Wandel durch Opposition – Freitag 51 vom 21.12.2007

SOLL DIE LINKE REGIEREN? Das Visionäre und das Realistische – unversöhnlich und unentbehrlich

In dieser Zeitung hatte André Brie jüngst die Linkspartei aufgefordert (Freitag 49 vom 7. 12. 2007), schon vor der nächsten Bundestagswahl der SPD und den Grünen programmatische Angebote zu machen. Auch wenn sie kaum wahrscheinlich sei, könne man doch eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene bereits 2009 nicht mehr ausschließen. Er warnte seine Partei, sich nur auf Protest und Opposition zu konzentrieren. Die Verantwortung der neuen Linken bestehe darin, „das strategische Projekt eines grundlegenden Wandels in der Bundesrepublik Deutschland“ voranzutreiben.

Links von allen oder fähig zum strategischen Projekt?, fragt André Brie und unterstellt damit: Links von allen zu sein, ist kein strategisches Projekt.

Die Fähigkeit dazu verlange von der Linken vielmehr, „das Potential für einen Beitrag zu Mitte-Links“. Und der SPD und den Grünen wird schon mal anempfohlen, sich darauf einzustellen, „dass die Linke ihre Voraussetzungen dafür schaffen wird“. Was also haben die überraschten Umworbenen und mit ihnen der Rest der Bürger zu erwarten?

Mit seinem Plädoyer für ein rosa-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene greift der Europaabgeordnete eines der umstrittensten Themen auf, das schon deshalb der Diskussion wert ist. Jede Partei, die sich Wahlen stellt, muss natürlich darüber Auskunft geben können, wie sie ihr Versprechen auf Veränderungen umsetzen will. Brie treibt die Sorge um, die Linke könne trotz ihrer neuen Chancen in die „Sackgasse der politischen Wirkungslosigkeit“ geraten, wenn sie sich auf Protest verengt und so zu „linker Orthodoxie“ zurückkehrt.

Die geschichtsnotorisch erwiesene Anfälligkeit der Linken fürs Orthodoxe macht diesen Vorwurf zu einer gefürchteten Keule, die allerdings rundum einsetzbar ist. So ließe sich auch fragen, weshalb die Bereitschaft zum Mitregieren gerade unter den ostdeutschen Linken so ausgeprägt ist. Lässt sich das nur mit dem verständlichen Bedürfnis erklären, endlich akzeptiert und angenommen zu sein? Oder schlägt da immer noch die Attitüde durch, Politik aus einer „führenden Rolle“ gestalten zu wollen? Ein Oppositionsverständnis, das sich auf Protest reduziert, unterschätzt die Möglichkeiten: Alle zugelassenen Parteien sollen bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, nicht nur die in der Regierung.

In der DDR gab es keine Partei, die nicht in der Regierung war. Und keine Regierung, die viel zu sagen hatte. (Was auf die heutige auch mehr und mehr zutrifft.) Dass man als Partei auch in der Opposition wirken kann und darf, ist vielleicht der größte politische Wendegewinn für die Ostdeutschen. Wenn wir aus der DDR Kommenden eines verinnerlicht haben sollten, dann ist es doch das: Opposition ist die Seele der Demokratie.

Und das Schöne an Opposition ist ja, dass es immer wieder historische Konstellationen gibt, in denen man durch Opponieren mehr verändert als durch Regieren. Nirgends war das besser zu beobachten als bei den Grünen. Aber auch André Brie nennt eindrucksvolle Beispiele, wie allein der Wählerzuspruch zu den Forderungen der Linken das Parallelogramm der Kräfte verschiebt: Gewerkschaften werden politischer, globalisierungskritische Bewegungen einflussreicher, SPD und Grüne stehen unter dem Druck, soziale Signale zu geben. Zwar herrscht im Moment nicht gerade eine revolutionäre Situation, aber die Zugeständnisse müssen die potenziellen Partner der Linkspartei machen – das ist doch eine relativ komfortable Position.

Droht die „Sackgasse politischer Wirkungslosigkeit“ nicht viel mehr, wenn der von Brie geforderte „neue linke Parteitypus“ (nicht zu verwechseln mit „Partei neuen Typus“) in Koalitionen bereits unkenntlich wird, bevor er je kenntlich war? Die Bürgerrechtsgruppen der Wendezeit sind auch deshalb untergegangen, weil ihnen keine Zeit blieb, ihre Programmatik und ihr Profil auch nur entwickeln zu können.

