Die Reform-Konformistin

Ablenkung Angela Merkel hatte sich in der DDR eingerichtet – das wird ihr vorgeworfen. Aufschlussreicher ist aber die Frage, warum sie sich nach der Wende so schnell angepasst hat

Eben noch als Reformkommunistin betitelt, sieht sich Angela Merkel schon dem Vorwurf aus Ungarn ausgesetzt, mit Nazi-Methoden zu drohen. Weil sie, wenn die Ungarn nicht spuren, die Kavallerie zwar nicht gleich schicken will, aber möglicherweise später. Die Empfindlichkeiten gegenüber Deutschland und der Kanzlerin sind enorm in Europa, und sie haben einen rationalen Kern. Aber auch im eigenen Lande wird gereizt reagiert, wenn auf Kosten östlicher Biografien pauschal schlichte Deutungen verbreitet werden. Mit der Macht einer Person wächst auch die Schar von Leuten, die partizipieren wollen: Sich lobdienernd im Glanz sonnen, den Glanz durch Denunziation bewölken, und so das Licht auf sich selbst lenken, Zacken aus der Krone brechen und sie meistbietend verkaufen. Ist Wahrheitssuche ohne Verfärbung durch Interessen überhaupt möglich?

Das neue Buch der Springer-Autoren Ralf Georg Reuth und Günter Lachmann über das DDR-Leben von Angela Merkel wurde von der Presse, allen voran Bild und Welt, sofort skandalisiert, obwohl schnell klar wurde, dass es in seinem Gehalt ein eher unspektakuläres Geschichtsbuch ist, mal besser, mal schlechter recherchiert. So wurden die Reaktionen interessanter als die Sache selbst. Die zehn vorangegangenen Biografen erklärten sogleich, sie hätten all das schon trefflicher beschrieben. Dass alle Biografen ausnahmslos aus der Perspektive einer westlichen Sozialisation urteilten, zeugt nicht nur von der unbefangenen Inbesitznahme der Deutungshoheit, sondern auch von dem erfolgreichen Bruch östlichen Selbstbewusstseins. Ost-Autoren nehmen solche Vorzeigevorhaben längst nicht mehr für sich in Anspruch, ihnen fehlen normalerweise die Netzwerke, der Zugang zu Quellen, die Öffentlichkeit, die Glaubwürdigkeit. Und dann eben auch die Motivation.

Klischees aus dem DDR-Alltag

Beim großen „Frauen-Gipfel“ Anfang Mai im Kanzleramt hat Merkel gerade erst Friede Springer herzlich begrüßt. Es sind wohl eher Wahlkampfhilfen als Wahlkampfhürden, die aus diesem Haus zu erwarten sind. Der Osten ist – wohlwissend und zurecht – gleich ein wenig enger um die Kanzlerin zusammengerückt, aber auch der CDU-Vize Volker Bouffier sprang in die Bresche: „Aus meiner Sicht ist das eher sympathisch.“ Papst Franziskus hat sich nicht abschrecken lassen, einer womöglich reformkommunistisch gesinnten ehemaligen FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda eine Privataudienz zu geben.

Was hängen bleibt, sind Klischees aus dem DDR-Alltag über die unausweichliche Anpassung in der Diktatur, über Opportunismus als Überlebensstrategie. Dabei hatte die Identifikation der Jugendlichen mit dem System in den 80er Jahren bereits demonstrativ nachgelassen. Zu dieser Zeit betrug der Organisationsgrad in der FDJ nur noch 70 Prozent, wie das Institut für Jugendforschung in Leipzig ermittelt hatte. Dieser Anteil war in Bereichen, in denen das berufliche Fortkommen stärker von politischem Wohlverhalten abhing, sicher höher. Um so niedriger war er unter Facharbeitern in der Produktion. Sie waren selbstbewusst, hatten keinen Bock auf Agitation und machten daraus keinen Hehl.

