letztlich ist die Besatzung von fremdem Territorium ein Kriegsakt. Außerdem sehen wir, dass Israel weiter „facts on the ground“ schafft mit illegalen Aneignungen (so der Strafgerichtshof). Die einseitige Besatzung unter Zwang und Gewalt, der einseitige Rechtsbruch, der Isolationismus bei der Blockade der Friedenslösung („rejectionism“ von Israel und den USA) haben den gegenwärtigen Konflikt erzeugt. Die Partei, die den Konflikt hervorbringt und ihn künstlich am Leben erhält, obwohl eine Lösung seit langem offen auf dem Tisch liegt, aber von ihr zurückgewiesen wird, um weiter „facts on the ground“ zu schaffen, also Expansion über Sicherheit zu stellen (reichlich dokumentiert, auch als intentionaler Akt), ist verantwortlich für das, was aus diesem Verhalten resultiert.

2. Alle Kriege und Militärinterventionen Israels stellen nicht Selbstverteidigungsakte, sondern gewollte Kriege dar, mit der „möglichen Ausnahme“ des sogenannten Unabhängigkeitskriegs 1948. Das ist jedenfalls das Ergebnis des Standardwerks von Zeev Maoz. Er ist Professor für Politikwissenschaften der „University of California“ und ehemaliger akademischer Direktor an der Nationalen Militärakademie der israelischen Streitkräfte. Die akribische Untersuchung des konservativen israelischen Militärhistorikers und Politologen: „Defending the Holy Land. A Critical Analysis of Israel’s Security and Foreign Policy“ kommt auf über 700 eng bedruckten Seiten zu dem Schluss, Israel sei nicht aufgrund einer feindlichen Umgebung von außen, quasi als Opfer, zu einem „Sparta of modern times“ aufgestiegen. Die Analyse der Logik, der Muster und der Implikationen von Israels Gewaltausübungen zeige über die Zeit, so Maoz, eindeutig: „The major theme is that most of the wars in which Israel was involved were the result of deliberate Israeli aggressive design, flawed decision making, or flawed conflict management strategies or were avoidable. Israel’s war experience is a story of folly, recklessness, and self-made traps. None of the wars – with a possible exception of the 1948 War of Independence – was what Israel refers to as Milhemet Ein Brerah (‘war of necessity’). They were all wars of choice or wars of folly“. Für den israelischen „low intensity warfare“, also die diversen Formen des Staatsterrorismus (vor allem die „gezielten Tötungen“ mit jeder Menge „casualties“ und „bystanders“), gelte dasselbe. Auch diese Form der „Kriegführung“ (also Staatsterrorismus) habe „escalation, dominance and excessive force“ vorangetrieben. Maoz stellt zudem fest, dass diese Politik „largely ineffective“ gewesen sei. Sie habe „major escalation“ hervorgerufen. Die diversen Gazakriege und Militärinterventionen in jüngerer Zeit sind zudem in ihrer Form keine Kriege mehr, sondern Massaker an einer eingeschlossenen, wehrlosen Zivilbevölkerung, sicherlich mit Vorwänden gerechtfertigt als Selbstverteidigungsakte. Aber die Rechtfertigungen fallen bei einer Prüfung wie Kartenhäuser in sich zusammen. Damit vergleichbar denen beim Afghanistankrieg oder dem Irakkrieg. Ich kann hier nur auf meine Kurzanalyse des letzten Gaza-Massakers Gaza, Israel und die Rolle der Medien hinweisen.

Das sind die beiden Kriterien, aufgrund derer ich sage, dass alle Regierungen, die den Kurs Israels bestimmt haben, für den gegenwärtigen politischen Konflikt in Nahost verantwortlich sind. Wenn ich allerdings schreibe, dass Israel verantwortlich ist für den Konflikt, ist das tatsächlich nicht ganz korrekt und ungenau.

Denn eine zweite Präzisierung ist notwendig: Es ist nicht Israel allein verantwortlich für die Konfliktlage der letzten Jahrzehnte. Ohne die USA gäbe es die Friedensblockade de facto nicht. Das gilt nicht nur für die diplomatische Ebene, sondern auch in Hinsicht auf die finanzielle und militärische Unterstützung. Europa schaut mehr oder weniger passiv zu und ist vielfältiger Komplize bei diversen Menschenrechtsverletzungen, z.B. bei der indirekten Unterstützung bei der illegalen Annexion von Land oder bei der Lieferung von Waffen an Israel (auf nationaler Ebene oder EU-Ebene). Ich verweise hier auf die Ergebnisse des internationalen Russel Tribunal on Palestine und einem Interview von mir mit Frank Barat, einem Organisator des Tribunals.

Aber die Hauptlast fällt trotz allem auf die Konfliktpartei Israel. Wenn sie ihre Besatzungspolitik aufgäbe und einen Palästinenserstaat ermöglichte, würde niemand sich ihr in den Weg stellen. Im Gegenteil. Den USA ist ein Palästinenserstaat ziemlich egal. Ich hatte also mit „Israel“ „Israel und seine Unterstützer“ gemeint. Aber die Formulierung kann missverstanden werden, auch wenn ich auf die ermöglichende Rolle der USA hingewiesen habe. Israelkritik muss nämlich immer auch eine Analyse und Kritik der US-Außenpolitik beinhalten, sonst fehlt ein entscheidender Teil.

Zur Shoa und der Verantwortung Deutschlands für den Konflikt: Die Ermordung der Juden in Deutschland und Europa ist ein Katalysator gewesen für die israelische Staatsgründung. In dieser Weise sind Deutschland und Europa auch indirekt mitverantwortlich für den daraus erwachsenen Konflikt in Nahost, wie Du zu Recht feststellst. Aber deswegen kann man meines Erachtens nicht sagen, dass Deutschland Verantwortung trägt für die Konfliktentwicklung, insbesondere nach dem Sechstagekrieg. Ich finde ebenso nicht, dass Deutschland eine Verantwortung hat für das, was die Sinti und Roma im Einzelnen machen bzw. die Herero und Nama in Namibia. Auch ihre heutige Situation ist historisch geprägt von dem Völkermord an ihnen durch den deutschen Staat.

