UN-Vollversammlung: Lula da Silvas und Joe Bidens Reden zeigen die Gräben dieser Welt

Daniela Dahn

„Wir haben die Freude, die Bahamas, die BRD und die DDR willkommen zu heißen“, so Kurt Waldheim, damals UN-Generalsekretär, vor 50 Jahren. Als letzte Feindstaaten des Zweiten Weltkrieges wurden beide Teile Deutschlands in die UN aufgenommen. Zweck von deren Gründung war, die Gräuel eines solchen Krieges künftig zu vermeiden, oberstes Gebot ihrer Charta ist das Gewaltverbot.
Doch bald zeigte sich die Weltgemeinschaft nicht als vereinte Nationen, sondern als neue Systemkonkurrenz verfeindeter Blöcke. Außerhalb Europas bleibt der Kalte Krieg nicht kalt – weder in Korea, Kambodscha und Vietnam noch in Guatemala oder Nicaragua. Erst der Grundlagenvertrag 1972 gab den Alleinvertretungsanspruch der BRD auf. Der Verhandler Egon Bahr: „Bislang hatten wir keine Beziehungen. Jetzt werden es schlechte sein.“ Das war immerhin ein bipolarer Ansatz, keine „wertegeleitete Außenpolitik“.
Heute soll sich die SPD für die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion verantworten. Doch Glasnost und Perestroika ermöglichten auch der UNO, friedenspolitisch aktiver zu werden. Kanzler Helmut Kohl versprach, das vereinte Germany werde der größeren Verantwortung zur Wahrung des Weltfriedens gerecht werden. Die Chance, die internationalen Beziehungen endlich chartagerecht zu gestalten, wurde aber vertan.
Eine zunehmend unipolare Ordnung formte die Welt durch neoliberale Schocks und militärische Einsätze nach ihrem Bilde. Unter Rot-Grün beteiligte sich die BRD am ersten NATO-Krieg: der Angriff auf Russlands Verbündeten Serbien leitete den Niedergang der internationalen Rechtsordnung ein und damit den Machtverfall der UNO zugunsten der NATO.

Transatlantisch konform wird im Arbeitspapier 5/2015 der Bundesakademie für Sicherheitspolitik Multipolarität als instabil und vorübergehend abgelehnt: „Für die Sicherheitspolitik ist ein ganz anderer Faktor entscheidend: Hegemonie.“ Die beflissene Subordination unter einen Oberbestimmer gilt neuerdings als feministische Politik.

Ja, Autokraten wie Wladimir Putin missachten mit ihrem despotischen Krieg in der Ukraine mühsam errungene internationale Regeln. Aber zuvor haben Demokraten diese Regeln außer Kraft gesetzt. Die unipolare Welt war auch eine recht autokratische Angelegenheit. Hier liegt der explosivste Konfliktstoff in diesem Stellvertreterkrieg.
Deshalb wäre deutsche Verantwortung, sich endlich für Deeskalation durch konstruktive Verhandlungsvorschläge zu engagieren. Die Forderung, Russland möge sich mitten im Krieg bedingungslos aus besetzten Gebieten zurückziehen, um damit Kiew den vom Westen versprochenen Weg zum NATO-Beitritt frei zu machen, ist als Friedensangebot nicht ernst zu nehmen.

„Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass wir alle unfähig sind, die Ziele und Grundsätze der UN-Charta durchzusetzen“, sagte Brasiliens Präsident Lula da Silva bei der UN-Vollversammlung. Eine Kultur des Friedens sei unser aller Pflicht.

Die sich um die BRICS-Gruppe versammelnden Staaten versagen zunehmend die Gefolgschaft. Was US-Präsident Joe Biden in New York zu einer Erfolgsrede trieb, in der er Gemeinsamkeit beschwor. Während die UNO ihre Ziele zur Bekämpfung von Armut und Erderwärmung verfehlt, propagiert er „einen Platz an der Sonne für alle“. Nicht anhören wollte er die Eröffnungsrede des UN-Generalsekretärs António Guterres – in der dieser vor der Spaltung der Welt in West und Ost und Arm und Reich warnte. Der neue Multilateralismus ist für die einen Fluch, für die auf der anderen Seite des Grabens Hoffnung.

erschienen in der Freitag – Ausgabe 38/2023