Oberhaupt der Mächtigen – Joachim Gauck hat keine unbequemen Fragen gestellt

Bilanz Joachim Gauck hat keine unbequemen Fragen gestellt – und es den Eliten damit leicht gemacht

erschienen in der Freitag 06/17

Die Politiker fast aller Parteien sind sich einig: Joachim Gauck hat dem Amt des Bundespräsidenten wieder Würde gegeben. Auch die lobhudelnden Medien blieben nicht ohne Wirkung und brachten ihm, laut Umfragen, hohe Sympathiewerte bei den Leuten. Liest man allerdings die Chats zu der Berichterstattung in den Leitmedien, so ergibt sich ein anderes Bild. Dort äußert die große Mehrheit Verdruss über Gaucks permanente Maßregelungen, man solle sich an die Zielvorgaben der Eliten halten. Wie etwa: „Dieses Land verdient das Vertrauen seiner Bürger.“ Und nicht: Die Repräsentanten dieses Landes müssen sich das Vertrauen der Bürger verdienen.

Von Volksentscheiden hält er nichts. Sein „Wir“ hat etwas Vereinnahmendes. Es sei, „das beste, das demokratischste Deutschland, das wir jemals hatten“, schwärmte er immer wieder. Auch, dass „wir uns das Vertrauen zu unserer Demokratie nicht nehmen lassen“. Vertrauen ist gut, Kontrolle bekanntlich besser. Sicher kann ein Bundespräsident angesichts von Milliardenhilfen für Banken, erwirtschaftet durch staatliche Einsparungen bei Normalbürgern, nicht wie Stéphane Hessel sagen: Empört euch! Aber das Predigen einer „Kultur der Zuversicht“ war ein allzu schwaches Signal für einen Freiheitsapostel. Viele Leser finden sein Verständnis von Verantwortung, nämlich den Status quo der Macht zu bewahren, nervig. „Anpassung ist seine Lieblingsdisziplin“, heißt es in der FAZ-Community.

Dass der Atlantiker zu guter Letzt noch einen US-Präsidenten tadeln würde, hätte er wohl nie gedacht, aber auch das ist schon wieder Mainstream. All die Symptome, die jetzt die westliche Ordnung ins Wanken bringen, sind doch nicht überraschend gekommen, sondern waren seit langem absehbar. Die Kritik Richard von Weizsäckers am Parteienstaat, der machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen in seiner inhaltlichen Führungsaufgabe sei, hat er sich nie zu eigen gemacht. Sein souveräner Vorgänger beklagte, dass die Gewaltenteilung in Deutschland nicht mehr funktioniere. Die von den Parteien bestimmte Stromlinienförmigkeit reiche bis in Medien, Justiz, Bildung, Kultur und Kirche. Die Distanz zwischen Parteien und Bevölkerung dürfe nicht immer weiter wachsen, das bekomme unserer Demokratie nicht. Weizsäcker fragte: „Wo bleibt der politische Wille des Volkes?“

Joachim Gauck fragte lieber, ob die Thüringer einem roten Ministerpräsidenten wirklich trauen wollen. In Ostdeutschland, wo es mit der westlich erprobten Stromlinienförmigkeit noch ein wenig hapert, trifft der fixere Gauck auf größere Skepsis. Die Rostocker, die ihn seit 1971 als Pastor erlebten, lehnten es mehrheitlich ab, Gauck zum Ehrenbürger der Stadt zu ernennen. Auch erinnert man sich, wie er nach 1990 seine Macht genoss, als Millionen unter Generalverdacht gestellte Menschen mit nicht selten eigenwilliger Akteninterpretation nach Stasi-Belastendem für Beruf und Rente „gegauckt“ wurden. Von „öffentlichen Treibjagden“ und „evangelischem Großinquisitor“ war damals auch unter Sozialdemokraten die Rede. Nicht nur der Willy-Brandt-Kreis kritisierte, dass die von ihm geleitete Behörde durch ihr selektives Geschichtsbild zu Fehlurteilen und Legendenbildungen beigetragen habe.

