Ein Posten ist vakant – Freitag 49 vom 08.12.2011

Ein Posten ist vakant

Ich weiß keinen Trost dafür, dass Christa Wolf nicht mehr lebt, außer dem, dass sie gelebt hat. Die Liebe zu Christa Wolf habe ich mit ungezählten Lesern in aller Welt geteilt. Aber mir war durch glückliche Umstände die Gunst zuteil, ihr seit meinem sechzehnten Lebensjahr aus verschiedenen, wohl nicht ganz zufälligen Gründen nah sein zu können. Dafür bin ich dankbar.

Ihre Zugewandtheit zu Jüngeren, deren Fragen sie sich stellte und die sie mit ihrer unbedingten Moralität beantwortete, hat mich nicht weniger geprägt als ihre Bücher. In einem Literaturzirkel, zu dem sich eine Handvoll Schüler einige Jahre bei Wolfs zu Hause traf, sagte sie auch uns, was 1963 der sie beobachtenden Stasi aufgefallen war: Sie vertrete „die Meinung, dass sie das Schreiben werde, was und wie sie es für richtig hält“. Wenn diese Meinung größtenteils dem widersprechen muss, was gehört werden will – darüber machten wir uns keine Illusionen – hat solche Rigorosität bis heute ihren Preis.

Ihr Leben und Schreiben war gleichermaßen auf die Stärkung des Subjekts konzentriert – eine in allen Gesellschaften überlebensnotwendige Kraft. Und dann und wann hatte ich sorgenvoll den Eindruck, in dem Maße, in dem dieses Lebenselixier auf ihre Leser überging, verließ es sie selbst. Alle ihre Bücher entsprangen eigenen Lebenskonflikten, die zugleich zutiefst persönlicher wie gesellschaftlicher Natur waren. Sie lebten von der Spannung zwischen Traum und Realität, die Kunst braucht. Als Kritikerin der DDR-Zustände zerrieb sie sich an der Frage, wie die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein muss. Und wurde dafür mit West-Preisen hochdekoriert auf einen Sockel gehievt, auf dem es zugig und einsam sein konnte.

Stellvertretend für viele in Ost und auch West, die an der Utopie einer gerechten Gesellschaft festhielten, blieb Christa Wolf auch im vereinten Land Dissidentin. Das war so nicht abgemacht. Unglücklich das Land, das Sündenböcke nötig hat. Die Destruktivität dieses archaischen Vorgehens hat sie durchlitten, auch in dem Bedürfnis nach quälender Selbstbefragung. Mit ihrem letzten Buch hat sie dazu ein kunstvolles Metagewebe aus selbstbewussten und zweifelnden, aus ironischen und traurigen Reflexionen hinterlassen – offener als je zuvor. Einmal mehr hat sich Christa Wolf darin als die größte deutsche Schriftstellerin unserer Zeit erwiesen. Eine verlässliche Freundin, auf die zu blicken und mich zu beziehen ich gewöhnt war, lebt nicht mehr.

Ein Posten ist vakant.