Kooperation oder Konfrontation mit Russland? – Münchner Friedenskonferenz

Daniela Dahn

aus der Anthologie: „Das freie Wort. Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter“

Parallel zur Münchner Sicherheitskonferenz fand auch 2017 im alten Rathaus wieder die aus der Bürgerschaft kommende Münchner Friedenskonferenz statt. Diese darf seit einigen Jahren zwei Beobachter zur Sicherheitskonferenz entsenden. Eine dieser Beobachterinnen war diesmal die Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn. Ihre Eröffnungsrede auf der Friedenskonferenz der Bürger hat sie später durch das auf der Sicherheitskonferenz der Eliten Gehörte durch kursive Passagen ergänzt.

Münchner Friedenskonferenz im alten Rathaus am 17.2.17
Daniela Dahn: Kooperation oder Konfrontation mit Russland?

Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Wer aber für Kooperation ist, muss sich mit der Konfrontation beschäftigen.

Noch keine Münchner Sicherheitskonferenz war so aufgeladen mit Erwartungen und hatte einen solchen Andrang von einst und gegenwärtig hochrangigen Politikern wie diese. Erstmals standen die transatlantischen Beziehungen zur Disposition. Konferenzchef Wolfgang Ischinger fragte eingangs besorgt, ob wir vor einem post-westlichen Zeitalter stünden. Auch von anderen Rednern wurde der womögliche Wechsel zu einer „neuen Weltordnung“ beschworen, was den auf Verständigung Bedachten Anlass zu großer Sorge bot, da Weltordnungen erfahrungsgemäß durch Kriege verändert  werden.
Der Auftritt von US-Vize Mike Pence wurde atemlos verfolgt, wie der eines Messias. Dass es die intellektuell magerste Rede von allen war, fiel nicht weiter auf, denn der erlösende Satz nahm die Ängste: Die USA ist und wird immer ihr größter Verbündeter sein. „Unter Präsident Trump werden wir die stärkste Armee der Welt sein.“ Die USA unterstütze die NATO energisch, aber Donald Trump erwarte, dass alle Mitglieder jene zugesagten zwei Prozent zur Aufrüstung beitrügen. Mit ihm jedenfalls, so die wiederholte Botschaft, werde die USA so stark wie nie zuvor.

 

  1. Die Geschichte der Konfrontation jenseits von Propaganda erzählen

Der völkerrechtswidrige Jugoslawienkrieg, die Expansion der NATO nach Osten, neue Raketensysteme, die Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten Russlands und dessen traditionell Verbündeten, die Sanktionen, die Propaganda,  – all das hat zu einer neuen Ära der Konfrontation mit Russland geführt. Die NATO-Mitglieder behaupten natürlich, das Gegenteil sei wahr, Russlands aggressive Politik sei der Grund der Spannungen.
Wer angesichts solcher Antagonismen kapituliert und meint, wir seien endgültig im Postfaktischen angekommen, verkennt wohl, dass genau diese Ratlosigkeit ein Herrschaftskonstrukt ist, mit dem man sich vor belastenden Tatsachen schützen will. Es soll nur noch auf die „gefühlte Wahrheit“ ankommen. Allein im Pentagon arbeiten 27.000 PR-Spezialisten mit einem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar. Sie beeinflussen Agenturen mit gezielten Nachrichten, Fernsehspots und Rundfunkinterviews.

Als Gegengewicht gegen russisches Fernsehen sendet seit dem 7. Februar der vom US-Kongress finanzierte, russischsprachige Kanal Nastojaschee Wremja – Current Time. Die Deutungshoheit über die Meinung  von Mehrheiten ist im digitalen Zeitalter die wichtigste Waffe geworden. Hier findet die eigentliche Aufrüstung statt, auch wenn die herkömmliche sich wahrlich nicht lumpen lässt. Gleichzeitig  verteidigen sich derzeit viele Medien und Institutionen mit Faktenchecks , bei denen man auch genau hinsehen muss. Das ist mühsam, aber der einzige Weg: Desinformation widersprechen, neuer Desinformation besser widersprechen.