Andeuten und vage bleiben

Für „puren Verrat“ habe er kein Verständnis, hat er im Zusammenhang mit Edward Snowden gesagt, aber ob er den Whistleblower wirklich gemeint oder nur so ins Allgemeine gesprochen hat, war trotz heftigsten Shitstorms gegen Gauck nicht zu klären. Der zweifellos begabte Rhetoriker erwies sich auch darin, gern anzudeuten und vage zu bleiben. Man versteht, was er meint, aber kann es nicht beweisen. Eine auch heute hilfreiche Fähigkeit aus DDR-Zeiten.

Gegen den Vorwurf eines apologetischen Demokratieverständnisses sichert er sich ab, indem er wie die sozialen Bewegungen die Selbstermächtigung der Bürger fordert. Aber wem sollen sie Macht wegnehmen und was dann damit anfangen? Dazu vom Chef kein Wort. Zwischen den Zeilen nur wird klar, man möge das Bestehende noch beständiger machen. Schließlich hätten wir, so der Bundespräsident in der Abschiedsrede, einen Sozialstaat, um den man uns in der Welt beneidet. Das stimmt ja auch, entlässt einen aber dennoch nicht aus der Pflicht, sich für das Drittel der Bürger stark zumachen, die hierzulande entweder schon abgehängt oder prekär vom sozialen Absturz bedroht sind. Angesichts dieser Kluft müsste man über Veränderungen reden, gar über Eigentum, Haushaltsrecht, Reichensteuer. Alles Teufelszeug.

Es wurde Joachim Gauck zu Recht zugute gehalten, dass er sich den Ehrentitel Bürgerrechtler selbst nicht gegeben hat. Aber dieses Manko hat er als Präsident aller Bürger auch nicht wettmachen wollen. Dass die Schöpfung durch den Missbrauch der Natur bedroht ist, schien dem Pastor nicht weiter aufzufallen. Die Protestbewegung Occupy hielt er für unsäglich albern.

„Schwerter zu Pflugscharen“ war seine Losung nie. Obwohl seit Jahren drei Viertel aller Befragten für Abrüstung sind, rügte er, dass wir Deutschen uns der „finanziellen Auszehrung“ der NATO „nicht entgegenwerfen“. Dass ein Bruchteil dieses jährlichen Schwindsucht-Etats von etwa 700 Milliarden Euro reichen würde, um die schlimmsten Fluchtursachen zu mildern, kam ihm nicht in den Sinn.

Unser Herz für die Flüchtlinge ist angeblich weit, „aber unsere Möglichkeiten sind endlich“. Welches Ende, wo genau? Wer Kriege säht, wird Flüchtlinge ernten. Auslandseinsätze befürwortete der Bundespräsident überall dort, wo es zum Schutz bedrohter Menschen geboten sei. Leider ist kein einziger Fall bekannt, in dem das militärische Eingreifen der NATO nicht tausendfach mehr Menschenleben gekostet hat, als zu schützen vorgegeben wurde. Den gern von Werten Redenden trieb dagegen die Angst um, Deutschland könne wegen seiner gelegentlichen militärischen Zurückhaltung als „Drückeberger der Weltgemeinschaft“ angesehen werden. Dabei sein ist alles. Er hätte Thomas Mann vertrauen sollen: „Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.“

Nach Moskau ist der Bundespräsident nie gereist. Zumindest der 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus wäre eine Gelegenheit gewesen, den vielen Millionen sowjetischen Soldaten, die ihr Leben dafür gegeben haben, dass wir heute Demokratie preisen können, Respekt und Dankbarkeit zu erweisen. Jungen Männern und Frauen, die nie zu ihren wartenden Familien zurückkehrten, auch nach vier Jahren nicht, wie Vater Gauck aus russischer Gefangenschaft.

Dabei hat sich Sohn Gauck in seinem Amt den NS-Verbrechen viel offener gestellt, als zu erwarten war. Hatte er doch in den Jahren zuvor beklagt, wir würden „neurotisch auf der Größe unserer Schuld beharren“, das Gedenken an den Holocaust sei in seiner „Einzigartigkeit überhöht“ und drohe „quasireligiös“ zu werden. Als Bundespräsident fuhr er jedoch nicht nur in die KZ Theresienstadt, Buchenwald und Bergen-Belsen, sondern an Schreckensorte deutscher Gräuel wie Babyn Jar, Lidice und Oradour. Und fand dort die richtigen Worte und Gesten. In dieser schwierigen Mission erhielt er auch international Anerkennung von den Betroffenen. Wenn von seiner Amtszeit was bleibt, dann das.