Daniela Dahn

Friedliche Lösung bevorzugt

Eine Grün-Rot-Rosa-Koalition könnte sich in der Sicherheitspolitik auf Völkerrechtspatriotismus einigen und so den Kernthemen ihrer Wählerschaft näherkommen – BerlinerZeitung 15.6.2021

Ein Leben auf Reisen

Daniela Dahn

Bis zuletzt hat der 97Jährige Walter Kaufmann geschrieben, noch Tage vor seinem Tod eine Buchbesprechung für Ossietzky. Mit dieser Energie hat er es auf über 40 welthaltige Bücher gebracht, in einem Leben, von dem mitunter gesagt wird, es habe selbst einem Roman geglichen. Doch es war in seinem Ausgangspunkt traumatische Realität, auf die er als Romanvorlage gern verzichtet hätte. Als unehelicher Sohn einer jüdischen Mutter im Berliner Scheunenviertel geboren, wurde er mit zwei Jahren von einem wohlhabenden jüdischen Ehepaar aus Duisburg adoptiert, was er erst Jahre nach deren Tod in Auschwitz erfährt. Indizien ließen es ihn später für denkbar halten, dass der Adoptivvater auch sein leiblicher war. Was er nur im vertrauten Kreis erwähnte – wir kannten uns lange.

Zu Hause zunächst wohlbehütet aufgewachsen, bleiben ihm die Demütigungen auf dem Schulhof nicht erspart. Dafür, dass sein Bester Freund zu ihm hält, wird der von den anderen verpönt, es rutscht ihm heraus: »Schade, dass du Jude bist.« (Daraus wurde viel später der Titel eines Buches, das für »meisterliche Kurzprosa« mit dem Literaturpreis des Ruhrgebietes ausgezeichnet wurde.) Als 14Jähriger erlebte er das Grauen beim Anblick der brennenden Synagoge, deren Flammen auf seine Schule übergriffen, und wie sein Vater am selben Tag brutal verhaftet und seine Anwaltskanzlei demoliert wurde. Mit einem der letzten Transporte für jüdische Kinder schickten die Eltern ihn nach London.

Dort wurde er allerdings an seinem 15. Geburtstag als feindlicher Ausländer interniert und später mit 2000 anderen Flüchtlingen nach Australien geschifft, wo er die ersten 18 Monate in einem eingezäunten Wüstencamp verbringen muss. Weiterer Haft entkommt er durch freiwillige Meldung zur Armee, ist danach mal Obstpflücker, Hafenarbeiter, Fotograf, am liebsten Seemann. Ob dort Decksmann oder Kohlentrimmer, neben der Knochenarbeit bleibt Zeit, um an Deck erste Schreibversuche zu machen. Die Short Storys trägt er Interessierten gleich vor Ort vor, bekommt so Kontakt zur Gewerkschaft und zur KP-nahen Melbourne Realist Writers Group. 1953 erscheint auf Englisch sein erster Roman: Stimmen im Sturm. Zwei Jahre später wird er von der Australischen Seemannsgewerkschaft zu den Weltfestspielen nach Warschau delegiert.

Dort lernt er den DDR-Verleger Bruno Peterson kennen, der ihn zum bald stattfindenden Schriftstellerkongress nach Ostberlin einlädt. Die dortige Begegnung mit namhaften Re-Migranten wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Bodo Uhse, die sich nach ihrem Exil alle für die DDR entscheiden hatten, und ihn »ungemein beeindruckten«, war der Auslöser, sich für die DDR zu interessieren. Doch der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, der Spanienkämpfer Eduard Claudius, selbst aus dem Ruhrgebiet, sagte ihm: »Du kommst aus dem Ruhrgebiet, auch dort werden gute Leute gebraucht. Überleg dir das.«

Kaufmann nimmt den Rat an und reist nach 17 Jahren erstmalig wieder nach Duisburg. Es kostet ihn Überwindung, an seinem Elternhaus zu klingeln. Seit die Villa »frei gezogen« war, so hatte er gehört, wohnte dort eine Unternehmerfamilie. Hereingelassen wird er nicht. Auf der Steintreppe erklärt

ihm die nunmehrige Besitzerin großherzig, sie habe seiner Mutter auf deren Bitten ihr festes Schuhwerk mit auf »die lange Reise« gegeben. Durch die offene Tür sieht er im Foyer noch das Bild hängen, dass seine Mutter einst gemalt hatte. Von Nachbarn, auf Behörden und Ämtern wird er kühl empfangen – niemand weiß was, niemand will was wissen. »Ich fand die Erfahrung so kläglich, so wenig ermunternd, dass für mich nur die Alternative blieb, entweder nach Ostberlin oder zurück nach Australien«, sagt er im Mai 2019 der Jüdischen Rundschau. »Aber Sie hatten nicht irgendwelche prinzipiellen Sympathien für das ́andere System ́«, fragte das konservative Blatt nach und musste sich anhören: »Ich wollte, wenn überhaupt nach Deutschland, nur in dieses, das rote, das linke Deutschland, wo versucht wurde, den Sozialismus aufzubauen.«