Zweifellos macht auf die Dauer Opponieren nur Sinn, wenn es die politische Willensbildung soweit beeinflusst, dass es eines Tages in Regieren münden kann. Wann der richtige Moment gekommen sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Selbst bei schönsten Wahlergebnissen wird man die Spielregeln nur sehr bedingt bestimmen können. Aber man wird wenigstens ein Blatt in der Hand halten, mit dem man ein paar Ansagen machen kann. Zu recht weist Brie darauf hin, dass auf diesem Weg das Visionäre mit dem Realistischen versöhnt werden muss – was aber meines Erachtens nicht heißen kann, beides zu vermengen, sondern als unversöhnliche und gleichzeitig unentbehrliche Handlungspole zu akzeptieren.

„Konsequenter Realismus“ ist leicht zu fordern, aber schwer zu ermitteln. Noch vor 25 Jahren hätte niemand – auch nicht André Brie – die letzten 20 Jahre für realistisch gehalten. Der Spieltrieb der Geschichte lässt sich nicht vorhersehen, muss aber einkalkuliert werden.

Soeben wollen Historiker herausgefunden haben, dass Kaiser Wilhelm II. die russische Oktoberrevolution finanziert hat. Schade, noch scheint kein Sponsor für heutige strategische linke Projekte in Sicht. Aber das könnte sich ändern, wenn Menschen mit Geld und Gewissen oder einfach nur mit Sorge um ihr Geld merken, dass der Niedergang des Sozialstaates, und damit früher oder später der Demokratie, nicht in ihrem Interesse liegen kann. Vielleicht finden sich ja dann doch Leute, die zum Beispiel meinen Traum von einem alternativen, linken CNN verwirklichen wollen? Diese augenzwinkernde Abschweifung will nur verdeutlichen: Der Grat zwischen konsequentem Realismus und konsequenter Phantasielosigkeit ist schmal.

André Brie fordert allerdings ein Höchstmaß an Einbildungskraft, wenn er meint, bereits 2009 „ausreichend große Schnittmengen mit der SPD und den Grünen“ erkennen zu können. Sind doch beider diffus linke Programmansätze kaum durch Handlungen gedeckt. Über 100.000 enttäuschte Sozialdemokraten sind nicht grundlos mit „blutendem Herzen“ aus ihrer Partei ausgetreten – an welchen Schnittstellen (oder Schnittwunden) sollen sie denn nach so kurzer Zeit wieder andocken? Und wer sich konfliktreich über eine Wahlalternative gelöst hat, soll sich schon nach der nächsten Wahl in ein Bündnis mit den für alternativlos Gehaltenen begeben?

Brie wirbt für die gemeinsame Verantwortung, einen grundlegenden politischen Richtungswechsel herbeizuführen. Durch partizipative Verbindung selbstbestimmter Individuen soll in einem pluralistischen, libertären Diskurs ein soziokultureller Wandel eingeleitet werden, der schließlich durch die Wiedergewinnung des Öffentlichen gekrönt wird.

Beeindruckt von diesem an Habermas angelehnten Gesellschaftsideal, werden wir, da „fundamentalistische Gewissheiten“ zu meiden sind, im Ungewissen gelassen, wodurch der Bruch mit dem gegenwärtigen Gang der Dinge erreicht werden soll. Durch konsequenten Optimismus? Ein Gang der Dinge, dessen pessimistische Deutungen für mich realistischer klingen: So geht der einflussreiche italienische Philosoph Paolo Flores d´Arcais davon aus, dass die Welt auf ein neues Entwicklungsmodell zusteuert, „auf einen Kapitalismus ohne Demokratie“. Eine Diagnose, die längst keine Einzelmeinung mehr ist. Auch Al Gore warnt in seinem jüngsten Buch Angriff auf die Vernunft, neben dem Klimawandel drohe der Welt eine zweite, nicht minder gefährliche Katastrophe: die allmähliche Selbstauflösung der Demokratie.

Es gibt linke Gewissheiten, die nicht fundamentalistisch sind, aber fundamental: Profitmaximierung darf nicht das Bewegungsgesetz der Geschichte sein. Ohne mit der neoliberalen Dogmatik Schritt für Schritt zu brechen, wird das überlebensnotwendige Ziel eines grundlegenden Wandels in Beliebigkeit erstickt. Relativismus ist nur die Kehrseite des Fundamentalismus.

Deshalb dürfte das größte Problem, das SPD, Grüne und Linke miteinander haben, noch vor der Außen- und Sicherheitspolitik, die Wirtschaftpolitik sein. Angefangen von Steuergerechtigkeit bis zur Begrenzung von Rüstung und Rüstungsexport.

Alle Bürger und mit ihnen die Parteien sollten sich darauf einstellen können, dass die Linke ihre Voraussetzungen für Kenntlichkeit schaffen wird.