Fangen wir gleich beim diesjährigen, überall verteilten Report der Münchner Sicherheitskonferenz an. Unter Berufung auf „zahlreiche Menschenrechtsorganisationen“ wird dort behauptet, 80 Prozent der russischen Luftangriffe auf Syrien galten nicht dem IS sondern zielten auf Rebellen und Zivilisten.  „Damit ist das russische Märchen des Kampfes gegen den Terror in Syrien endgültig bloßgestellt“, sekundierte die Bild-Zeitung. Immer wenn wieder das Ende einer Geschichte verordnet wird, muss man misstrauisch werden und die Geschichte von vorn erzählen. Denn hier liegt ein klassisches Beispiel vor, wie man mit Zahlen, die vielleicht sogar stimmen, durch Fehlinterpretation manipulieren kann.
Russland und Syrien haben nie behauptet, nur den IS zu bekämpfen, sondern alle islamistischen Terroristen, die gewaltsam die Regierung stürzen wollen. Einer der Hauptgegner ist daher die al-Qaida zugehörige al-Nusra-Front, die sich im letzten Sommer aus taktischen Gründen in Eroberungsfront der Levante umbenannt hat, um nicht mehr als Terroristen wahrgenommen zu werden. Ihr Ziel ist aber unverändert ein islamisches Kalifat, in dem alles Säkulare ausgerottet und die alawitische und christliche Minderheit vertrieben wird. Diese vom Westen jetzt verharmlosend zu den Rebellen gezählten Kämpfer, haben nach Erkenntnissen der Geheimdienste auch das Nervengas Sarin im syrischen Ghouta und später nahe Aleppo eingesetzt, um den Verdacht auf Assad zu lenken. Der UN-Sicherheitsrat hat sie als Terrororganisation eingestuft.

Diese sogenannte Eroberungsfront und die mit ihnen verbündeten Gruppen machen nach Angaben von Experten, auf die sich die Korrespondentin Karin Leukefeld beruft, die Hälfte der Anti-Assad Kämpfer aus. Zählt man die Luftangriffe auf sie zu denen auf den IS, sind wir statt 20 schon bei 70 Prozent, die sich gegen Terroristen richteten. Soviel also präzisierend zum Report der Sicherheitskonferenz.

Bleibt immer noch die Frage, warum die Russen im Verbund mit der syrischen Armee angeblich so gern Zivilisten bombardieren. Dabei unterscheidet sich die gegenwärtige US-Offensive auf das irakische Mossul nicht von der russischen Offensive auf Aleppo. Wenn die US-Koalition Tag und Nacht mit Langstreckenraketen Wohngebiete in Mossul  angreift, auch gezielt die Universität, Krankenhäuser, ja die gesamte zivile Infrastruktur zerstört, dann heißt es, das waren alles Orte, die die Terroristen als Basis benutzt hätten. Bei den russischen Bombardements in Syrien dagegen wird verlangt, ganz sauber zwischen Zivilisten und Terroristen zu unterscheiden. Da aber Terroristen nun mal keine Armeen befehligen, die in ordentlichen Kompanien kämpfen und anschließend in ihren Kasernen ein übersichtliches  Ziel abgeben, wird dies nie und nirgends möglich sein.

Aber diese Einsicht  müsste alle Seiten zu der Frage bewegen, ob die Bombardiererei im Kampf gegen islamischen Terrorismus  überhaupt etwas ausrichten kann. Außer unermesslichem Leid.

