Hoffen ohne Illusionen – Die Black Agenda in den USA Freitag Nr. 18, 6.5.10

Sagt Ihnen, die Sklaverei ist vorbei!

Wie wohl kein Präsident vor ihm, steht Obama unter einem medialen Dauerfeuer von allen Seiten. Der Beschuß kommt eben nicht nur von den Republikanern und ihren Basisaktivisten der Tea-Party, sondern auch von der Wirtschaft, dem Jüdischen Weltkongress, den wenigen Linken und zu meiner Überraschung auch von vielen Schwarzen. 97 Prozent aller Afro-Amerikaner haben diesen „Bruder“ gewählt – die Erwartungen waren enorm. Wie groß ist die Ernüchterung?

Wer mal eben für ein Semester in die USA geht, kann nicht den Anspruch erheben, das Vorgefundene zu durchschauen. Mir bleibt nur aufmerksam zu beobachten und mit früheren Erfahrungen zu vergleichen. Wie ideologisiert die Gesellschaft doch geworden ist. Das hat Formen angenommen, die den Zugereisten die Sprache verschlagen. Auch weil Meinungsfreiheit in Wort und Bild die Freiheit zu lügen, zu verleumden und zu verunglimpfen einschließt. Wenn der rassistische Flügel der Tea-Party die Obamas auf Transparenten als Schimpansen –Familie darstellt, dann ist das eben sein Recht.

Wer wiederum die Kritik der Schwarzen verstehen will, durfte das vierstündige „Black Agenda Forum“ nicht verpassen. Der prominente schwarze Moderator Tavis Smiley hatte prominente schwarze Intellektuelle und Bürgerrechtler nach Chicago geladen. Unter dem Motto „We Count!“, mit uns ist zu rechnen, analysierten Afro-Amerikaner in riesiger Halle an riesigem Tisch die sogenannte postrassistische Ära unter Obama. Da abzusehen war, dass es selbst hier Kritik hageln würde, schob der Moderator zu Beginn ein Schild mit dem nicht zu vergessenen Grundkonsens gegenüber Obama in die Mitte des Tisches: Love.

„Er ist unser Bruder, wir sind stolz auf ihn, wir lieben ihn.“ Doch jemanden lieben, heiße auch, ihn zu korrigieren, meint Michael Eric Dyson von der Georgetown University. „Wir haben schon Schwarze als Bürgermeister und in Landesregierungen gehabt, die Situation der Schwarzen hat das nicht verbessert, eher im Gegenteil.“ Weil diese Amtsträger unter schärfster Beobachtung stünden, ob sie etwa Klientel-Politik betreiben. Deshalb würden sie weniger wagen als andere. „Jeder Präsident vor Ihnen hatte sich um Rassismus zu kümmern, die ´Bill of Rights´, die Gesetze zu Unabhängigkeit und Gleichberechtigung sind von Weißen gemacht worden. Natürlich, Sie sind der Präsident aller Amerikaner. Aber wir sind die Amerikaner, die am meisten Hilfe brauchen. Lieben Sie uns wenigstens so, wie Sie die Weißen und die Banker lieben. Wir liebten Sie schon, bevor Sie Präsident waren – jetzt repräsentieren Sie auch uns!“.

Die Statements sind von großer intellektueller und emotionaler Einprägsamkeit und werden immer wieder von Beifallsstürmen unterbrochen. Cornel West, der Querdenker von der Princeton University, erinnert daran, dass die Black Agenda immer die beste Agenda für die ganze Nation war. Weil sie sich für Unabhängigkeit, Freiheit von Unterdrückung, für soziale Gerechtigkeit einsetzte. „Wir müssen einen liebenden Druck auf unseren Präsidenten ausüben, auf die Schwachen zu achten. Und damit auf die Demokratie.“

41 Millionen Schwarze leben in den USA, das entspricht der Bevölkerung solcher Länder wie Spanien oder Argentinien. Seit Martin Luther King 1963 vor 200 000 Demonstranten in Washington DC „Jobs and Justice“ forderte, hat sich viel verändert, Afro-Amerikaner konnten in die Mittelklasse aufsteigen. Aber es sind immer noch zu wenige. Reichtum und Armut sind erblich geblieben. Gemessen an den Weißen ist die Arbeitslosigkeit unter den Schwarzen doppelt so hoch, dafür das Einkommen halb so groß. Die Besitzverhältnisse betragen nur einen Bruchteil. Viele hatten bisher keine Gesundheitsversicherung, die Säuglingssterblichkeit ist deutlich höher und die Lebenserwartung sechs Jahre geringer. Ob in Florida, Kalifornien oder an der Ostküste – an den Universitäten und Colleges, an denen ich zu Tagungen oder Vorträgen geladen war, blieb mir nicht verborgen, dass Afroamerikaner unterrepräsentiert sind, bei den Dozenten noch deutlicher als bei den Studenten. Dafür sind Schwarze bekanntlich in Gefängnissen überrepräsentiert. Sie kommen nicht selten aus ghettoartigen Wohngegenden.