Als perfekt Englisch sprechender Autor mit australischem Pass ist er in der DDR willkommen, wird als Berichterstatter in die ganze Welt geschickt. Etwa zum Prozess gegen Angela Davis in die USA. Im Künstlerort Kleinmachnow, dem Westberliner Zehlendorf benachbart, bekommt er bald ein schmuckes Häuschen am Waldrand zugewiesen. Später bin ich als Oberschülerin im örtlichen Jugendclub für Literatur verantwortlich und lade als allerersten diesen Kaufmann ein, der uns mit seinem charakteristischen, schwarzen Schnauzbart an Mark Twain erinnert. Er liest aus »Stefan, Mosaik einer Kindheit«, noch aus dem Englischen übersetzt. Und wir begriffen betroffen: Um Abenteuer geht es hier nicht.

Das Buch erschien, wie andere autobiografische Romane und Kinderbücher auch, in mehreren Auflagen und machte Walter Kaufmann in der DDR zu einem der authentischen Zeitzeugen der NS-Judenverfolgung. Ob er nicht gespürt habe, dass die Presse nicht frei war, insistierte die Jüdische Rundschau weiter. »Ich war ein jüdischer Emigrant in der DDR und wurde als solcher wahrgenommen. Alles, was ich an Erfahrungen mitbrachte, wurde unverfälscht gedruckt.« Das betraf auch seinen 1980 erschienenen Reportage-Band »Drei Reisen ins gelobte Land«, der enorme Resonanz fand. Israel hatte ihn fasziniert, etwa Begegnungen mit der Anwältin Felicitas Langner und mit Arbeitern oder Minderheiten aller Art; seine Beobachtungen veranlassten ihn aber auch zu dem dringlichen Appell, Araber und Juden mögen friedlich und freundschaftlich zusammenleben.

Zweifellos blieb auch Walter Kaufmann kleinkarierter Dogmatismus nicht erspart, aber er wusste sich übers Reisen hinaus Freiräume zu schaffen. Von 1985 bis 1993 war er Generalsekretär des ostdeutschen PEN und nahm als solcher manch repräsentative oder auch vermittelnde Funktion war. So konnte er durchsetzen, dass die eigentlich verfemten PEN-Mitglieder Stefan Heym und Ralph Giordano in der Vorwendezeit eine öffentliche Lesung bekamen. In seinem 2010 erschienenen Buch »Im Fluss der Zeit« beschrieb er dann seine Freude über die geöffnete Grenze, gleichzeitig war ihm, als habe er »ein Stück Heimat verloren«. Auf eine roten Ziegelmauer in Berlin-Lichtenberg sah er mit weißer Farbe einen Galgen gepinselt, an dem die Buchstaben GYSI hingen. »Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre.«

Schon bald wurde sein Kleinmachnow zum Hotspot für Rückgabeforderungen einstiger westlicher Hausbesitzer. Erst da erinnerte er sich wieder der elterlichen Villa – schließlich wurde jüdisches Eigentum nun zurecht bevorzugt restituiert. Er erzählte mir, wie der Anwalt Otto Schily den Fall

übernahm und ihm sagte: Das erledigen wir mit links. Doch beide mussten sich von Rechts wegen belehren lassen. Das Bundesministerium der Finanzen teilte Herrn Kaufmann im Juni 1995 mit: »Ansprüche nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen sind nicht gegeben, da dieses Gesetz nur für im Beitrittsgebiet belegenes Vermögen gilt.« Der Gesetzgeber hatte es also ermöglicht, dass in Ostdeutschland 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien gestellt werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger.