Die Idee, den Terrorismus zu bekämpfen, ohne dessen Ursachen zu erkennen und zu eliminieren, ist falsch, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner von den Medien kaum beachteten Rede. Dabei war dies die mutigste und analytischste Rede der ganzen Münchner Sicherheitskonferenz. Sie enthielt einen der beiden Schlüssel-sätze, die die Frage von Krieg und Frieden von entgegengesetzten Positionen beschrieben. Auf die schwere Anklage von Guterres ging wie zu erwarten niemand ein: „Die größte Bedrohung für die Sicherheit ist das politische Establishment.“ Er beklagte dessen mangelnde Kapazität für Analysen, die Lücke in den Erkenntnissen, dessen disfunktionale Strukturen. Die Globalisierung habe viele Verlierer – eine Jugend ohne Chance sei anfällig für Extremismus. Der UNO-Chef forderte Langzeitstrategien für Bildung und Armutsbekämpfung, für Klimaschutz und Wasserversorgung. Es fehle an Visionen und Investitionen zur Friedenssicherung.
Diesen Eindruck hatte man auch beim Statement des afghanischen Präsidenten Mohammad Ashraf Ghani. Er sah etwas anderes als die größte Bedrohung, nämlich dass sich etwas wie der 11. September wiederhole. Man hätte den Terrorismus bisher nie mit friedlichen Mitteln in den Griff bekommen. Afghanistan sei daher „in höchstem Maße dankbar für das globale Handeln“ in seinem Land – die Taliban seien zurückgeschlagen worden, behauptete er.
Man werde den Daesh (IS) „zerschmettern“, versprach auch der irakische Premierminister Haider Al-Abadi. Zwar sei es schwierig, den Feind zu identifizieren, denn er trage keine Uniform und stelle sich als Zivilist dar. Aber Ramadi, Falludscha und Teile von Mossul seien zurück erobert worden, und das habe „nicht unmäßig viele Menschenleben gekostet“. Diese Erfolgsgeschichte müsse gemeinsam auf die ganze Region ausgeweitet werden.
Nur der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif klang weniger begeistert über die westliche Einmischung. Die Terroristen hätten nichts mit islamischer Religion zu tun, sie seien Kriminelle. Die Frage, ob die militärische Gewalt nicht kontraproduktiv war und Elend in die Region gebracht habe, sei offen. Zwar seien die Anschläge derzeit zurückgegangen, aber nun müsse man die Opfer der Interventionen prüfen.

Eine andere Sprache als Gewalt verstehen Terroristen nicht, heißt es unversuchter weise. Welch verstörender Gedanke: Terrorismus, dieser auf teuflische Weise politisch erzeugte  Homunkulus, kann nur politisch gebändigt werden. Indem man nämlich mit diesen selbsterzeugten, vermeintlichen Ungeheuern redet. Terrorismus ist ein Schrei, der gehört werden will.

Was aber, wenn diese, oft gekauften und vom Ausland hochgerüsteten Söldner, tatsächlich nicht zu stoppen sind. Am 11. September 2013 veröffentlichte die New York Times einen offenen Brief Putins an das amerikanische Volk.  Gewalt hat sich als unwirksam und sinnlos erwiesen, hieß es darin. Es war ein geradezu flehender Appell, zum Weg zivilisierter, politischer Vereinbarungen zurück zu kommen, das Völkerrecht einzuhalten und militärische Interventionen wegen innerer Konflikte in anderen Ländern zu unterlassen. Doch das Morden der von den USA, Saudi Arabien und anderen mitfinanzierten islamistischen Terroristen ging weiter.

Der UN-Syrienbeauftrage Staffan de Mistura sagte bewegt, er habe noch nie einen so grausam ausgetragenen Konflikt gesehen, mit mittelalterlichen Belagerungen von beiden Seiten. Daesh und al-Nusra seien die Feinde von uns allen. Die Russen hätten die selbe Priorität, „sie haben was geleistet“. Das russische Militär habe vermieden, dass es in Aleppo  zum Allerschlimmsten gekommen sei und nochmals 100 000 Flüchtlinge in Bewegung gesetzt würden. Der Waffenstillstand halte besser, als bei früheren Versuchen. Es bedürfe jetzt einer Verfassung, die von Syrern und nicht von Ausländern geschrieben würde und Wahlen unter UN-Aufsicht. Die UN-Resolution 2254 zum politischen Übergang sei seine Bibel, sein Koran.
Konstantin Kosachev, Chef des Auswärtigen Ausschusses im russischen Parlament, kritisierte, dass zur Unterstützung dieses Prozesses niemand aus Damaskus auf der Konferenz sprechen könne.