Verantwortung kann man nur tragen, worauf man Einfluss hat bzw. schwächer hatte. Zudem haben die auf Nazideutschland folgenden Regierungen der BRD die aus der Vergangenheit sich ergebende Verantwortung für den Konflikt durchgängig als „uneingeschränkte Solidarität“ mit dem Staat Israel missverstanden. Diese „Missverständnis“ deutet der israelische Professor Frank Stern vor dem Hintergrund des widersprüchlichen deutschen Philosemitismus. Denn der Philosemitismus sei, so Stern, zu einer Methode geworden, sich im Nachkriegsdeutschland von der Schuld reinzuwaschen und die BRD in das westliche System mit seiner imperialen, aggressiven Ausrichtung zu integrieren. Das zeige sich auch an zwiespältiger Judenfreundlichkeit des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Eine der führenden Antisemitismus-Forscherinnen Eleonore Sterling, deren Familie Opfer des Holocausts wurde, kommt zudem zu dem Ergebnis, dass Philosemitismus umgekehrter Antisemitismus sei. Beide seien unfähig, Juden als normale Menschen zu betrachten.

Die deutschen Regierungen haben in den letzten Jahrzehnten wenig bis gar nichts unternommen, mit den in ihrer Reichweite liegenden Mitteln, zusammen mit anderen europäischen Staaten, den zerstörerischen Selbstzerstörungskurs Israels zu verhindern oder abzuschwächen. Wenn Israel deutsche „Staatsräson“ ist, wie behauptet, dann sollte alles Mögliche getan werden, den Völkern in der Region Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit zu geben. Das ist aber erst möglich, wenn die Blockade beendet wird. Zudem ist auch Deutschlands Israel-Politik nicht unbeteiligt an dem Konfliktverlauf, wenn auch weit weniger als die USA, z.B. durch Lieferung von Waffen in das Konfliktgebiet an eine Konfliktpartei, die damit Menschenrechte verletzt. Durch die Lieferung von den bestellten sechs Dolphin-U-Booten aus der Kieler Werft, die fähig sind, Atomwaffen abzufeuern, wird die nukleare Bedrohung in dem Konfliktgebiet zudem beträchtlich verschärft.

Vor diesem Hintergrund sollten wir bedenken: Wenn gesagt wird, dass nicht nur Israel (inklusive USA) die politische Verantwortung trägt für die gegenwärtige Konfliktsituation in Nahost, sondern differenziert werden muss bei der Verantwortung (Einerseits-Andererseits), dann müssen wir diesen Standard auf andere Konflikte übertragen, wenn die Konfliktlage dort ähnlich ist. Sonst ist es ein Standard, der nur für Israel gilt. Hieraus ergeben sich problematische Schlussfolgerungen für die politische Kritik und die Friedensbewegung. Es folgt zum Beispiel fast logisch, dass unter Anwendung des Standards die USA nur zum Teil politisch verantwortlich gewesen sind für den Vietnamkrieg, den Afghanistan-Krieg oder den Irakkrieg, weil vieles in den Konflikt hineinspielt, was sicherlich richtig ist. Das gleiche folgt für eine ganze Reihe von Konflikten und Kriegszuständen, wo ein Staat ein anderes Volk seiner Souveränitätsrechte beraubt und sie unter Zwang davon abhält, sie zu realisieren, inklusive der daraus erwachsenen „Gewaltspiralen“. Denn in allen vergleichbaren Konflikten mit einem Aggressor und Besatzer hat die Gegenseite zum Teil sehr brutale Verbrechen begangen, von den Guerilleros in Spanien gegen die Napoleonische Okkupation, über die französische Résistance bis zu dem sunnitischen Selbstmordattentätern oder der „insurgency“ in Afghanistan (Taliban), eindringlich dargelegt in dem Buch „Violent Politics“ des renommierten Professors für US-Außenpolitik und ehemaligen Beraters des Weiße Hauses William S. Polk. Zudem: In all diesen Konflikten sind andere Faktoren für den Konflikt mitbestimmend gewesen, so bei dem Vietnamkrieg die französische Kolonialmacht, die Eskalation durch die Tet-Offensive oder der „Terrorismus“ der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (abfällig: „Vietcong“). Aber trotzdem sind die USA der Aggressor sowie Friedensblockierer bei diesen Kriegen, Konflikten und Besatzungen. Sie sind verantwortlich für den Konflikt sowie alles, was aus dieser Aggression und Blockade sich ergibt, trotz aller Einerseits-Anderseits-Aspekte. Hätten die Taliban das gemacht, was die USA mit Afghanistan angestellt haben bzw. würden die Palästinenser so mit den Israelis umspringen, wie Israel zusammen mit den USA mit den Palästinensern, wäre die Argumentation und die Kritik die gleiche. Die Verantwortung liegt bei dem Konfliktverursacher und Blockierer der Konfliktlösung.