Trotz manchen Frustes gehörte Walter Kaufmann nach der Vereinigung zu den nicht so zahlreichen Ost-Autoren, die auch im Westen Verlage und Beachtung fanden. »Ein Leben auf Reisen«, so der Titel eines 2016 erschienenen Buches, blieb sein Thema. Aber er war auch in Berlin ständig auf Achse – ob auf Demos, Konferenzen, im Theater, auf Ausstellungen, bei Lesungen von Kollegen oder PEN-Club Treffen –, es war eine vertraut gewordene, schöne Gewohnheit, Walter und seine Lissy zu treffen. Man traf ihn auch auf dem Bildschirm, etwa 2018 im von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten rbb-Film »Schalom Neues Deutschland – Juden in der DDR«. Nach dessen Voraufführung im Kino schrieb er mir: »Meine Aussage, dass ich in der DDR nie mit Antisemitismus konfrontiert worden war, fehlt im Film – sie wurde weggelassen oder fiel einer Panne bei den Dreharbeiten zum Opfer. Ich habe sie mündlich bei der Premiere wiederholt – es ist eine Plage mit diesen Filmmenschen!«

Im letzten Jahr setzte er sich einer solchen Plage noch zweimal aus und machte gute Erfahrungen. Sobald das Berliner Kino Babylon öffnen kann, wird man ihm dort immerhin wiederbegegnen, in einem Dokumentarfilm zu seinem dramatischen Leben. Wie schon jetzt in dem zweistündigen, biografischen Interview, das Sabine Kebir zuletzt auf weltnetz.tv mit dem Hellwachen führte. Nun ist seine Reise zu Ende gegangen. Nicht aber die Möglichkeit, sich auf die literarische Wanderschaft zu begeben, auf der er den Bedrängten eine Stimme gab.