Von mindestens 400 000 Toten in den Jahren vor dem russischen Eingreifen in Syrien geht der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura aus. Aktivisten zufolge, schrieb die Zeit, soll Russland mit seiner Offensive dann für 10 000 Tote verantwortlich sein. Ist das ein zu rechtfertigender Preis für die Befreiung von Aleppo und die jedenfalls vorläufige Eindämmung der Gewalt in Syrien? Darf man überhaupt so fragen? Ich weiß es nicht.

Bringt das nicht alle Überzeugungen auch der Friedensbewegung durcheinander, wonach Krieg niemals Mittel der Politik sein darf? Oder war das legale Hilfe für die Verteidigung der Regierung, ein Befreiungskrieg, um den Zerfall Syriens zu einem weiteren failed state zu vermeiden? Dominiert von strategischen Interessen Russlands, aber vielleicht doch ein Beginn für einen langwierigen Prozess der Befriedung? Der der NATO noch nirgends gelungen ist? Wird das Schicksal des Nahen Ostens jetzt vom fernen Trump-Kurs abhängen? Gewissheiten sind rar geworden. Frühere Gewissheiten waren allerdings oft auch nicht besser.

Eigene Zweifel sollten offen debattiert werden, denn hinter vorgehaltener Hand braut sich nur Unheil zusammen.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit. Am 7. Februar meldeten die Medien knapp, dass die Dienste nach einjähriger Untersuchung keine Beweise für russische Desinformationskampagnen gegen die Bundesregierung gefunden haben. Nur feindselige Berichterstattung auf RT Deutsch und Sputnik News. Die Art von russischen Faktenchecks eben.
Putlitzer Preisträger Seymour Hersh kritisierte die US-Medien für die unkritische Übernahme der russischen Hacker-Story der Geheimdienste. Wenn es nicht genügend Beweise gäbe, um jemanden vor ein US-Gericht zu stellen, dann gäbe es auch nicht genügend Gründe, um Sanktionen gegen eine Atommacht zu verhängen.

Der Republikanische Senator Lindsey o. Graham kündigte an, man werde Präsident Trump wegen Russlands hybrider Kriegsführung und dessen Expansionismus einen neuen Plan für Sanktionen auf den Schreibtisch legen. Sein Versprechen, man werde die russischen Einmischungen nicht durchgehen lassen, brachte ihm Beifall im Plenum der Sicherheitskonferenz. „2017 ist das Jahr, in dem wir Russland in den Hintern treten müssen.“

Der unbewiesene Vorwurf, Trump sei mit Hilfe russischer Hacker an die Macht gekommen, bleibt fatal. Falls dieser Präsident je die Absicht hatte, das Verhältnis zu Russland zu entspannen, wird er sich das nun gut überlegen müssen. Jeder Versuch wird als Beweis dafür gewertet werden, wie abhängig ihn der den Russen geschuldete Dank macht. Dabei lohnt es, sich zu erinnern, worin genau die Wahlbeeinflussung bestanden haben soll. Es ging bei diesen unbekannten Hackern weder um Fake News, noch um die wirklich widerwärtigen, egal ob echten oder gefälschten Sex-Videos, für die das prüde Amerika so anfällig ist. Es ging um Mails der Demokraten zu ihrer Taktik im Wahlkampf, speziell zur Abdrängung von Bernie Sanders. Wahlfälschung durch Veröffentlichung der Wahrheit? Weil es nur auf einer Seite geschehen ist? Vielleicht. Doch wann sind Hacker eigentlich Whistleblower, die öffentlich machen, was Wähler wissen sollten?