Auch in akademischen Einrichtungen mit dem Selbstverständnis einer Wissenschaftselite hatte die FDJ einen eher niedrigen Organisationsgrad. Das lag auch daran, dass viele nicht gleich nach dem Studium, sondern erst nach Jahren der Praxis an die Akademien kamen. Selbst wenn in manchen Einrichtungen propagiert wurde, doch bis zum 30. Lebensjahr als Mitglied aktiv zu bleiben, so war das freiwillig – laut Statut der FDJ konnte man nach dem vollendeten 25. Lebensjahr ausscheiden. Als Merkel am Zentralinstitut für physikalische Chemie eine FDJ-Funktion übernahm, war sie 24. Akademieinsider sagen, dass es zu dieser Zeit am Institut ganze sechs FDJler im vorgesehenen Alter gab. Im Buch aber wird die Grundorganisation stilisiert als eine überaus rege und mächtige, an der der FDJ-Sekretär „oberster FDJler von ein paar Hundert Mitarbeitern“ war. Da wird der FDJ-Sekretär wohl mit dem Institutsdirektor verwechselt, denn viel mehr als sechshundert Mitarbeiter hatte dieses kleine, hochspezialisierte Institut gar nicht.

Erheiternd auch, wenn im Buch die vermeintlichen Privilegien der 22.500 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften aufgezählt werden: Sie hatten doch tatsächlich eine akademieeigene Poliklinik, einen Friseur, einen Konsum, eine Werkstatt und eine Bibliothek. Ach du meine Güte, das hatte jeder Betrieb dieser Größenordnung. Meist noch eine Fußballmannschaft und Kindergärten und betriebseigene Ferienheime. Und (kleine) Kontingente für Wohnungen und Kuren. Solche Betriebe hatten beinahe die Struktur einer Gemeinde, die alles als lebensnotwendig Geglaubte bieten wollte. Das kann man sich heute, wenn aus Gründen der Rentabilität selbst die zur unmittelbaren Aufgabe gehörenden Tätigkeiten outgesourced werden, natürlich nicht mehr vorstellen. Umso bedauerlicher, dass Merkels Zusatzarbeit zur Promotion zum Thema „Was ist sozialistische Lebensweise?“ angeblich verschollen ist.

Hellsichtige Propagandistin

Das wirkliche Privileg am Institut waren die Möglichkeiten zur Teilnahme an Kongressen und Studienaufenthalten im westlichen Ausland, die im Buch andernorts erwähnt werden. Auch unsere FDJ-Agitatorin war „Reisekader“. Und ihr späterer Mann, der Chemiker Joachim Sauer, hat 1988 insgesamt sechs Monate am Institut für Nanotechnologie in Karlsruhe verbracht. Merkels Bruder, Marcus Kasner, ebenfalls Physiker, hat wiederum Ende der 80er Jahre eine Zeit lang am sowjetischen Kernforschungszentrum in Dubna, bei Moskau, gearbeitet. Das war nun wirklich höchste Vertraulichkeit und Geheimhaltungsstufe – was zeigt, dass Pfarrerskindern, wenn der Vater nur den richtigen Glauben hatte, durchaus alle Wege geebnet werden konnten.

Doch auch beim Thema Reisen kommen die Autoren nicht ohne Vergröberung aus: Individualreisen in die Sowjetunion seien angeblich verboten gewesen. Ich war mehrfach privat in Kiew und Umgebung, auf schriftliche Einladung von Freunden, die wir zuvor beim Zelten an der bulgarischen Schwarzmeerküste kennengelernt hatten. Schwierig waren diese Reisen nicht für uns, sondern für die ukrainischen Freunde, die auf bürokratischste Weise mit Ämtern konfrontiert waren, die die Einladung abstempeln mussten, damit wir das Visum bekommen. Aber verboten war das nicht.

