Mut für eine Minderheitsregierung

Mehr Streit wagen

Schwarz-Rot Weiter wie bisher mit einer Großen Koalition? Das ginge auch anders. Man muss nur Mut für eine Minderheitsregierung haben

Wehe dem Sieger, kann man da nur sagen. Die CDU/CSU, der nur fünf Sitze zur absoluten Mehrheit im Parlament fehlen, befi ndet sich de facto in Geiselhaft der SPD-Basis. Aber auch diese Basis ist angesichts einer solchen Machtposition nicht frohen Mutes, sondern schier verzweifelt. Sie fürchtet, sich in jedem Fall auf einer Beerdigung wiederzufinden: Entweder wird sie zum Vatermörder, oder sie trägt die eigene Überzeugung zu Grabe.

Der Befreiungsschlag, eine andere Lösung zu bevorzugen, ist aus der SPD-Führung nicht gekommen. Unmittelbar nach der Bundestagswahl im September fl ackerte die Idee einer Minderheitsregierung gelegentlich kurz auf, dann hieß es: Dafür ist Deutschland noch nicht reif. Das scheint allen die Sprache verschlagen zu haben. Deutschland, auf das angeblich die ganze Welt bewundernd schaut – unreif? Da doch ein Drittel aller parlamentarischen Demokratien bereits Minderheitsregierungen haben. Die fehlenden Stimmen zum jeweiligen Thema holen sie sich durch gute Argumente. Auch im Berliner Senat gab es schon erfolgreiche Minderheitsregierungen unter den Regierenden Bürgermeistern Richard von Weizsäcker, Walter Momper und Klaus Wowereit.

Warum sollte das nicht auch auf Bundesebene mehr Substanz und Anspruch in die Parlamentsdebatten und Leben in die Demokratie bringen? Das Parlament würde nicht mehr zum sprichwörtlich gewordenen Vollzugsorgan des Kanzleramtes verkommen. Das Mitregieren käme nicht aus dem Koalieren, sondern aus dem Opponieren. So wäre die Regierung zu flexiblen Reaktionen gezwungen. Das sei zu viel Beweglichkeit, zu wenig Stabilität? Wieso eigentlich? Beständigkeit in der Politik wird im Wesentlichen an der Außen-, Sicherheits- und Fiskalpolitik gemessen. Auf diesen Gebieten gab es in den vergangenen Jahren – leider mag man in vielen Fällen sagen – de facto sowieso schon eine Große Koalition. Die Sozialdemokraten haben die Euro-Rettungsschirme, die Afghanistan-Einsätze, den auch aus Deutschland kommenden Drohnentod, die diplomatischen Rücksichten gegenüber der NSA und vieles mehr mitgetragen. Das würde so weitergehen. Wie auch die auf diesen Gebieten völlig geräuschlos über die Bühne gegangenen Koalitionsverhandlungen gezeigt haben. In diesem Sinne bliebe das Land durchaus stabil.

Die eigentlichen Diff erenzen liegen beim Thema Sozialstaat, also bei der Umverteilung. Der Wirtschaft sexperte und einstige SPD-Staatssekretär Heiner Flassbeck mahnt seine Partei: „Ein Kompromiss mit einer vollkommen falschen Position ist nicht halb richtig, sondern ganz falsch.“ Eine sozialdemokratische Politik, die sich gegen die verhängnisvolle Kürzungspolitik in Europa und für Investitionen in Bildung und Natur durch höhere Besteuerung der Spitzenverdiener stark gemacht hätte, wäre eine Regierungsbeteiligung wert gewesen. Weil das ein Richtungswechsel gewesen wäre. Doch was an Verhandlungsmasse im Angebot war, hat nicht die Dimension zu wirklichen Veränderungen, schon gar nicht, die Stabilität der Wirtschaft zu gefährden. Alles steht unter Finanzierungsvorbehalt. Und ob wir nun die Pkw-Maut bekommen oder die Mütterrente, oder ob wir das Betreuungsgeld behalten, ist doch gesamtwirtschaft lich irrelevant. So what?

Nein, die angeblich gefährdete Stabilität ist kein überzeugender Grund gegen eine Minderheitsregierung. Eher schon etwas anderes: Die Gewohnheit, bequem durchregieren zu können, wollen Politiker nicht aufgeben. Diese Große Koalition hätte es mit ihrer Zweidrittelmehrheit geradezu gespenstisch bequem: Sie könnte Verfassungsänderungen im Alleingang durchwinken und den Widerspruch der nur noch bedingt handlungsfähigen Opposition von Grünen und Linkspartei kalt lächelnd vom unrunden Tisch wischen. Zu viel Stabilität kann auch in Starre umschlagen und der Demokratie schaden.

Mehr Demokratie wagen – ist es noch eine sozialdemokratische Losung? Eine Minderheitsregierung, in der von Fall zu Fall um soziale und ökologische Lösungen gerungen wird, könnte ein solches Wagnis sein. Die Abgeordneten wären vom Fraktionszwang in bestimmten Fällen entbunden und frei, ihren Sachverstand zu gebrauchen. Ihr Mandat bekäme einen anderen Charakter, gebunden an die Wähler, nicht an die Parteidisziplin. Vorgaben der Regierung wären nicht mehr alternativlos. Dies würde eine Abkehr von der bisherigen politischen Kultur bedeuten. Und das wäre gut so.

Umkehr ist geboten. Angela Merkels Losung „Erst das Land, dann die Partei“ kommt bei den Leuten zwar gut an, greift aber zu kurz. Unser Heimspiel fi ndet längst in ganz Europa statt. Und damit unsere auch eigennützige Verantwortung für das Ganze. Die dramatischen Langzeitfolgen des Reaktorunfalls von Fukushima für Menschen und Tiere auf dem ganzen Erdball haben wir noch gar nicht erfasst. Wie inkonsequent die Energiewende auch betrieben wird, hier geht es nicht um die Stabilität des Landes, sondern um die der Menschheit. Wem das bei diesem Wahlergebnis eine Nummer zu groß ist, dem sei mit dem französischen Literaturnobelpreisträger Anatole France versichert: „Jede Regierung macht Missvergnügen.“ Der Staatsbürger bleibt gefragt.

der Freitag 48/13