Noch einige Anmerkungen zum Selbstverteidigungsrecht und zum Existenzrecht. Jeder hat das Recht, ob Person oder Staat, sich selbst zu verteidigen. Aber kein Staat hat das Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung, wenn er nicht alle friedlichen Mittel glaubhaft ausgeschöpft hat. Die völkerrechtliche Diskussion ist hier eindeutig. Auch ist die gewaltsame Selbstverteidigung eng begrenzt auf die unmittelbare Abwehr eines imminenten bzw. stattfindenden Angriffs von außen. Sie bringt immer eine hohe Beweislast mit sich. Der Gewaltanwender ist in der Pflicht, die Alternativlosigkeit nicht nur zu behaupten, sondern zu belegen. Vor diesem Hintergrund muss man sagen, dass das „Selbstverteidigungsrecht“ Israels ein PR-Slogan ist, da die Formel pauschal „gewaltsames Selbstverteidigungsrecht“ meint, es sich bei den Akten Israels nicht um Selbstverteidigung handelt (s.o. Maoz, Gazakriege) und außerdem dieses Recht ausschließlich dem israelischen Staat und seiner von den USA bereitgestellten Militärmaschinerie zugestanden wird. Ein „Selbstverteidigungsrecht“ wie es Israel zugestanden wird haben Palästinenser in dem Konflikt per definitionem nicht. Ich kenne jedenfalls keinen, der in der veröffentlichten Meinung die Raketen aus dem Gazastreifen im Zuge der israelischen Massaker als (legitime) „Selbstverteidigung“  bezeichnet hätte gegen israelische Aggression und den Palästinensern ein „Selbstverteidigungsrecht“ zugesteht, und dann noch in Form von Gewaltanwendungen gegen die andere Konflikt- und Kriegspartei. Zudem hat der israelische Staat immer ein Mittel zur Hand, um Sicherheit herzustellen und Gewalt zu minimieren, nämlich die Beendigung der Blockadepolitik. Solange aber Staaten die Möglichkeit haben, Konflikte zivil und ohne Gewalt zu lösen, dennoch immer wieder Gewalt wählen, kann schwerlich von Schutz der Bevölkerung oder Selbstverteidigung gesprochen werden.

Was nun das Existenzrecht angeht ist diese Formel aufgetaucht im Zuge der „unverschämten Angebote“ in den 1970er Jahren von palästinensischer und arabischer Seite. Hier gilt zuerst einmal wieder das gleiche wie schon bei der „Selbstverteidigung“: Es gibt nur ein Existenzrecht für Israel, aber keines für die Palästinenser. Sie haben nicht einmal einen Staat, für den sie ein Recht auf Existenz einklagen könnten. Was das „Existenzrecht“ an sich angeht, verweise ich auf eine Antwort auf einen Post auf Facebook zu meinem Blogbeitrag auf Rubikon. In dem Post wird gefragt: „Kann der Islam, respektive Palästina, Israel und Christentum respektieren. Existenzrecht garantieren? Es ist für mich nicht ersichtlich, leider. Die Expansion der vergangenen Jahrhunderte zeigt es uns. Historiker zeigen uns da unterschiedliche Bilder.“

Ich hatte darauf u.a. geantwortet: „In dem Artikel geht es nicht um Islam, Christentum und Judentum. Darum bitte beim Thema bleiben und nicht wieder abschweifen. Isa Winter, was Ihre Skepsis zum ‚Existenzrecht‘ angeht: 1. Es gibt kein ‚Existenzrecht‘ in internationalen Beziehungen. Aus gutem Grund. Haben die USA etwa das Recht auf Teilen von Mexiko zu hocken, die sie sich in brutaler Weise angeeignet haben? Von den Ureinwohnern ganz zu schweigen. Alle Staatsterritorien sind mehr oder weniger durch Kriege, brutale Grenzziehungen, radikale Eingliederungen und Unterdrückung entstanden. Legitim ist das alles nicht. Was es daher in internationalen Beziehungen gibt, ist die wechselseitige Anerkennung von völkerrechtlich festgelegten Staatsgrenzen. 2. Alle relevanten politischen Akteure erkennen den Staat Israel in den völkerrechtlich festgelegten Grenzen an. Alles andere wäre auch suizidal. Kein Staat der Welt fordert auf politischer Ebene, auch nicht die PLO oder die Hamas, den Ausschluss Israels aus der UN oder die Auflösung des Staates Israel. Rhetorik, dass die andere Seite kein Recht habe da zu sein (s.o.), gibt es auf beiden Seiten. Es gibt Gruppen im israelischen Parlament, die offiziell alle Palästinenser aus Palästina vertreiben wollen und ein Israel in ganz Palästina fordern. In der zionistischen Bewegung ist diese Vision seit ihren Anfängen bis heute sehr prominent enthalten. Aber das alles ist irrelevant. Es geht um die Positionen, die die offiziellen Vertreter im politischen Prozess real einnehmen, nicht um die herumschwirrende Rhetorik, die sich eher nach innen richtet. 3. Während alle relevanten Vertreter Israel als Staat auf der internationalen Bühne anerkennen (obwohl Israel bis heute seine Grenzen offen lässt bzw. diverse israelische Ministerpräsidenten und Außenminister festgestellt haben, dass alle Territorien innerhalb der Separationsanlagen und Mauern im illegal besetzten Westjordanland Teil des Staates Israel ist), kann ein völkerrechtlich, vom Internationalen Strafgerichtshof und der internationalen Gemeinschaft geforderter Palästinenserstaat seit über 40 Jahren nicht einmal anerkannt werden, geschweige denn ein Existenzrecht eingefordert werden. Die Gründe dafür, siehe meinen Artikel. 4. Der Islam kann und muss gar nichts garantieren. Muss die jüdische Religion und ihre Vertreter etwa das Existenzrecht eines Palästinenserstaats garantieren. Und wenn die orthodoxen Rabbiner nicht wollen? Vollkommen irrelevant. (…)“

Mit dem Slogan vom „Existenzrecht“ nur für Israel (wie gesagt ein exklusives Recht) wird genau das überdeckt, dass nämlich kein einziger Staat, auch nicht die politische Vertretung der Palästinenser, den Staat Israel und seine völkerrechtlich bestimmten Grenzen nicht anerkennt. Gleichzeitig wird die politische Rhetorik von diversen Vertretern auf der palästinensischen/arabischen Seite benutzt, um zu suggerieren, die arabischen Staaten oder die palästinensische Seite würden den Staat Israel ablehnen oder gar vernichten wollen. Das geschieht zudem einseitig. Die gleiche Rhetorik auf israelischer Seite wird ausgeblendet und schon gar nicht als Indiz dafür genommen, dass Israel die Palästinenser aus ganz Palästina vertreiben will.