Das Buch über die frühe Zeit der Kanzlerin bietet zweifellos auch aufschlussreiche und gut belegte Details. Als sich Anfang Oktober 1989 in der DDR die Bürgerrechtsgruppen gründeten, hielt sich Merkel bekanntlich zurück. Gegenüber Augen- und Ohrenzeugen sagte sie aber: „Wenn wir die DDR reformieren, dann nicht im bundesrepublikanischen Sinne.“ Aus meiner Erfahrung im Demokratischen Aufbruch kann ich bestätigen, dass dies zu diesem Zeitpunkt Konsens in der bürgerbewegten Opposition war. Im ersten „Flugblatt für Demokratie“ unserer Gruppe hieß es: „Die Mitglieder des Demokratischen Aufbruchs wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für eine Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen.“

Diese frühen Bekenntnisse haben der späteren Pressesprecherin des DA nun das Verdikt einer Reformkommunistin eingehandelt. Dabei ist bemerkenswert, wie schnell und endgültig Angela Merkel ihre Vorstellung von Reform dem Zeitgeist anpasste. In den nächsten Wochen begann die Stimmung spürbar zu kippen. Die revolutionäre Erneuerung vollziehe sich in atemberaubender Geschwindigkeit, befanden Intellektuelle, Künstler, Bürger in ihrem Aufruf „Für unser Land“. Mit anderen Worten wiederholten sie, was der DA bereits gesagt hatte: Es gehe jetzt nicht um eine durch ökonomische Zwänge bedingte materielle und moralische Vereinnahmung der DDR durch die Bundesrepublik, sondern um eigenständige sozialistische Erneuerung, die an die humanistischen und antifaschistischen Freiheitsideale von einst anknüpft. Zu den Erstunterzeichnern der von Christa Wolf redigierten und von Stefan Heym am 28. November 1989 auf einer Pressekonferenz vorgestellten Endfassung gehörten Sebastian Pflugbeil vom „Neuen Forum“, Ulrike Poppe und Konrad Weiß von „Demokratie jetzt“ und Friedrich Schorlemmer vom „Demokratischen Aufbruch“.

Debatten über gesellschaftliche Werte sind nicht ihr Steckenpferd

Doch unsere hellsichtige Propagandistin hatte offenbar schon gewittert, wie der Hase laufen wird. In einem im Buch dokumentierten, offenen Brief an Christa Wolf, der damals niemanden interessierte, schrieb sie Anfang Dezember, der Aufruf sei in seiner Reduzierung auf ein Entweder-Oder demagogisch, das Wort „Sozialismus“ nach 40 Jahren DDR verleidet. Sie glaube, dass Christa Wolf diesem Land „keinen guten Dienst erwiesen“ habe. Später erklärte sie, dass man „mit einiger Intelligenz sehr gut durchschauen“ konnte, dass die beiden Systeme in keiner Weise miteinander vereinbar waren. „Ein bisschen was von diesem, ein bisschen was von jenem, das ging nicht.“

Also doch, Entweder-Oder. Unter Aufgabe der bis Oktober 1989 geltenden Überzeugung, hatte sich Angela Merkel acht Wochen später aufstiegsbewusst für das Oder entschieden. Was in dieser kurzen Frist in ihr vorgegangen ist, kann man selbst „mit einiger Intelligenz“ nur ahnen. Sie neigt da nicht zu Ausführlichkeit, Debatten über gesellschaftliche Werte sind seither nicht ihr Steckenpferd. Ihre sicher auch nur bedingt aussagefähige Stasiakte hat sie nicht frei gegeben. Offenbar eine Lex-Kanzler, ein Privileg, das gerade Oppositionspolitikern nicht zusteht. Auch Unterlagen über ihren sie prägenden Vater sind nicht zu finden. Schon drohen die couragierten Investigativen ihr mit den demnächst per Computer zusammengefügten Stasi-Schnipseln.

Motive? Auflagensteigerung? Selbstprofilierung? Ablenkung? Es gäbe immerhin drängendere Fragen an die Einsichten der Kanzlerin. Bei der ihr eigenen Lernfähigkeit wird sie sich erinnern können, dass die Einführung einer starken Währung in einem Land mit niedriger Produktivität die Betriebe wettbewerbsunfähig und zahlungsunfähig macht, während die stärkere Seite enorm profitiert. Das „verleidete“ Modell ,wie man Schwächere unterwirft, ist in Europa wiederholt worden – aus Unkenntnis, aus Berechnung? Der Mangel an östlichem, auch protestantischem Einfühlungsvermögen für die Unterlegenen und deren Behandlung mit harter (Treu)Hand wiegt schwerer als die unbefangene, jugendliche Agitation.

Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 21/13.