„Wir sind im Baseball oder Football die Besten der Welt“, sagt Jesse Jackson, „und es ist schwer, der beste der Welt zu sein. Warum sind wir so gut auf diesem Feld und so schwach außerhalb dieses Feldes? Wenn die Regeln klar und fair sind, können wir es schaffen.“ Aber die Gesellschaft habe keine sportlichen Regeln, Steuergesetze, Einkommenspraktiken, die Kreditpolitik, Hausbesitzer-Lobbys – alle würden gegen den gesetzlichen Grundsatz der Gleichheit verstoßen und das Pressionssystem fortsetzen. „Dieses System müssen wir beenden.“

Die Black Agenda sei daher immer auch eine linke Bewegung, die nach Menschenrechten fragt, nach Umverteilung von Geld, nach mehr öffentlichen Schulen und sozialem Verständnis. Es gebe eine Verantwortung, die Anstrengungen der Vorkämpfer fortzuführen und nicht einfach nur froh zu sein, einen schwarzen Präsidenten zu haben. Obama habe ein gutes Herz, sei brillant und habe neue Ideen, aber man dürfe sich keine Illusionen machen. „Die Kräfte, die die Figuren der Macht umgeben, sind die eigentliche Power.“

Der Autor Tom Burrell hat noch eine andere Erklärung für das fehlende Selbstbewusstsein der Schwarzen. Seit Generationen hätten sie das in den Medien verbreitete Image, unterlegen und minderwertig zu sein, verinnerlicht und es sogar an Liebe und Respekt für einander fehlen lassen. Einst wurden sie gewaltsam nicht nur von ihrer Heimat und ihren Familien getrennt, sondern auch von ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihren Liedern und Geschichten. Das habe sie hilflos gemacht. „Die Krankheit der Sklaverei ist noch in uns.“

Aber wie sollen wir sie überwinden? fragt nicht nur Raven Curling, als Sprecherin der Studenten der Chicago State University die Jüngste am Tisch. Sie bekommt Standing Ovations für ihre These, die Sklaverei würde fortgesetzt im Kostüm von weniger Bildung, weniger Jobs und weniger Geld, in einem Leben in Angst und aufgezwungener Untätigkeit. „ Das Weiße Haus hat fast nur weiße Berater und ist daher trotz Obama ein weißes Haus geblieben.“

Juliane Malveaux, die Präsidentin des Bennett College für Women bestätigt: Von den Fördergeldern, die die Krisenfolgen abfedern sollen, sind nur 3 Prozent an der Basis angekommen. Schwarze Schulen werden geschlossen. Und die verbleibenden unterliegen der täglichen medialen Gehirnwäsche. „Keine unserer Schulen erzieht schwarze Kinder zu selbständigem Denken, um sie zu einer selbstverantworteten Zukunft zu befähigen. Wir werden ein 3. Welt-Land werden, wenn wir nicht mehr Bildung für alle gewährleisten. Der springende Punkt von Bildung ist, Ressourcen kontrollieren zu können. Auch wir brauchen dazu unsere Lobby, network und nochmals network, wie es die Weißen vormachen.“

Gegen Ende kommt am Tisch die Sorge auf, ob die Presse bei ihrer Berichterstattung über das Forum das Liebevolle an der Kritik an Bruder Obama auch nicht unterschlagen werde. Schließlich habe er sich dieser trotz allem aufgerieben, sei gealtert seit dem Wahlkampf, bekomme schon graue Haare. Seine Sicherheit sei nicht, wie sie sein sollte, Unbefugte konnten ins Weiße Haus eindringen. „Wir beten für ihn – schützt ihn!“

Als ich später vor dem weißen Haus stehe, wundere ich mich, weit und breit nur ein Polizeiauto zu sehen, die Sheriffs lässig Cola trinkend. Der Präsident ist in Prag, beruhigt man mich, den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnen. Als wolle er die Kritik an seinem Reden und Nichthandeln innerhalb weniger Tage widerlegen, unterschreibt er außerdem Schlag auf Schlag das Gesetz über die Health Care, ein Programm über Fördermittel für Studenten und die schlecht getimte Freigabe für Ölbohrungen im Ozean. All das mach ihn nicht weniger umstritten.