Fazit: Politische Kritik und Friedensbewegung sollten sich wie üblich unerschrocken verhalten: Aufklärungsarbeit betreiben, den Aggressor und Blockierer unter Druck setzen und Strategien entwickeln, um den Konflikt zu deeskalieren und die Friedenslösung voranzubringen. Darum geht es mir. Denn die Palästinenser oder arabischen Staaten können schlicht und ergreifend den Konflikt nicht lösen, auch wenn sie sich noch so brav verhalten. Einzig Israel und die USA können den Kurs von zerstörerischer Selbstzerstörung abschwächen und stoppen. Geschieht das nicht, versinkt die Region wahrscheinlich weiter in Gewalt, Tod, Unsicherheit, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeit.

Zu Faurisson: Da bin ich anderer Meinung wie Du, die UN, viele Staaten der Welt und die meisten, die sich zu dem Thema äußern. Zuerst einmal, obwohl es für die Frage nach Meinungsfreiheit irrelevant ist: Was ich den Einlassungen von Faurisson entnehme (dem Pamphlet, einigen Textfragmenten und Interviews), ist, dass er sich als historischer Revisionist sieht. Er stellt in Frage, dass es möglich gewesen sein soll, Juden in Gaskammern massenweise zu töten, mit ellenlagen Erklärungen. Er bestreitet die Existenz von Tötungslagern, nicht aber die von Konzentrationslagern. Er geht auch von Massenexekutionen aus an den Lagerinsassen, aber sieht vor allem die Bedingungen in den Lagern als Grund für die Toten. Er setzt die Todeszahl wenn ich das richtig sehe unter eine Million an und stellt die Ergebnisse der Standarduntersuchung von Raoul Hilberg zur Ermordung der Juden in Europa in Frage. Er leugnet nicht die Wannsee-Konferenz und die Endlösung, behauptet aber, dass es den Nazis lediglich darum ging, die Juden irgendwie loszuwerden, durch Vertreibung nach Israel und in andere Länder (geografische Lösung). Er sieht auch keine Belege dafür, dass Hitler die Anordnung zur Massenermordung gegeben habe.

Insgesamt habe ich bei den Texten und Videos von/mit ihm den Eindruck, dass er bei der Leugnung der Gaskammern und des Holocausts nicht von Judenhass getrieben ist. Der Einwand, dass die Leugnung der Existenz von Gaskammern an sich „antisemitisch“ sei, ist meines Erachtens nicht richtig. Man kann zum Beispiel den Völkermord an den Armeniern leugnen und relativieren, ohne einen Hass auf die Armenier zu haben. Bei Faurisson scheinen mir andere Triebkräfte im Vordergrund zu stehen. Aber meine Kenntnis ist limitiert. Andere wollen antisemitische Aussagen und Einstellungen gefunden haben.

Nun zu der Aussage, dass die Holocaust-Leugnung keine Meinung sei, sondern die Verbreitung eines volksverhetzenden Fakes. Ich sehe nicht, warum die Leugnung des Holocausts oder die Relativierung bzw. Billigung der Verbrechen der Nazis keine Meinung sein soll. Wenn zum Beispiel die Verbrechen der Kolonialstaaten geleugnet und relativiert werden, dann ist das ja auch eine Meinung, natürlich eine krude, die Opfer entwürdigende, die Realität verkehrende und nicht akzeptable Meinung. Aber für solche Ansichten muss die Meinungsfreiheit gelten wie für die Relativierung, Billigung und Leugnung der Verbrechen der USA mit deutscher Unterstützung, wie sie in der veröffentlichten Meinung rituell und massenhaft zu beobachten ist. Zudem ist die stärkste Leugnung von Verbrechen die der sogenannten „intentionalen Ignoranz“, also das schlichte Verschweigen der Verbrechen des eigenen Lands, während den Verbrechen von gegnerischen Staaten mit massiver Empörung begegnet wird. Ein Standard in der intellektuellen Kultur westlicher Staaten. Solche Meinungen (auch das gezielte Ignorieren ist eine Meinung zu Verbrechen) wird jedoch nicht der Schutz der Meinungsfreiheit streitig gemacht oder gar von Staatswegen per Gerichtsurteil entzogen, obwohl sie Zeugnis einer verrohten Öffentlichkeit sind, mit schwerwiegenden Konsequenzen.

Ich bin wie Chomsky prinzipiell gegen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit für nicht akzeptable Meinungen. Ich halte die in vielen Staaten herrschenden Verbote der „Volksverhetzung“ bzw. der „seditious libel laws“ („aufrührerische Verleumdung“) für falsch. Sie werden auch nie universell formuliert oder gar angewendet, sondern nur selektiv. Und sie können auch das Meinungsspektrum in Hinsicht auf weniger krude Ansichten beeinflussen. Als Noam Chomsky zum Beispiel in einem Interview mit der linken Zeitung New Statesman in England auf die Frage, was er von der Vergabe des Nobelpreises an US-Präsident Barack Obama halte, antwortete, es wäre nicht die schlechteste Wahl; der Preis sei auch schon offenen Kriegsverbrechern gegeben worden, wie Henry Kissinger, teilten ihm die Herausgeber mit, dass sie diese Aussage nicht drucken könnten, selbst wenn Evidenz für die Aussage angefügt würde, da sie eine Verleumdungsklage nach sich ziehen könnte. Das Verleumdungsverbot hat in England auch dazu geführt, dass eine kleine Zeitung, die es gewagt hatte, die Behauptungen der großen Medien in Frage zu stellen, eingestellt werden musste, da sie sich einem Rechtsstreit nicht gewachsen sah.

