Globalisierung des Zorns. Das Weltsozialforum in Mumbai im Rückspiegel. Freitag 6/2004

Globalisierung des Zorns. Das Weltsozialforum in Mumbai im Rückspiegel

Vorerst sind all die Kämpfer für eine andere Welt in die, ach, immer noch selbe Welt zurückgekehrt. Die Straßenkinder der kleinen Theatertruppe, die mit ihrem unbefangenen, improvisierten Spiel uns Besucher bezaubert hat, werden wieder im Staub von Mumbai sitzen. Zurück in Bhopal ist der Dichter Ramprakash Tripathi, der Teile seines Gedächtnisses einbüßte, als vor nunmehr zwanzig Jahren mitten in dicht besiedeltem Gebiet wegen eingesparter Sicherheitsvorkehrungen die Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide in die Luft ging. Bis heute sind 30 000 Todesopfer zu beklagen, und immer noch gibt es spezielle Hospitäler für Gasopfer. Heimgekehrt ist die vietnamesische Jugendgruppe, die über die grauenvollen Spätfolgen des im Krieg versprühten Entlaubungsgifts Agent Orange aufgeklärt hat, dem größtem Chemiewaffeneinsatz, den es je gab. Noch heute ist der Dioxin-Gehalt im Blut von Menschen und Tieren der Region hundert mal höher als normal.
„Vergeßt mich nicht“, hatte beim Abschied Amauri Queiroz, Delegierter der Afrobrasilianer gebeten, der an das immer noch nicht überwundene strukturelle Erbe aus der Sklaverei erinnerte: Obwohl die Schwarzen in seinem Land fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, gehören die allermeisten von ihnen zu den Ärmsten der Gesellschaft, 97 Prozent der Studenten sind Weiße. Zurück in Kanada wird ein junger Mann seiner Umweltgruppe berichten, welches Staunen er unter von ihrem Land vertriebenen Dalits – Unberührbaren – auslöste, als er kritisierte, daß ein Nordamerikaner in drei Tagen soviel Wasser verbraucht, wie ein Inder im ganzen Jahr.
All diese Zustände kann ein akademisch geprägtes Forum wenn nicht ändern, so doch reflektieren. Und damit bei den Betroffenen, durch die erfahrene Kultur der Solidarität, durch eine fröhliche Art politischer Herzensbildung, Spuren hinterlassen. Nicht nur mit dem Gefühl gehört worden zu sein, sondern mit neuen Kontakten, verheißungsvollen e-mail-adressen und konkreten Verabredungen zu gemeinsamen Aktionen haben die Teilnehmer ihre Batterien aufgeladen, für demokratische Einmischung, gegen die Versuchung von Ohnmacht und Resignation. Schon deshalb war das Ganze viel mehr als ein gigantisches Festival.
Diese mentale Ermutigung schien nötig, nicht nur weil die Bühnen im gastgebenden Hungerland einen viel härteren Kontext boten. Indische Journalisten scheuten sich nicht, die regierende Bharatiya-Janata-Partei wegen ihres Hindu-Extremismus neofaschistisch zu nennen. Verklungen waren die übermütigen Gesänge vom Vorjahr: Ole, Ole, Ola, Lula … Laura Tavares, Professorin in Rio de Janeiro, brachte die Desillusion über die Mächtigen der Welt auf den Punkt: „Sie erlauben uns, jemanden wie Lula zu wählen. Aber sie erlauben nicht, die Wirtschaft zu verändern.“ Arundhati Roy gab sich alle Mühe zu erklären, weshalb so charismatische Opposi-tionsführer und großartige Menschen wie Lula oder Mandela sobald sie in der Regierung seien, vor dem Gott der Marktwirtschaft in die Knie gingen. Sie seien zu Geiseln eines ganzen Spektrums von Bedrohungen geworden, „die übelste davon die Drohung mit Kapitalflucht, die jede Regierung über Nacht zu Fall bringen kann“. Und die Frage drängte sich auf: Sind nicht die großen Konzern- und Bankeigner die eigentlich Unberührbaren dieser Welt? Unangreifbar in ihrem selbstgeschaffenen Kordon aus Gesetzen, Polizei und Kapital?
Der gefeierte Überläufer Joseph Stiglitz, der einst als Vizechef der Weltbank das Desaster dieser Politik nicht nur zu begreifen, sondern auch zu artikulieren begann und folgerichtig gefeuert wurde, sprach den Globali-sierungskritikern aus dem Herzen: Das Modell des liberalisierten Kapitalmarkts funktioniert nicht in den entwi-ckelten Ländern und erst recht nicht in den unterentwickelten. Die Ökonomie gibt heute keine einzige Antwort auf die soziale Frage. Diese Botschaft schien beim Gegengipfel in Davos unvollständig angekommen. Bill Clinton, der sich von Stiglitz einst beraten ließ, billigte in seiner dortigen Eröffnungsrede den „many wonderful people“ in Mumbai zu, die richtigen Fragen zu stellen. Aber die Antworten seien falsch, da sich die Globalisierung nicht zurücknehmen ließe. Er bot eine Arbeitsteilung an, nach dem Motto: Sie fragen, wir antworten.
In der von Inter Press Service herausgegebenen Zeitung des Weltsozialforums „Terra Viva“, finde ich zu meiner Überraschung einen ganzseitigen Beitrag des derzeitigen Präsidenten der Weltbank, James D. Wolfen-sohn. Einsichtig räumt er ein, der Dialog in Mumbai könne den „world leaders“ helfen, die Armut bis 2015 zu halbieren. (Bekanntlich hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich bisher nur vertieft – soll das Sozialforum durch Umarmung in die Verantwortung für das absehbare Verfehlen des erklärten Zieles einbezogen werden?) Angeblich hätten die „Führer neuen Typs“ verstanden, daß ökonomischer und sozialer Fortschritt untrennbar seien. Zum Beweis wird Präsident Lula gelobt, weil er seine Gesundheits- und Bildungsreform durch fiskalische Disziplin (sprich Kürzungen) und die Öffnung des Marktes für ausländische Investitionen finanziert habe. Kein Wort darüber, daß die Erfolge in Asien dort erzielt wurden, wo die Märkte eben nicht bedingungslos geöffnet wurden. Wolfensohn, Chef einer der meistgehaßten Institutionen auf dem Forum, streckt die Hand zu „gemeinsamen Engagement“ aus – was tun?
Obwohl die Substanz an aufschlußreichen Analysen mir diesmal noch geballter als in Porto Alegre vorkam, scheint angesichts des Vakuum an gemeinsamen Handlungsmaximen die Gefahr, sich von der schmeichelnden Rhetorik der anderen Seite vereinnahmen zu lassen, nicht gebannt. Roberto Savio, Gründungsmitglied des Internationalen Komitees des WSF, fürchtet das Aufbrechen eines untergründigen Generationenkonflikts in der Bewegung: zwischen der ersten, die aus der Friedens-, Frauen-, und Umweltbewegung kommt und der zwei-ten, aufgewachsen im Kampf gegen die Globalisierung und somit radikaler. Radikaldemokratischer, würde ich präzisieren. Stärker als zuvor fiel mir die Verurteilung der Kluft zwischen Recht und Realität auf.