Das nicht zufällig kurze Gedächtnis der Medien hat längst in Vergessenheit geraten lassen, dass die Russen allen Grund hätten, den Amis eine schicksalhafte Wahlbeeinflussung in Moskau heimzuzahlen.  Denn die Amerikaner hatten 1996 Boris Jelzins Wahlfeldzug organisiert. Sie hatten alles Interesse daran, dass der Mann wiedergewählt würde, der mit der Schocktherapie des Washington Consensus, also Privatisierung und Deregulierung, die Wirtschaft des Kontrahenten ruinieren und eigene Interessen berücksichtigen würde. Als Jelzins Popularität auf fünf Prozent abgesunken war, zogen US-Experten ins Moskauer Hotel „President“. Zu diesem Team gehörten Bill Clintons Wahlhelfer Richard Dresner und der PR-Mann Steven Moore.
Diese rieten zu einer Diffamierungskampagne gegen den kommunistischen Gegenkandidaten Sjuganow, u.a. durch „Wahrheitsschwadronen“, die ihn auf seinen Veranstaltungen mit (damals noch nicht so genannten) Fake News aus der Fassung bringen sollten. Jelzin willigte ein, als zentrale Botschaft die Gefahr eines Bürgerkrieges zu beschwören, falls die kommunistische Mangelwirtschaft wiederkehre. Bis dahin hatten die Staatsmedien Jelzin wegen seines Tschetschenien-Krieges verdammt – wie von Zauberhand brachten die großen Fernsehsender in der Woche vor der Stichwahl 158 kritische Beiträge zu Sjuganow und 114 positive zu Jelzin. Für Jelzins Wahlkampf waren 100 Millionen Dollar von privaten Sponsoren eingegangen.

Nach seinem Sieg schilderte das US-Magazin Time am 15.7.1996 detailgenau, wie man sich massiv in Russlands innere Angelegenheiten eingemischt hatte: Verdeckte Manipulation führt zum Erfolg, hieß es dort. Man konnte auch noch Meinungsfreiheit demonstrieren, Kritik an solchen Machenschaften war nicht zu erwarten. Inzwischen war eine Kaste russischer Oligarchen mächtig geworden. In der Amtszeit dieses protegierten Präsidenten halbierte sich das Nationaleinkommen, bis Russland 1998 zahlungsunfähig war.

  1. Die Interessen der anderen Seite zur Kenntnis nehmen

„Die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur“ sind eben nicht erst durch die „Annexion der Krim“ in Frage gestellt worden, wie unser alter Außenminister und neuer Bundespräsident beklagte, sondern mit solchen Einmischungen und spätestens 1999 durch die NATO. Auch damals ging es um Separatisten – kroatische, slowenische, vom Westen unterstützt, auch um russischen Einfluss zu schwächen. Vier Jahre nach dem Gemetzel in Srebrenica, als die Konflikte längst weitgehend unter Kontrolle waren, hat der Westen mit aktiver deutscher Beteiligung unter dem fadenscheinigen Vorwand einen Völkermord verhindern zu wollen, einen sinnlosen, zerstörerischen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien geführt. Wochenlang wurde eine europäische Hauptstadt bombardiert. Da spielten das Völkerrecht und territoriale Unversehrtheit keine Rolle, da wurden vom Verbündeten Russlands Gebiete abgetrennt, neue Grenzen gezogen und im Kosovo ungefragt die größte ausländische Militärbasis der US-Armee errichtet.

Die interessengeleitete Demagogie  des Westens in diesem Konflikt war, der Ukraine weiszumachen, ein Assoziationsabkommen mit dem traditionell verbündeten Russland sei eine Entscheidung gegen Europa und gegen Demokratie und müsse daher bekämpft werden. Als ob die kulturell gespaltene Ukraine nicht friedliche Beziehungen zu beiden Seiten hätte haben können.
Durch den vom Westen beförderten Machtwechsel in Kiew war plötzlich der Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte gefährdet, den Zarin Katharina 1783 in Sewastopol begründete. Seine Rückeroberung von der deutschen Wehrmacht 1944 durch die Rote Armee hat einen hohen Stellenwert im russischen Geschichtsbewusstsein.
Der andererseits als Russlandversteher beschimpfte Steinmeier hatte gemahnt, dass den Deutschen die Erfahrung der schuldbeladenen Vergangenheit nicht verloren gehen dürfe. Der deutsche Angriff auf die Sowjetvölker hat mehr als doppelt so viel Menschenleben ausgelöscht, wie im ganzen übrigen Europa. Wenn nicht billigen, so könnte man doch bedenken, warum die von den Bewohner der Krim gewollte Abtrennung als Akt verteidigungspolitischer Notwehr gesehen wird. Nötig, bevor man durch weitere Landnahme der Nato nicht mehr handlungsfähig ist.  Von Sewastopol bis Moskau sind es nur 1270 km – was eine BGM-109 Tomahawk Rakete mühelos erreicht, auch mit atomarem Gefechtskopf.