In einem Land mit 80 Millionen Menschen gibt es 80 Millionen Köpfe mit 80 Millionen eigenen Vorstellungen, Ansichten, Meinungen. Einen strafrechtlichen Stopfen auf jede Menge Krudes, Verletzendes zu setzen, um es aus der öffentlichen demokratischen Arena zu eliminieren, macht für mich keinen Sinn, mit wenigen Ausnahmen, zu denen ich die Holocaust-Leugnung, die Leugnung von Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsbrüche nicht zähle. In Deutschland ist das Medienrecht außerdem ein mächtiges Instrument, Meinung einzuschränken. Vor allem die Unternehmen nutzen diese Mittel, um Unliebsames zu unterdrücken, Medien zu attackieren und Journalisten mundtot zu machen. Auch deswegen gehören diese Einschränkungen abgebaut.

In den 1960er Jahren entschied ein US-amerikanisches Gericht im Zuge der Bürgerrechtsbewegung und der Forderung nach mehr Meinungsfreiheit, dass lediglich Aussagen, die unmittelbar kriminelle Aktion hervorrufen, eingeschränkt werden dürfen. Wenn jemand bei einem Raub zum Beispiel sagt: „Schieß“, dann ist das nicht geschützt durch die Meinungsfreiheit. Diese Ansicht ist umstritten. Aber ich finde, das wäre ein guter Startpunkt für eine freie Gesellschaft im Sinne der Aufklärung. Man muss keine Angst haben. Wir haben in unseren Gesellschaften genügend Mittel, demokratische Mittel jenseits von staatlich verordneten und gerichtlich durchgesetzten Verboten und Strafen, um den öffentlichen Diskurs, Vernunft und Menschlichkeit zu befördern.

Was die „Achtung der Rechte und des Rufs anderer“ als Grenze der Meinungsfreiheit angeht: Natürlich sind diffamierende Behauptungen, Lügen oder rassistischen Äußerungen nicht hinnehmbar. Viele Schwache, Dissidenten, politische „Störenfriede“ sind davon betroffen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass Schmähungen und Herabwürdigungen durch Gesetze, Gerichtsurteile und Strafen verboten werden sollten. Sicherlich, die Folgen der diffamierenden Aussagen können schlimm, manchmal schwer erträglich sein. Das gilt auch für die Antisemitismuskeule. Norman Finkelsteins akademische Laufbahn wurde kaltgestellt durch eine gezielte und schändliche Schmutzkampagne in den USA. Der Friedensaktivist Neve Gordon wurde aufgrund seiner Artikel von einem Professor der Universität in Haifa als „Verräter“, „Unterstützer von Terroristen“, „Judenrat wannebe“ und Antisemit beschimpft. Die Vorwürfe zirkulierten auf rechten Webseiten. Er erhielt Todesdrohungen und eine Flut an Hassmails. Die Leitung der Universität, an der Gordon unterrichtet, erhielt Briefe von großen Spendern, in denen verlangt wurde, dass der „Antisemit“ Gordon gefeuert werden sollte. Trotzdem verteidige ich das Recht derjenigen, die Finkelstein und Gordon als Antisemiten bezeichnen. Die beiden Geschmähten wahrscheinlich ebenso. Nicht die Aussagen sollten gerichtlich verboten werden, sondern die Kampagnen gesellschaftlich bekämpft werden. Es kam bei Finkelstein wie bei Gordon zu Solidarisierungen.

In westliche Demokratien konnte Meinungsfreiheit erkämpft werden, auch wenn es Rückwärtsbewegungen gibt, weil der Druck von Bürgerrechtsbewegungen, die in den USA, aber nicht nur dort, mehr Meinungsfreiheit durchsetzen konnten, heute fehlt. Aber man sollte sich auch klar machen: Die Erzielung von wirklicher Meinungsfreiheit hängt bei uns zu einem großen Teil nicht (mehr) von der Überwindung von strafrechtlichen Barrieren ab (auch wenn die Barrieren gerade erhöht werden), sondern von einer veränderten Informations- und Meinungskultur. Darauf können wir uns glaube ich relativ schnell einigen.

Abschließend zu dem Vergleich des ehemaligen Leiters des Shin-Bet Carmi Gillon. Deinen Einwand kann ich nachvollziehen, glaube aber nicht, dass Gillon den Vergleich so meinte. Der Vergleich ist moralisch gemeint und nicht als eine 1-zu-1-Übertragung. Ich glaube, man würde ihm Unrecht tun, den Verweis zu sehr zu pressen. Er versucht aufrütteln und auf die Verbrechen, die zerstörerische Selbstzerstörung Israels hinzuweisen, die in der veröffentlichten Meinung wenn überhaupt nur sehr bedingt zum Thema gemacht wird. Das gilt für die Menschenrechtsverletzungen, das Besatzungsregime, aber auch die israelischen Kriege und die darin enthaltenen Massaker. So wurden allein beim Einmarsch und der Besatzung des Libanon 1982 mindestens 20.000 Palästinenser und Libanesen getötet, 80 bis 90 Prozent Zivilisten darunter; 30.000 wurden verletzt, viele Amputierte aufgrund der verwendeten Cluster- und Phosphorbomben, bereitgestellt von den USA. Die palästinensischen Flüchtlingslager im Süden wurden durch die mörderischen Bombenangriffen der israelischen Luftwaffe dem Erdboden gleich gemacht, Teppiche von toten Flüchtlingen zurücklassend. Nach der Kontrollübernahme des israelischen Militärs konzentrierten Soldaten allein hunderttausend Palästinenser und Libanesen auf den Stränden nahe Sidon, überließen sie dort über Tage der gnadenloser Hitze und den erniedrigenden Bedingungen. Die Gefangenen in den „Konzentrationslagern“ (so die offizieller Formulierung der Militärs vor Ort) wurden währenddessen gefoltert (zum Beispiel mit Luftgewehrsalven auf die Opfer der Inquisition), ermordet, sexuell missbraucht, geschlagen, während die Familien der Gefangenen hungern mussten und von Terrorbanden, bewaffnet von der Besatzungsmacht, schikaniert oder getötet wurden. Die israelische Armee umstellte schließlich die Lager von Sabra und Shatila. Die verbündeten christlichen Phalangisten durften unter Aufsicht der israelischen Streitkräfte rund 2000 Gefangene in wenigen Tagen abschlachten; die Schreie der Ausgelieferten drangen bis zu den israelischen Posten, während die Soldaten dort Musik von Simon und Garfunkel hörten.

