Gier ist das Wesen des Systems – Frankfurter Rundschau 28.10.2008

Die Schriftstellerin über falsche Sündenböcke und unsere Schuld an der Krise.
Frau Dahn, einige sehen in der aktuellen Krise das Ende des Turbokapitalismus, für andere macht er nur eine Pause. Was meinen Sie?

Wo ist denn die Grenze, vom bösen Turbo zum guten Kapitalismus? Man kann jetzt den Eindruck gewinnen, mit einem besseren internationalen Finanzsystem wäre alles gerettet. Das bezweifle ich. Die Finanzspekulanten bewegten sich zwar abgekoppelt von der Realwirtschaft, aber nicht jenseits unserer allgemein akzeptierten Lebensweise. Im Gegenteil, sie verkörpern die Kultur, die sich durchgesetzt hat. Die Gier ist kein Auswuchs, sondern Wesen, ja Existenzbedingung des Systems. Am Grundsatz der Profitmaximierung wird sich so schnell nichts ändern.

Wie kann der Staat der Gier begegnen?

Sehen Sie wie selbst die Schweden, entgegen der Tradition des Skandinavischen Modells, ihre Banken retten. Der Staat übernimmt Kreditgarantien und gründet einen Stabilitätsfonds, dafür müssen die Banken dem Staat eine Gebühr bezahlen. Doch für die Bankaktionäre wird kein Verzicht auf Dividende gefordert. Das staatliche Programm soll für sie keine Einbußen bedeuten. Die Manager müssen jetzt überall zur Strafe ihre Gehälter senken. Denen wird vorgeführt, dass sie in Wahrheit gar nicht die Mächtigen sind. Das bleiben die, von denen sie angestellt und von deren Renditeforderungen sie schon lange vor sich hergetrieben worden sind: die Aktionäre. Doch von Eingriffen ins Aktionärsgesetz ist nichts zu hören. Wenn die Politik jetzt nicht couragiert über die Verfügungsgewalt über Eigentum nachdenkt, bleibt alles beim Alten.

Also tragen eigentlich die Aktionäre die Hauptschuld am Crash? Ist das nicht ein bisschen einfach?

Aktionäre, Manager und Politiker sind sicher die drei Hauptsünder, aber der schwarze Peter bleibt letztlich bei der Politik. Sie hat sich von der Wirtschaft korrumpieren und das Heft aus der Hand nehmen lassen. Sie hat all die Gesetze verabschiedet, die jetzt an den Abgrund geführt haben und sie hat versäumt, die zu verabschieden, die wenigstens ein paar hohe Hindernisse in den Weg gestellt hätten. Doch wir müssen uns auch bewusst machen, dass die Politiker in einer Demokratie eigentlich nur machen können, was der Souverän ihnen erlaubt. Insofern ist es wenig hilfreich jetzt nach einzelnen Sündenböcken zu suchen und zu rufen: Ich war’s nicht, der Alan Greenspan ist’s gewesen. Wir haben doch seit langem gewusst, dass es kommt. Natürlich ist der Einfluss des einzelnen Bürgers oft unerträglich begrenzt. Aber alle, die sich gutgläubig Zertifikate haben aufschwatzen lassen, die neoliberale Parteien gewählt haben, statt in die Gewerkschaft einzutreten und sich aufzulehnen, tragen ein Stückchen Verantwortung mit.

Sie haben stets die Privatisierung öffentlicher Belange kritisiert. Nun beobachten wir eine Gegenbewegung: Banken werden verstaatlicht, Regierungen geben Geld gegen mehr Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Ich bin zumindest misstrauisch, denn die Spielregeln zur Hilfe haben im Wesentlichen wieder einmal die Banker selbst gemacht. Nicht jede Verstaatlichung ist ja schon eine Sozialisierung. Von Einfluss auf wirklich unternehmerische Entscheidung habe ich noch nichts gemerkt. Das Ganze sieht doch sehr nach einem Schutz für Banker von Bürgern aus. Fiktives Geld wird durch reales gewaschen. Uns wird gesagt, wenn wir dieses Risiko nicht eingehen, unser Geld für den so harmlos klingenden Banken-Schutzschirm zu geben, wird es uns noch viel schlechter gehen. Wir werden praktisch in Geiselhaft genommen. Wenn die Banken ganz marktwirtschaftlich in die Insolvenz gingen, dann bekämen wir keine Kredite mehr und dann bräche alles zusammen. Ich kann das nicht beurteilen. Und ich fürchte, dass es eigentlich niemand kann, weil hinter allen Antworten statt Vernunft Interessen stehen.

Wenn das Rezept für eine gesellschaftliche Neuordnung nach der Krise nicht nur „mehr Staat“ heißt, was muss noch geschehen?

Ich habe keine Rezepte, aber jetzt wäre der Zeitpunkt, alle Gewissheiten zu hinterfragen. Was ist so schlecht daran, wenn wir uns eine Zeitlang nicht durch ungedeckte Kredite weiterverschulden? Denn die staatlichen Zusagen sind im Ernstfall ungedeckt, wenn nicht die Druckerpresse angeworfen werden soll. Was wäre also so schlecht daran, nur mit dem zu wirtschaften, was den Banken ohne Stütze bleibt und was wir haben? So wenig ist das ja nicht. Sicher, wir müssen dann unseren Konsum einschränken. Aber dass dieser Punkt kommt, sagt uns doch die Klimakatastrophe auch schon lange. Wann, wenn nicht jetzt? Angeblich werden Arbeitsplätze verloren gehen. Bei einer radikalen Arbeitszeitverkürzung nicht unbedingt. Schiebt man einen Baustein, ändert sich die ganze Statik. Aber genau das muss sein. Im privatkapitalistischen Wirtschaftssystem gibt es zu viele Anreize, die dem Gemeinwohl widersprechen. Die Börse stimuliert falsch, sie setzt ohne Vernunft auf kurzfristige Gewinne. Werden Leute entlassen, um die Verbleibenden härter auszubeuten, steigen die Kurse. Werden Opfer durch langfristig nötige Investitionen gefordert, gibt es Kursverluste. Auf das Grundproblem hat bisher niemand eine Antwort: Ohne Wachstum verhungert die Marktwirtschaft, mit Wachstum erstickt sie. Bietet die Krise wenigstens die Chance, den „gesellschaftlichen Pakt“ zwischen Arm und Reich neu auszuhandeln?

Krise ist immer auch Chance, wenn ein großes Nachdenken beginnt. Will man in der klassische Frage der Umverteilung weiterkommen, müssen wir uns ganz neu fragen, wofür wir unser Geld wirklich ausgeben wollen. In den USA haben die 700 Milliarden Dollar für die Banken eine große Erschütterung ausgelöst, während die drei Wochen zuvor verabschiedeten 612 Milliarden Dollar für Rüstung, Kriegsführung und militärisch-industriellen Komplex ohne Grummeln durch gewunken wurden. Als käme die Finanzkrise nur von den Häuslebauern und nicht von den Kriegen. Welche Folgen werden all die staatlichen Kredite für das UN-Ziel haben, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren? Schon ohne Finanzkrise hatte sich deren Zahl schändlicher weise in den letzten acht Jahren von 830 Millionen auf 923 Millionen erhöht. Die Einsicht, dass sich die Welt grottenfalsch dreht, wird gegen mächtige Interessen nicht viel ausrichten. Wenn sich die Erniedrigten dieser Erde nicht zu einer Gegenkraft vereinen und so vernetzen wie das Finanzkapital, werden sie weiter unterlegen bleiben. Die Forderung ist so alt wie unerfüllt.

Interview: Nadja Erb