Die russischen Streitkräfte auf der Krim haben die ihnen im Vertrag mit der Ukraine zugebilligte Obergrenze von 25 000 Mann nie überschritten. Es gab keinen Grund, da auf der Krim kein Schuss und kein Tropfen Blut fiel.

Die Frage, ob im Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Unverletzlichkeit der territorialen Souveränität  Vorrang hat, ist offen. Die Rückkehr zu kaum lebensfähiger, nationalistischer Kleinstaaterei wie im einstigen Jugoslawien ist sicher ein Anachronismus in der globalisierten Welt. Wenn aber durch Kriege und koloniale Arroganz willkürlich gezogene Grenzen auch nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten bei der Bevölkerung keine Akzeptanz finden, dann wären verbindliche internationale Spielregeln für Autonomie bis zu mehrheitlich gewollter Separation womöglich hilfreich, um Blutvergießen zu vermeiden.
Dann hätte man jetzt zum Beispiel ein Druckmittel gegen die Regierung in Kiew, den im Minsker Abkommen vor zwei Jahren mit sofortiger Wirkung vorgesehenen Sonderstatus im Donbass, mit nachfolgender Verfassungsänderung, auch durchzusetzen.

Der russische Außenminister Sergey Lavrov zeigte sich vom Konferenzgeschehen genervt. Die NATO sei eine Institution des Kalten Krieges im Denken und im Herzen geblieben. Dies zeigten auch Erklärungen auf dieser Bühne. Der gesunde Menschenverstand sei für Russo phobische Elemente geopfert worden. Ein Eliteclub von Staaten regiere die Welt. „Unsere Vorschläge zum NATO-Russland-Rat sind nicht beantwortet worden.“ In der Ostukraine hätten beide Seiten den Waffenstillstand verletzt, aber der Westen blende in einer Art Selbstzensur die zivilen Opfer und die viel stärkere Zerstörung der Infrastruktur durch ukrainische Milizen aus. Der Mangel an Informationen sei das Hauptproblem. Russland wolle die volle Umsetzung des Minsker Abkommens, mit Verfassungsreform, Amnestie, Begnadigung der Maidan-Aktivisten, Wahlen und Wiedereinsetzung der Regierung im besetzten Gebiet. Aber Russland werde die ganze Schuld unterstellt, man höre nur Anschuldigungen, keine Fakten.

Der frisch gekürte Außenminister Sigmar Gabriel fragte, ob „unser Politik-Verständnis“ noch compatibel mit der heutigen Welt sei. Krieg sei leider als Instrument der Politik zurückgekehrt. „Die Außenpolitik muss der Verteidigungspolitik voran gehen, nicht umgekehrt.“ Während Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sich ungeachtet Trumpscher Tiefschläge als Transatlantikerin „ohne Wenn und Aber“ anbiederte und von der endlich gelungenen Kehrtwende zu mehr Aufrüstung schwärmte, warnte Gabriel, dass mehr Militärausgaben nicht zwangsläufig mehr Sicherheit brächten. Deutschland gäbe jährlich 30 bis 40 Millionen Euro für Flüchtlinge aus, weil militärische Interventionen schief gegangen seien. Dies sei auch Stabilisierung. Er verspüre „keine Glückseligkeit über eine neue Aufrüstungsspirale“. Die Richtung sei klar, wurde er dann doch kleinlaut, aber kurzfristig wisse er nicht, woher er das Geld nehmen solle.