Das Sabra und Shatila Massaker erhielt ausnahmsweise öffentliche Aufmerksamkeit und entfachte sogar einige Kritik. Der Grund: Zu viele Journalisten waren diesmal in der Nähe gewesen, die übliche Einhegung der Berichterstattung funktionierte nicht. Israel sprach daraufhin von westlicher Heuchelei und hatte nicht Unrecht. Andere Massaker von Israel hatten zuvor keine Empörung hervorgerufen. Auch das Niedermetzeln von schutzlosen Bauern, Priestern, indigenen Bergbewohnern, darunter Kinder, ältere Menschen und Frauen, von Kassinga in Namibia über Rio Sumpul in El Salvador bis nach Guatemala, wo 300 Indios 1982 getötet wurden, alles mit militärischer Unterstützung der USA und Frankreichs, wurde im Westen praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Die Reaktionen der Sowjetunion, Syriens, Iraks oder des Irans hatten eine ähnliche moralische Verlogenheit, während die Regierungen dort selbst tief im Blutsumpf steckten. Denn die Verbrechen der israelischen Kriegs- und Besatzungspolitik sind bei weitem nicht einzigartig. In anderen Ländern herrscht Gewalt und Rechtlosigkeit in oft weit größeren Dimensionen.

Um es abschließend so zu formulieren: Es geht mir nicht darum, mit einer Kritik am Einerseits-Andererseits das Differenzieren aufzugeben, Israel plump an den Pranger zu stellen und zum Paria der Welt oder Weltgeschichte zu stilisieren. Das ist alles falsch, blind für die Realitäten und bringt nichts für die Lösung des Konflikts. Aber die Verantwortung des israelischen Staats und der USA für den Konflikt und seine Folgen wiegt schwer. Sie wird auch nicht gemindert durch den Holocaust, die diversen Schichten des Konflikts und seine Entstehung. Deswegen sage ich, dass die Kritik an Israels Expansions- und Blockadekurs und die Unterstützung, die der Kurs von außen erhält, „einseitig“ und „scharf“ sein muss wie bei jedem anderen Staat, der „violent politics“ betreibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles andere führte zu einer Sonderbehandlung, wo ich nicht sehe, wie sie zu rechtfertigen ist.

David Goeßmann

Erwiderung von Daniela Dahn:

Lügen haben keinen Anspruch auf Meinungsfreiheit

Lieber David Goeßmann,

ich danke dir für deine Erwiderung. Ich empfinde es als sehr angenehm und beinahe ungewöhnlich, über dieses schwierige Thema so ohne persönliche Polemik und den sonst spürbaren Willen, dem Gegenüber schwere Defizite nachzuweisen, reden zu können. Gleichzeitig ist es eine gute Übung, auch unter befreundeten Kollegen Differenzen nicht nur auszuhalten, sondern auszudiskutieren. Das tun wir für uns und gleichzeitig öffentlich, in der Annahme, dass wir nicht die Einzigen sein könnten, die diese Fragen bewegen.

Durch deine ausführlichen Ergänzungen ist noch deutlicher geworden, dass wir in der Einschätzung der israelischen Regierungspolitik eigentlich einig sind. Vielleicht versuche ich stärker als du Traumata mitzufühlen und mitzudenken. Etwa das, sich einmal nicht genügend gewehrt zu haben…

Dennoch darf dies nicht als Grund akzeptiert werden, nunmehr andere wehrlos zu machen. Kaum ein Land hat so oft UN-Resolutionen hervorgerufen und missachtet wie Israel: Es verweigert den Palästinensern das Recht auf staatliche Selbstbestimmung. Die Annexionen von Land, von Ost-Jerusalem oder die Wasserabgrabungen sind völkerrechtswidrig.  Der IGH verwarf die israelische Rechtfertigung für die Errichtung einer Mauer um die besetzten palästinensischen Gebiete. Die allgegenwärtigen Schikanen an den Checkpoints und gegenüber Zivilisten in Kriegsgebieten verletzen die Menschenrechte, wie es in den UN-Resolutionen heißt. Mehrere „israelische Vergeltungsschläge“ und „militärische Aggressionen“  wurden als unverhältnismäßig verurteilt. Wie 1981 der präventive Angriff auf einen irakischen Kernreaktor.
Die Israelis möchten Frieden, aber ihre Regierung vollendet Tatsachen, die ihn ausschließen. Die größten Protestdemonstrationen gegen diese Politik hat es in Tel Aviv und anderen israelischen Städten gegeben. Und die schärfste Kritik kam von prominenten jüdischen Intellektuellen aus aller Welt. Wenn dieses angeblich nur jüdischer Selbsthass und jenes ein Deckmantel für Antisemitismus sein soll, welcher Spielraum, bitteschön,  bleibt da noch, sich den Verurteilungen von UN und IGH anzuschließen? Wer diesen Denkraum schließen will, kann es mit Israel nicht gut meinen. So wie man es mit einem Freund nicht gut meinen kann, den man sehenden Auges aber schweigender Stimme in Richtung Abgrund laufen lässt. Und deshalb werden wir nicht aufhören zu fragen, ob dieses Kritik- Verbot nicht vielmehr ein Deckmantel ist, unter dem globale Interessen ungestört verfolgt werden können. Die Existenz Israels sollte ebenso Staatsräson sein, wie seine Gleichbehandlung vor dem Völkerrecht. Alles was auf Ungleichbehandlung hinaus läuft, birgt viel eher die Gefahr des Antisemitismus in sich.

