Komm lieber Mai – Gastkolumne im ND vom 1.5.05

Fünfzehn Jahre, nach dem der Realsozialismus seine Lernunfähigkeit durch finalen Abgang bewiesen hat, erfasst die Systemdebatte nun auch den Kapitalismus. Und zwei Drittel der Bürger halten dies für gerechtfertigt. Unseren Marsch in die entpolitisierte Beliebigkeit bestätigt ein Blick in den Kalender: Wir begehen einen „Maifeiertag“. Komm lieber Mai und mache … Ausgerechnet der Bundestagskalender spricht noch vom „Tag der Arbeit“. Ein Trauertag für Millionen? Ist das Menschenrecht auf Arbeit nur noch ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert?
Regierung, fast die ganze Opposition und selbst die Gewerkschaftsspitze stehlen sich aus der Verantwortung. Sie verbreiten den Irrglauben, Arbeitsplätze könnten nur die Unternehmen schaffen. Doch die Globalplayer müssen und dürfen gar nichts, außer hoch rentabel sein. Da auch im Rechtsstaat das Recht Ausdruck der Machtverhältnisse ist, lassen die Bankgeschäftsordnungen, die Vorstandsrichtlinien und die Aktiengesetze nichts anderes zu als das Prinzip des Maximalprofits. Wer feindliche Übernahmen vermeiden will, darf bei Strafe seines Untergangs nicht wohltätig sein. Die „Schwerkraft Profit“ ist durch moralische Appelle nicht außer Kraft zu setzen, das hat Sinn. Die räuberischen Strukturgesetze des Kapitals lassen es rücksichtslos sein, „wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird“, eine Marx´sche Kamelle.
Die Marktwirtschaft war offenkundig nie aus ethischen Gründen sozial, sondern weil die Systemkonkurrenz und die erbitterten Gewerkschaftskämpfe es ihr abgenötigt haben. Unter diesem Druck war Verzicht das sicherste Mittel der Gewinnoptimierung. Statt nun, nach dem kläglichen Zusammenbruch der Kräfte, deren vielleicht verkannteste Leistung das Zügeln des Kapitals war, die Gefahr zu erkennen, begann ein Siegestaumel. In diesem Schwindel entging den Politikern, dass sie sich mit ihren devoten Geschenken an die Großunternehmen selbst entmachteten, dass sie mit jeder Privatisierung ihren Spielraum einschränkten. Wer kein Haben hat, hat auch kein Sagen. Wer nur noch Schulden verwaltet, kann nicht gestalten. Wenn die Regierung nicht mehr regiert und dadurch die gesellschaftlichen Konflikte immer unbeherrschbarer werden, wird zwangsläufig auch die Demokratie demontiert.
Niemand sollte so tun, als hätte er gegen diese enorme Herausforderung kurzfristig wirkende Patentrezepte. Auf Dauer aber ist es eben die Aufgabe der Politik, die Wirtschaft zur Rücksicht zu zwingen. Schließlich ist Arbeitslosigkeit eine Gewalterfahrung, in der die Entwertung von Fertigkeiten und Qualifikationen auf eine existentielle Enteignung hinausläuft. Arbeitslosigkeit ist die extremste Form der Arbeitszeitverkürzung. Das beweist, die Wirtschaft braucht radikale Arbeitszeitverkürzung, aber die Menschen brauchen sie nicht so. Die verbliebene bezahlbare Arbeit muss gleicher verteilt werden – dies ist die naheliegende Alternative zu einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft in anerkannte Leistungsträger und alimentierte Überflüssige. Dafür Spielregeln zu erlassen, bedarf nicht nur mutiger Phantasie, sondern auch politischen Willens.
Es sei daran erinnert, dass der Staat noch eine tabuisierte Möglichkeit hat, Arbeitsplätze zu schaffen – wenn er nämlich selbst Unternehmer ist. Wenn er also aus der effektiven Verwaltung von partiellem Gemeineigentum Gewinne erzielt, die in Arbeit z.B. im NonProfit-Bereich investiert werden. Wer glaubt, dies seien Rückgriffe in die planwirtschaftliche Mottenkiste, sei versichert: Alle Wiederbelebungsversuche der „guten alten Zeiten“ sind unrealistisch, dafür gibt es im Osten einen Erfahrungsvorsprung. Im übrigen haben inzwischen Institutionen wie die EU-Kommission, die Weltbank oder der Internationale Währungsfond soviel Zentralismus und Dirigismus an sich gezogen, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann: Was läuft, läuft sowieso weitgehend nach Plan, fragt sich nur nach wessen.
Auch deshalb sollten sich endlich der Weltgewerkschaftsbund und der Internationale Bund Freier Gewerkschaften aus ihrem Dornröschenschlaf des kalten Krieges vom Prinz der Bedürftigen wachküssen lassen. Um dann gemeinsam für internationale Sozialstandards zu kämpfen, die eines Tages ein Abwandern von Kapital und Menschen überflüssig machen.
Für den Erhalt des Menschenrechts auf Arbeit ist nicht die Wirtschaft zuständig. Die Aufgabe ist für alle Menschen allerdings auch zu wichtig, um sie den Regierungen zu überlassen. Die Demokratie zu verteidigen, ist Aufgabe des Souveräns. Wenn sie vor aller Augen abgebaut, abgebrochen wird, müssen die Bürger rebellieren. Der liebe Mai wird es nicht machen.