  1. Wie kommen wir zu einer gemeinsamen Friedenspolitik?

Der Stein der Weisen ist nicht in meinem Besitz. Über diese Frage aller Fragen müssen wir schon gemeinsam nachdenken. Der Frieden betrifft uns alle so existentiell, dass man ihn nicht allein den Politikern überlassen kann. Auch nicht den Teilnehmern der Münchner Sicherheitskonferenz.  Auch uns nicht – aber die Gefahr besteht ja kaum.

Die Mächtigen müssen von der Militärlogik zu ziviler Logik zurück finden – wer würde da widersprechen. Denkt man. „Wenn eine Idee mit einem Interesse zusammenstößt, ist es allemal die Idee, welche sich blamiert“, so die zeitlose Einsicht von Friedrich Engels.
Der Gewinn des internationalen Waffenhandels beträgt so viel wie das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. Zumindest diese Hälfte ist ziemlich sicher dagegen – aber welchen Einfluss hat sie?
Krieg wird sein, solange auch nur ein Mensch am Krieg verdient, prophezeite Bertolt Brecht. Denkbar aber ist, eine Ordnung zu schaffen, in der Frieden das bessere Geschäft ist. Schwerter zu Pflugscharen. Gemeinwohl vor Eigennutz.

Die Realität könnte davon weiter nicht entfernt sein. Die Ausgaben aller NATO-Staaten für Verteidigung betragen über eine Billion Dollar im Jahr. Seit Existenz der NATO ist aber kein Verteidigungsfall eingetreten. (Den Kampf gegen die Schwerstkriminalität terroristischer Anschläge zum Krieg zu erklären und so jahrelang vor allem Unschuldige zu töten, ist selbst kriminell.)
Es gibt keinen einzigen Fall, in dem das gewaltsame Eingreifen dieses US-dominierten, größten Militärbündnisses der Welt, nicht vielfach mehr Menschenleben gekostet hat, als zu schützen vorgeben wurde. Kein einziger Fall, in dem alle in der UN-Charta geforderten Voraussetzungen erfüllt gewesen wären.
Die Menschenrechte wurden zu einem ideologischen Instrument degradiert, um in deren Windschatten mit Gewalt geostrategische Macht zu erobern. Keine bewaffnete „humanitäre Intervention“ hat Humanismus gebracht. Die angeblich „friedenserzwingenden Maßnahmen“ haben nur Hass und Fundamentalismus erzwungen. Das ist das Gegenteil von Sicherheit. Das rückt ganze Teile Europas in nationalistische Abwehr.

Der neue US-Verteidigungsminister  James N. Mattis, der früher NATO-Funktionen innehatte, versprach, die Abschreckung der NATO zu verstärken, eine „verstärkte Vorwärtspräsens“. „Die NATO dient dazu, unseren Lebensstil zu bewahren.“ Dies war der zweite Schlüsselsatz auf dieser Konferenz. Wessen und welchen Lebensstil genau? Verteidigung nicht mehr als Schutz vor kriegerischer Gewalt, sondern als Behauptung der eigenen, elitären Ansprüche gegenüber dem Rest der Welt.

Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker, bekannte Putin vor nunmehr 15 Jahren in seiner heute verdrängten Rede vor dem Bundestag. Wir hätten es noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des Kalten Krieges zu befreien. Soviel selbstkritisches Entgegenkommen hört man von westlichen Politikern selten. Ohne eine moderne europäische Sicherheitsarchitektur lasse sich kein Vertrauensklima schaffen, so Putin. Doch von einem Bündnis unter Einbeziehung Russlands wollte die NATO nichts wissen. Sie setzte auf verharmlosend „Abschreckung“ genannte existentielle Bedrohung: bis zu Bundeswehreinsätzen in Ex-Sowjetrepubliken, in denen einst die Wehrmacht wütete. Wandel durch Annäherung hat zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung.

Russland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil. Bis zum Ural auch geografisch. Seine Kunst hat die europäische tief beeinflusst: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow, Eisenstein, Tschaikowski, Schostakowitsch, Chagall, El Lissitzky und ungezählte andere, bis heute. Europa verstümmelt sich mit der Absonderung von Russland – kulturell, ökonomisch, touristisch, menschlich. Europa ist auf Russland angewiesen, um in Frieden zu leben.