Kurzum, unsere im Detail abweichende Sicht bezieht sich eher auf die Widerspiegelungsebene. Da ich einst meine Diplomarbeit über formale Logik in argumentierenden Texten geschrieben habe, bin ich in diesem Punkt vielleicht auch etwas pingelig.

Das Selbstverteidigungsrecht Israels ist kein PR-Slogan, es hat dieses Recht, wie jeder andere Staat. Die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht wird dann zur Propaganda, wenn völkerrechtlich kein Verteidigungsfall vorliegt. Wie aktuell bei den Angriffen der Türkei auf die Kurden in Syrien, wie sehr umstritten bei dem nun schon 16 Jahre währenden Krieg gegen den Terror – der kein Angriff von Staaten, sondern von privaten Gruppen ist. Und schließlich kann derjenige sich nicht auf Selbstverteidigung berufen, der rechtswidrig ein Gebiet besetzt und von dort Widerstand erfährt. Die UN haben den Palästinensern das Recht bestätigt, sich für einen eigenen Staat einzusetzen, auch mit militärischen Mitteln. http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/gaza-israel-hamas-angriffe-zivilisten-voelkerrecht-interview

Allerdings darf auch die Hamas nicht zivile Einrichtungen und Personen in Israel angreifen. Dagegen durfte Israel sich wehren, hat allerdings versäumt, umgehend den UN-Sicherheitsrat zu informieren, damit dieser eine Verhandlungslösung herbeiführt. Denn in einem dicht besiedelten Gebiet wie Gaza, in dem es keine Fluchtmöglichkeit gibt, ist ein derart asymmetrischer Krieg ein vollkommen überzogener, unangemessener und damit rechtswidriger Gewaltakt. Auch da sind wir uns einig.

Du bestehst aber darauf, dass die Kritik von Israels Expansions- und Blockadekurs scharf und einseitig sein darf, ja muss. Ein klein wenig Rechthaberei ist unvermeidlich, aber gut, das kann ich auch: Die berechtigte Kritik einer Seite, auf deren anderer Seite tatsächlich nichts vergleichbar Kritikwürdiges  existiert, ist noch lange keine einseitige Kritik. Solange sie die objektive Realität erfasst, bleibt sie eine objektive Kritik. Vielleicht ist es auch nur eine Definitionsfrage. Du sagst, wenn sich nur eine Seite kritikwürdig verhält, muss entsprechend auch die Kritik einseitig sein. Für mich klingt einseitig in diesem Zusammenhang immer pejorativ. Da wird etwas unterschlagen. Eben das Einerseits und Andererseits. Entweder die Argumente und Handlungen der gegnerischen Seite, oder, subtiler noch, die inneren Widersprüchlichkeiten der beschriebenen Personen oder Sachverhalte.  Die einseitige Schilderung einer Medaille wird immer unbefriedigend bleiben.

Wo ist Einseitigkeit erlaubt? Ohne Einschränkung in der Liebe. Bedingt auch in der Kunst.  Anwälte dürfen sie zum Beruf machen. Journalisten nicht. Damit meine ich nicht den aus dem Zusammenhang gerissenen und dann zum Hajo-Friedrichs-Dogma erhobenen Imperativ, wonach ein Journalist sich auch mit einer guten Sache nicht gemein machen dürfe. Ein Journalist kann gar nicht arbeiten, ohne Haltung zu zeigen. Denn die beginnt schon bei der Auswahl der Themen, der Interviewpartner und der Fragen. Die Zuschauer von kontext.tv werden keinen Zweifel haben, welche Anliegen die Autoren  zu ihren machen – gerade deshalb schätze ich es.

Gern missverstanden wird meines Erachtens auch die Forderung von Hannah Arendt, Tatsachen und Meinungen seien streng voneinander zu unterscheiden. So als sei alles in Ordnung, wenn in einem Beitrag nur Fakten vermittelt würden und im anderen nur Meinungen. Geht gar nicht – jedes journalistische Produkt würde verarmen, wenn nicht beides nebeneinander stünde. Meinungsstarke Kommentare und Essays brauchen Tatsachen, auf die sie sich beziehen können und selbst reine Nachrichtenformate, die Tatsachen melden, zitieren ständig Politiker oder Experten, die diese Fakten werten.

Der Wortstamm von Meinung ist mein, es geht um die subjektive Wertung einer Tatsache. Eine klar wertende Meinung ist als solche leicht erkennbar, also hinreichend von einer reinen Tatsachenaussage getrennt. Deshalb können beide getrost nebeneinander stehen. Viel problematischer ist die Vermischung von erwiesenen Tatsachen und unbewiesenen Tatsachenbehauptungen. Also von Fakt und Fake. Zwar gibt es keine absolute Wahrheit, aber doch Aussagen, die durch Beweise aller Art so gut belegt sind, dass ihr Gültigkeitsanspruch Bestand hat. Solche unumstößlichen, elementaren Daten, sind nur durch Lügen zu erschüttern. Ohne das Recht auf nicht manipulierte Tatsacheninformationen wird die ganze Meinungsfreiheit zu einem entsetzlichen Schwindel,  so Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay über Wahrheit und Lüge in der Politik.