Erklärung zur Beendigung unserer Mitgliedschaft im Beirat von RUBIKON

Daniela Dahn

Daniela Dahn, Rainer Mausfeld, Hans See und Jean Ziegler

Am 27. April 2021 haben wir unseren Austritt aus dem Beirat des RUBIKON erklärt. Unsere Gründe haben wir in einem offenen Brief an Jens Wernicke und an die Redaktion dargelegt und darum gebeten, diese im RUBIKON zu veröffentlichen. Da uns die angeführten Kritikpunkte von grundsätzlicher Bedeutung für ein alternatives Medium erscheinen und da unsere Kritik wohlwollend und solidarisch gehalten war, hatten wir mit unserer Bitte um Veröffentlichung die Hoffnung verbunden, dass es im RUBIKON zu einer konstruktiven Diskussion kommen könnte. Jens Wernicke ist jedoch dieser Bitte nicht nachgekommen. Im Gegenteil: Er hat unseren offenen Brief als „denunziatorisch“ bezeichnet und uns im Fall einer Veröffentlichung angedroht, juristisch dagegen vorzugehen. Um ihm einen solchen Eklat zu ersparen, wählen wir nun den Weg dieser Erklärung, die Gründe unseres Austritts darzulegen.
Zunächst möchten wir betonen, dass wir gerne die Idee und die Initiative von Jens Wernicke unterstützt haben, ein öffentliches Forum in Form eines „Magazins für die kritische Masse“ zu schaffen und dass wir auch weiterhin das Projekt eines emanzipatorischen Forums zur Sicherung einer kritischen Öffentlichkeit außerordentlich wichtig finden.
Dies zu betonen ist uns besonders wichtig angesichts der Tatsache, dass in der Corona-Krise wie auch bei allen anderen machtrelevanten Themen – der Feindbildaufbau gegen Russland ist ein weiteres aktuelles Beispiel – der Druck von Politik und Leitmedien auf alle Medien massiv verstärkt worden ist, sobald sie grundlegend andere Positionen als die Regierungsposition vertreten. Diese Entwicklungen zeigen besorgniserregende Züge von staatspolitischer Repression.
Der RUBIKON wie auch zahlreiche andere kritische emanzipatorische Medien haben die für einen pluralen demokratischen Diskurs wichtige Funktion, sich diesen Einschränkungen des öffentlichen Debattenraumes entgegenzustellen. Leider sehen wir jedoch eine solche Funktion durch einige Entwicklungen des RUBIKON sowohl inhaltlicher als auch editorialer Art gefährdet.
Inhaltlich besorgt uns, dass besonders bei dem ideologisch hoch umkämpften Corona-Thema unserer Ansicht nach RUBIKON selbst inzwischen eine Praxis der Verengung betreibt. Wir haben zunehmend den Eindruck gewonnen, dass Beiträge, die sich in den vertretenen Positionen nicht an die von der Redaktion gewünschte Linie halten, kaum noch veröffentlicht werden. Bei allen Verdiensten, die der RUBIKON und sein Buchverlag bei der Bereitstellung von relevanten Informationen zum Corona-Thema haben, hat eine solche Einseitigkeit mit dem Selbstanspruch zur „Demokratisierung der Meinungsbildung“ unseres Erachtens kaum mehr etwas zu tun. Der von uns wahrgenommene hohe Grad an Selektivität, eine nicht selten mangelnde analytische Sachlichkeit sowie schrille Töne in der Darstellung bergen nach unserer Überzeugung die Gefahr, dass aus dem RUBIKON selbst ein komplementäres Mainstream-Medium wird, das gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen die kritisierten Eigenschaften der Mainstream-Medien wiederholt.
Zugleich haben wir den Eindruck, dass wichtig gewesene Themen, bei denen es um kapitalistische Strukturen, Machtinteressen in Kriegen, kurz um eine Erhellung gesellschaftlicher Kausalitäten geht
und viele andere drängende politische Problemfelder, die ja durch Corona eher größer geworden sind, in letzter Zeit zu wenig thematisiert wurden. Über all dies müsste ein kritischer solidarischer Austausch im RUBIKON erfolgen. Gerade in einer gesellschaftlichen Situation, in der der öffentliche Debattenraum durch Unterstellungen, Zerrbilder, Verfälschungen und Sprachakrobatik aggressiv aufgeladen ist, der öffentliche Diskurs also zunehmend verroht, ist es erforderlich, die demokratische Streitkultur auch und gerade durch innere Pressefreiheit zu verteidigen. Und es gehört dazu, dass wir fordern und selbst dafür streiten, die berechtigt strengen Maßstäbe „journalistischer Sorgfaltspflicht“ nicht nur an die unbotmäßigen Medien anzulegen, sondern ebenso an die regierungsnahen.
Was die editoriale Organisation des RUBIKON betrifft, so verstärkt sich seit längerem unser Eindruck einer Intransparenz der Entscheidungen des Herausgebers Jens Wernicke. Zudem erleben wir ihn in der Vermittlung seiner Entscheidungen als autoritär, so als billige er dem Beirat nur die Funktion eines Aushängeschildes und Werbeträgers zu. Eine sinnvollere Funktion des Beirates, die wir uns vorgestellt und gewünscht hätten, ist für uns daher nicht mehr erkennbar. Vielmehr können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass Jens Wernicke nicht nur Fragen der Organisation, Finanzierung und Redaktion, sondern auch inhaltliche Fragen am liebsten allein entscheidet.
Um nur das jüngste Beispiel zu nennen: Als Mitglieder des Beirats von RUBIKON hatten wir im April Jens Wernicke um Auskunft gebeten, wie die finanzrechtliche Struktur der von ihm geplanten und in seinem editorialen Beitrag ohne Rücksprache mit dem Beirat öffentlich gemachten, vage angedeuteten Stiftung „Libertas Publishing LLC“ aussieht. Immerhin sollen künftig die finanziellen Zuwendungen für RUBIKON in diese Stiftung fließen. Auch wollten wir wissen, worauf sich seine Hoffnung gründet, dass eine solche Konstruktion ausgerechnet in Lateinamerika vor staatlichen, er spricht von faschistischen, Ein- und Übergriffen aller Art geschützt sein würde. Transparenz in Finanz- und Satzungsfragen halten wir in einem sich als aufklärerisch verstehenden Projekt wie RUBIKON für selbstverständlich. Aber wir haben auf keine unserer Fragen eine befriedigende Antwort erhalten.
Wir hatten lange die Hoffnung, dass die von uns auch weiterhin unterstützte Projektidee eines breit angelegten emanzipatorischen Mediums mit der Projektrealisierung des Rubikons in Einklang zu bringen sei. Und wir hoffen auch weiterhin und wünschen dem RUBIKON, dass ihm dies gelingen wird. In seiner gegenwärtigen Organisationsform sehen wir jedoch für unsere Mitgliedschaft im Beirat keine Funktion mehr.

„Zu jüdisch für die Nazis, zu bürgerlich für die DDR, zu links für die BRD“

Daniela Dahn

Warum die Gründerin der DDR-Modezeitschrift Sibylle ihr Leben lang nach einer Heimat gesucht hat. Tochter Daniela Dahn und Enkelin Laura Laabs erinnern sich  Berliner Zeitung – 24. April 2021

 

Falsche Heilsversprechen – Eliten sind unfähig zur Selbstkritik

1990 hätte es die Chance auf eine Erneuerung der Demokratie gegeben. Stattdessen schlug die Stunde der Skrupellosen. Gibt es Hoffnung? Nur dann, wenn die Eliten ihre Privilegien aufgeben DANIELA DAHN, DIETER KLEIN erschienen in Berliner Zeitung, Nr.37, 13.Februar 2021 – Originalartikel als pdf Im Jahr 1990 eröffnete das Ende des Staatssozialismus in Europa die historische…