Doch auf dieser Konferenz ging es nicht um Annäherung oder Entspannung, viele Redner setzten stattdessen auf Abschreckung und Aufrüstung. Zu den Sponsoren der Tagung gehören traditionell die Rüstungskonzerne Krauss-Maffei Wegmann, MBDA und Lockheed Martin. Auch aus dem Etat für „sicherheitspolitische Öffentlichkeitsarbeit“ des Verteidigungsministeriums kam eine halbe Million Euro.
Doch, es gab abweichende Meinungen, auch aufschlussreiche site-events, etwa zur Klima-Bedrohung. Oder erstmalig ein nobles literarisches Rahmenprogramm mit drei Nobelpreis-Trägern. Die eigentlichen Gespräche fanden in den Hinterzimmern statt, ohne Öffentlichkeit. Sie können hilfreich sein, für wen aber – das erfährt man nicht. Was auf offener Bühne stattfand war inszenierte Glasnost, ohne Perestroika. Die Logik der Militärs hat die Oberhand, das ist mehr als beunruhigend, es ist hoch gefährlich.

Es ist höchste Zeit über andere Ansätze nachzudenken. Gerade angesichts einer sogenannten Sicherheitskonferenz. Der von den Nazis umgebrachte Theologe Dietrich Bonhoeffer dachte wahrlich christlich-abendländisch: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine, große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung.“

Frieden ist der feste Wille, miteinander auszukommen. Weil die übergroße Mehrheit der Menschen im Krieg nichts zu gewinnen hat, aber alles zu verlieren. Das Wagnis liegt in der Bereitschaft, sich gegenseitig zu vertrauen. Indem man die Interessen des anderen respektiert, also gleichberechtigt zusammenarbeitet, sich beim Ringen um Einfluss nicht übervorteilt. Dazu gehört die Fähigkeit, sich selbst als belastet anzusehen und Kritik an der Gegenseite ohne einseitige Schuldzuweisungen vorzubringen. Unsere Freiheit wird am Humanen verteidigt, nicht am Hingekuschten – diesem Machtkampf um Energie und Einfluss.
Krieg ist die exzessivste Form von Terrorismus. Er ist seit 1929 für alle Zeiten völkerrechtlich geächtet. Die wichtigsten Unterzeichnerstatten haben sich nicht daran gehalten.

Demokratie heißt auch selber schuld sein. Wenn wir uns angesichts all der Kriege, all der vermeintlichen Schutzverantwortung, die nur die Interessen der Macht schützt, nicht schuldig fühlen, fühlen wir uns auch nicht als Teilhaber einer Demokratie. Obwohl wir Aktivbürger die Verfehlungen, die mit unserem Geld in unserem Bündnis gemacht werden, so gut wie nicht verhindern können, sind wir doch zuständig dafür. Eine gesellschaftliche Debatte über all das gibt es kaum. Die Kampagne Stopp Ramstein mobilisiert derzeit immerhin viele Menschen. Die Friedensbewegung scheint sich von interessierter Seite nicht mehr spalten zu lassen. Es geht nicht darum, Krieg zu gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden.

Die herrschenden Eliten nennen uns gern Steuerzahler. Wir sollen ihre Pläne finanzieren und ansonsten nicht weiter stören. Als aktive Bürger sind wir nicht gefragt. Unseren Drang nach Freiheit sollen wir als Konsumenten austoben. Für hinreichend Waren und Zerstreuung ist gesorgt. Das funktioniert leider recht planmäßig. Der schon zitierte Brecht hat die Obrigkeit beim Wort genommen: „Man hat gesagt, die Freiheit entsteht dadurch, dass man sie sich nimmt. Nehmen wir uns also die Freiheit, für den Frieden zu arbeiten!“

 

Johano Strasser (Hg.)
Das freie Wort
Vom öffentlich Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter
208 S., Hardcover mit Schutzumschlag, € 19,90
ISBN 978-3-86906-983-8