Und hier kommt mein entschiedenster Widerspruch – er richtet sich gegen dein Plädoyer für Meinungsfreiheit für Denunzianten aller Art, selbst für Holocaust-Leugner. Du reflektierst ja selbst, wie sehr du damit in einer Minderheitsposition bist und versuchst wacker, die zu belegen. Und ich finde mich ganz ungewohnt bei der etablierten Mehrheitsmeinung hierzulande. Ich versuche zu erklären, warum: Man darf eine offensichtliche Lüge nicht als Meinung verharmlosen. Damit stellt man selbst den Wahrheitsanspruch einer Tatsache in Frage. „Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, ist eine der Formen der Lüge“, so Arendt. Und die stehe nicht selten im Dienst von Gruppeninteressen. Aber die Motive und Absichten sind letztlich nicht relevant.

Entscheidend ist: Bestimmte Dinge sind keine Ansichtssache. Dazu gehört der Holocaust. Wer bestreitet, dass (vor allem) Juden in Gaskammern „vollständig verbrannt“ wurden, industriell ermordet, der erstickt die Überlebenden des Infernos der Lager und deren oft ebenfalls traumatisierte Nachkommen, in einer heute aktiven Giftwolke aus Ignoranz, Hohn und Spott. Ich versuche mir vorzustellen, wie es Opfer empfinden müssen, wenn sie hören, sie hätten sich das Martyrium für ihre liebsten Menschen nur ausgedacht. Das hat das Potential zum Irrewerden. Und deshalb muss eine derart psychische Knute unter Gewaltverbot stehen. Jedenfalls in Deutschland. Die Leugnung der Shoa ist hier ein Straftatbestand – und das ist gut so.

Aber der Schutz vor Verleumdung und Verächtlichmachung gilt auch für deutlich weniger dramatische Vorgänge. Jeder von uns hat das Recht, sich gegen falsche, ehrabschneidende Tatsachenbehauptungen über sich selbst zu verwahren. Denn die haben zerstörerische Kraft. Das Verbreiten von Faks ist von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Eben weil man beides unterscheiden muss.

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe im Laufe der Jahre acht Unterlassungsklagen gegen die Springerpresse erhoben. Das heißt, ich habe verlangt, bestimmte frei erfundene Behauptungen über mich zu verbieten. Also nicht zu wiederholen und aus dem Netz zu löschen. Die Behauptungen bezogen sich leider nicht auf Inhalte meiner Bücher oder Texte, sondern auf die Glaubwürdigkeit meiner Person. Ohne die man als Autorin natürlich erledigt ist. Sieben Mal mussten die Beklagten nicht nur der Unterlassung zustimmen, sondern auch Schmerzensgeld an mich zahlen. Denn Verleumdung ist Schmerz, ist strukturelle Gewalt. Es ist gut, dass unser Rechtssystem dem entgegen tritt. Du würdest es lieber sehen, wenn man nicht Recht sondern gesellschaftliche Solidarität bekäme. Die hatte ich in beglückender Weise. All der öffentlich vorgetragene Zuspruch, in dem es dann doch auch um meine Themen ging, war nicht nur für mich ermutigend. Aber er trug letztlich zu Polarisierung bei, nicht zur Widerlegung von Fakes.

Bei einer Klage kam ein Vergleich heraus, da das Gericht zu dem Schluss kam, eine Behauptung sei so formuliert, dass sie gerade noch als Meinung durchgehen könne. Spätestens da habe ich gelernt zu unterscheiden: Lügen sind verboten, Meinungen erlaubt. Lügen haben keinen Anspruch auf Meinungsfreiheit. Das ist nicht nur ein juristischer Anspruch, sondern auch ein moralischer. Für Journalisten allemal. Das hat mit Verantwortung zu tun.

„Verantwortung kann man nur dafür tragen, worauf man Einfluss hat.“ Das ist eine interessante These von dir, über die es nachzudenken lohnt. Auch was ich oben sagte, spricht dafür. Du meinst, man kann Verantwortung tragen für das Auslösen eines Konfliktes, aber wie der sich dann entwickelt entzieht sich eigener Einflussnahme und liegt daher jenseits eigener Schuldigkeit. Bei aller deutschen Schuld gegenüber Juden, Sinti und Roma oder Herero und Nama, habe sich deren Verhalten nach Jahrzehnten verselbständigt und unterliege keinem kausalen Zusammenhang mehr mit früheren Verbrechen an ihnen. Da beginne ich zu zögern. Und weil ich gerade so im Widerspruchsmodus bin, will ich abschließend auch hier zu bedenken geben: Ist es nicht gerade das Wesen von Gewaltverbrechen anderen Menschen gegenüber, über lange Zeiträume eine Eigendynamik zu entwickeln, die durch eigenes Wollen nicht mehr zu erreichen ist, aber dennoch auf verschlungenen Pfaden in ursächlichem Zusammenhang mit dem frühen Auslöser steht?

Auf jeder Generation lastet die Geschichte der Vorväter. Schuld ist nicht erblich. Aber wer Verantwortlichkeit als Hinterlassenschaft ausschlägt – der überträgt sie einzig auf die einstigen Opfer. Und trägt bei zu Camus erwähnter Einsicht: Wer lange verfolgt wird, wird schuldig. Die Enkel der Verfolger – vielleicht ist es tatsächlich übertrieben, sie noch verantwortlich zu nennen. Können wir uns auf zuständig einigen?

Wir sind zuständig für die Welt im Kleinen und im Großen. Sowohl aus fesselnder Verstricktheit, wie aus freiem Willen, aus nützlichem Eigennutz, wie aus nötiger Solidarität. Mischen wir uns also weiter in unsere eigenen Angelegenheiten ein.

In diesem Sinne auch deiner Arbeit weiter Erfolg wünschend,

Daniela Dahn