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UN-Verbot von Atomwaffen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag – 28. Januar 2021

Im Wahljahr sollten sich auch die Parteien zur Ächtung bekennen

Seit dem 22. Januar sind Kernwaffen endlich völkerrechtlich geächtet, genau wie Chemie- und Bio-Waffen. Maßgeblich beteiligt an dem Erfolg war die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Der Vertrag hat einen vorhersehbaren Haken – kein Atomwaffenstaat hat ihn unterzeichnet, aus freiem Willen seine Machtposition geräumt. Anfangs war das EU-Parlament wacker, alle Fraktionen forderten die EU-Staaten dazu auf, die UN-Vertragsverhandlungen aktiv zu unterstützen. Doch dann traf am 17. Oktober 2016 bei der NATO in Brüssel eine ultimative Depesche der Obama-Regierung ein, die alle Mitglieder eindringlich davor warnte, an Verhandlungen auch nur teilzunehmen. Wie in einem Protektorat üblich, haben alle Angesprochenen sofort gekuscht und ihre ursprünglichen Absichten nie wieder erwähnt. Nur die Niederlande nahm als Beobachter teil, um dann gegen den Vertrag zu stimmen. So war der frühe, geschlossene Boykott der NATO-Staaten den übrigen Atommächten willkommener Vorwand, keine einseitigen Entgegenkommen zu erwägen.
Deutschland als Anstifter zweier Weltkriege, käme eine besondere Verantwortung als Friedensstifter zu. Frieden ist absurderweise beinahe ein zu kleines Wort. Es geht um das Überleben der Menschheit. Die Arten sterben schon, das Klima beginnt zu kollabieren und die Demokratie auch. Eine Pandemie unterwirft alle, aber vertieft die Spaltung in Privilegierte und Benachteiligte. Unter solchen Voraussetzungen sollten Politiker mit gebotener Rationalität in der Lage sein, nicht auch noch mit atomarer Auslöschung zu drohen. Denn das Argument der funktionierenden Abschreckung übersieht willentlich die enormen Risiken von Versagen menschlicher und technischer Intelligenz. Stattdessen will die Bundesregierung auf „nukleare Teilhabe“ nicht verzichten und plant für geschätzte zwölf Milliarden US-Dollar 45 lasergelenkte F-18-Kampfjets anzuschaffen, mit denen unter US-Kommando die Bundesluftwaffe deren A-Bomben ins feindliche Ziel bringt. Trainiert wird das in jedem Herbst. Als im Oktober der zweite Lockdown unvorbereitet anlief, als etwa die normalerweise funktionierenden Online-Lieferdienste der Lebensmittel-Ketten restlos überfordert waren (und bis heute sind), alte, gefährdete Menschen zu Hause zu beliefern, da wäre der sofortige zivile Einsatz von Soldaten geboten gewesen. Aber die waren bei den Manövern „Resilient Guard“ in Nörvenich, südlich von Köln, und „Steadfast Noon“ in Büchel, wo unter größter Geheimhaltung der Einsatz von Atom- bomben gegen Russland geprobt wurde. Auf parlamentarische Anfrage lehnte die Regierung Auskünfte dazu ab, da solche Informationen „in besonders hohem Maße das Staatswohl berühren“ und daher nicht gegeben werden können.
Auf keinem Gebiet ist die Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Regierung so abgrundtief, wie in der Frage des friedenspolitischen Staatswohls. Nach einer von Greenpeace initiierten Umfrage sind 92 Prozent der Bundesbürger dafür, dass Deutschland das Atomwaffenverbot unterzeichnet. Allein hundert deutsche Städte haben sich dem ICAN-Städteappell angeschlossen, auf Atomwaffen zu verzichten. Wen repräsentieren unsere Repräsentanten? Die völkerrechtliche Ächtung muss im Wahljahr ergänzt werden durch eine bürgerrechtliche Ächtung aller Parteien, die sich in ihren Programmen nicht unmissverständlich zum UN-Verbotsvertrag bekennen.

Mielke gehorchte

Berliner Zeitung 6.10.2019 Interview mit Daniela Dahn, Schriftstellerin und Publizistin, geboren 1949. Sie war stellvertretende Vorsitzende der Zeitweiligen Untersuchungskommission zu den Ereignissen vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin. Frau Dahn, Sie haben den früheren Stasi-Minister Erich Mielke am 26. Januar 1990 zusammen mit einem anderen Kommissionsmitglied in der Haftanstalt Rummelsburg befragt. Wie kam es dazu?…

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