Gespalten statt versöhnt – Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck

Er will bewahren, was ist: Warum man weder Anti-Aufklärer noch DDR-Nostalgiker sein muss, um den Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck abzulehnen.

Das Image eines Versöhners kam überraschend. Hat doch den Mann, nach dem nicht nur eine Behörde benannt, sondern auch das Verb „gaucken“ kreiert wurde, bisher niemand schonungsloser kritisiert als Sozialdemokraten. Nun aber gilt eine andere, eigendynamische Logik: Wer einen Kandidaten Joachim Gauck ablehnt, kann nur ein unklares Verhältnis zum DDR-Unrecht haben, und einen schlimmeren Vorwurf gibt es hierzulande kaum. Der Stasi-„Aufklärer“ selbst hat sich dieses Kurzschlusses von Anfang an bedient – wer seine Behauptungen widerlegte, bekam das Etikett „Anti-Aufklärer“ verpasst.
Dabei ist es erstaunlich, wie eine Partei, deren Ziel der Demokratische Sozialismus ist – die SPD -, nun einen fundamentalen Antisozialisten vorschickt, der Sozialismus nur als Gegensatz zu Demokratie denkt und damit auch künftig jeden dritten oder vierten Weg ausschließt. Er will bewahren, was ist. Zwar hat er als SPD- und Grünen-Kandidat der Selbstcharakterisierung „konservativ“ ein „links“ beigefügt. Aber das Unchristliche am Casino-Kapitalismus ist ihm bislang so wenig in den Sinn gekommen wie das biblische Zinsverbot. Dass die Schöpfung bedroht sein könnte, ist nicht sein Thema. Unter denen, die Schwerter zu Pflugscharen in Afghanistan forderten, war seine Stimme nicht zu hören.

Er sieht seine Kompetenz in der Geschichtsschreibung. Dort neigt er zu groben Rastern. In seinem 1998 erschienenen Nachwort zur deutschen Ausgabe des „Schwarzbuch des Kommunismus“ wird das ganze Sündenregister aufgelistet: „Unbeliebt machten sich die Kommunisten auch, als sie Stalins Territorialforderungen nachgaben, die Westverschiebung Polens und damit den Verlust der deutschen Ostgebiete guthießen.“ Unerwähnt bleibt, dass auch die Westalliierten die Abtretung der Ostgebiete und die Ausweisung der Deutschen als unausweichliche Konsequenz des Krieges betrachteten. Gauck legt noch eins drauf: „Einheimischen wie Vertriebenen galt der Verlust der Heimat als grobes Unrecht, das die Kommunisten noch zementierten, als sie 1950 die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten.“ Gauck distanziert sich von dieser Haltung nicht. Wegen derartig zwielichtiger Äußerungen kam Erika Steinbach nicht in den Stiftungsrat des Zentrums gegen Vertreibungen. Auf den Antrittsbesuch eines Bundespräsidenten Gauck beim polnischen Nachbarn dürfte man gespannt sein.

In jenem Nachwort bekräftigt Gauck auch seine Standardthese, wonach – mit ausdrücklichem Bezug auf die DDR – der Kommunismus ebenso als totalitär eingestuft werden muss wie der Nationalsozialismus. Ähnlichkeiten sieht er besonders in den „Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die Bürger“. Eine frivole Relativierung der NS-Verbrechen nannte Jochen Zimmer, sozialdemokratischer Herausgeber des „Gauck-Lesebuchs“ (Eichborn-Verlag) dieses Geschichtsbild.

Viele waren 1989, genau wie ich, fasziniert von der Aussicht, bald hinter die Kulissen dieses eben noch hochgeheimen Repressionsapparates schauen zu dürfen und paranoide Strukturen zu belichten. Doch die Generallinie des Bundesbeauftragten sei leider eine andere gewesen, schreibt ebenda der Anwalt Kurt Neumann, Mitautor des Berliner Parteiprogramms der SPD: „Es ging mehr um strafrechtliche Verfolgung, um die Säuberung des öffentlichen Dienstes und die Ächtung von mißliebigen Politikern. Früher nannte man das Zersetzung.“ Man staunte über die Schärfe der Verdikte, wonach es dem bekennenden Antikommunisten Joachim Gauck weniger um Aufklärung als um Anklage ging. Der einstige hessische SPD-Innenminister Horst Winterstein kam im „Lesebuch“ zu dem Schluss: „Im Umgang mit den Stasi-Unterlagen musste ich mehr und mehr den Eindruck gewinnen, dass die Gauck-Behörde in ihrem Zusammenspiel mit einigen Medien an Verfassungsgrundsätzen vorbeiwirkt.“ Er beklagt, dass der „evangelische Großinquisitor“ selbstgerecht glaubt, unbequeme Leute einer „öffentlichen Treibjagd“ aussetzen zu können. Ohne Wissen der Betroffenen würden bestimmten Medien Belastendes zugespielt, ergänzt durch einseitige Interpretationen; gleichzeitig Entlastendes zurückgehalten. Unerschütterliche Aktengläubigkeit verhindere einen quellenkritischen Umgang. Das Landgericht Berlin bestätigte später solche Praktiken. Im Fall Gysi konnte es sich „des Eindrucks nicht erwehren, dass es bei der Erstellung des Gutachtens an der gebotenen Objektivität und Neutralität gefehlt hat. Es fällt auf, dass für den Beklagten sprechende Umstände entweder als unerheblich abgehandelt oder sogar zu Lasten des Beklagten gewürdigt werden“.

Vertreter ostdeutscher Seelen, der Mann des Vertrauens? Gaucks Behörde hat zwar mehrfach darauf verwiesen, dass 98 Prozent der DDR-Bürger nie für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Dennoch hatten Mitte der neunziger Jahre nur 2,6 Prozent derselben Bevölkerung volles Vertrauen zu seiner Behörde, die absolute Mehrheit hatte überhaupt kein, sehr wenig oder etwas Vertrauen, wie das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg ermittelte. 2005 erklärte der Verein „Willy-Brandt-Kreis“: Die Unterlagenbehörde habe bewiesen, dass sie für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ungeeignet sei. Sie sei nicht als neutrale wissenschaftliche Einrichtung angelegt, sondern habe die politische Bestimmung, die DDR zu delegitimieren. Gleichzeitig seien die geheimdienstlichen Erkenntnisse über die Bundesrepublik geheim, sie stünden einer kritischen Aufarbeitung nicht zur Verfügung. „Wenn heute in Westdeutschland und im Ausland das Bild der DDR als das eines reinen Unrechtsstaates vorherrscht, in dem alle Bürger entweder bei der Stasi gearbeitet oder von ihr beobachtet wurden, so hat die Behörde ihren Auftrag erfüllt.“ Unterzeichnet war die Erklärung von Sozialdemokraten wie Egon Bahr, Peter Bender, Peter Brandt, Christine Hohmann-Dennhardt, Günter Grass, Oskar Negt und Friedrich Schorlemmer.

Vor einem Jahr fragte Emnid, ob die DDR „ganz überwiegend schlechte Seiten“ gehabt hätte. Dies bejahten acht Prozent der Ostdeutschen. Und 78 Prozent der Westdeutschen. Auftrag erfüllt? Diese unversöhnliche Kluft, vertieft durch leergesparte Prekarier, könnte Bellevue erschüttern. Auch andere Schlösser.

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung 10. Juni 2010