An der Gartenseite des Weißen Hauses zeigen sich die Touristen plötzlich erregt, halten ihre Digitalkameras durch die eisernen Stäbe des Zauns. Gibt uns doch noch ein Familienmitglied die Ehre? So gut wie. Der groß gewordene Hund Bo wird ausgeführt. Bei Ausländern scheint Obamas Popularität ungebrochen, zu Hause hat sich herum gesprochen, dass es der Messias wieder einmal nicht war. Wo die Mehrheit doch sogar bereit war, einen schwarzen Erlöser zu akzeptieren. Und die übrigen zumindest die Chance sahen, ihm den Schwarzen Krisen-Peter zuzuschieben. America is for sale, hört man und dass der Ausverkauf in Sparexessen enden werde, wie sie Griechenland schon mal vorturnen soll. Nur die Rüstungskosten dürfen dennoch steigen. Ansonsten bleibt nicht viel Ermessensraum. Jedenfalls nicht, wenn man im Spiel bleiben will.

Vorerst fallen dem zeitweiligen Besucher im Straßenbild der Großstädte kaum beunruhigende Indizien auf. Wo die zigtausend Familien geblieben sind, die ihre Häuser verloren haben, kann mir niemand erklären. Manchmal sieht man in Zeitungen Fotos von Zeltstädten, irgendwo weit draußen, im Verborgenen. Muße zu Alltagsstudien habe ich erst, als ich zur Rückreise gerüstet, als eine der ersten zu vulkanbedingtem Bleiben genötigt werde. Neun ungeplante Tage in New York City illustrieren manche Vermutung.

Der vom Frühling verzauberte Central Park mit seinen blühenden Mandelbäumen und Tulpenbeeten und viel Volk in farbenfrohen Kleidern stimmt einen froh: Aus der Straßen quetschender Enge dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern, die Wiesen und Boote gehören gleichermaßen groß und klein, schwarz und gelb. Erst wenn das Auge zu unterscheiden gelernt hat, fallen einem plötzlich die wie aus Filmen aus dem vorigen Jahrhundert entstiegenen Nannys auf, die schwarzen Kindermädchen, die weiße Zöglinge ausfahren. Ein älterer, hagerer Farbiger schiebt einen hinfälligen alten Weißen im Rollstuhl durch den Park – ein weißer Bediensteter, der einen Nachkommen der Sklaven pflegt, ist immer noch unvorstellbar.
Als Straßenmusiker und Spaßmacher sind die Afro-Amerikaner dagegen hochwillkommen. Ein langgeschossener Saxophonist geht beim improvisierenden Spiel vor einem Zwillingswagen in die Knie und gewinnt damit Kinder, Mutter und Publikum. So sensibilisiert, staune ich, vor einem teuren Supermarkt einen jungen, mit vielen Tüten beladenen Schwarzen ein Taxi abwinken zu sehen. Bis unter einem Baldachin die Lady hervortritt, das Taxi besteigt, während die Aufgabe des Jungen sich darauf beschränkt, die Tüten im Gepäckraum zu verstauen.

Am Abend glaube ich die Lady wiederzusehen. Durch ein günstiges Geschick gerate ich vor Eröffnung der Ende April gespannt erwarteten, ersten Picasso-Ausstellung des ehrwürdigen Metropolitan in eine nur für die zahlungskräftigen Mitglieder des Museums organisierte Sonderführung. Hier trifft sich das Bildungsbürgertum von Manhattan. Leute mit sympathischer Aura. Kunstverständig. Mehr oder weniger. Vor dem Bild „Nackte am Meer stehend“ von 1929, aus Picassos surrealistischer Phase, ringt eine Besucherin um Fassung: „Ich mag nur die Farbe.“ Die weißen Herrschaften werden einige hundert gewesen sein, Schwarze habe ich vier gezählt. Auch China Town war übrigens schlecht vertreten. Spanisch, die Sprache des Taxifunks von NYC, blieb außen vor.

Kontrastprogramm am nächsten Abend. Kurz vor Harlem, in der Riverside Church, deren Turm ein Wolkenkratzer ist, treffen sich 500 meist schwarze Hausangestellte, Nannys, Pfleger und Putzfrauen von New York, zu einem Town Hall Meeting. Ihre Gewerkschaft, unterstützt von einer jüdischen Organisation für ethnische und ökonomische Gerechtigkeit, verlangt eine Bill of Rights für die Domestic Workers. In aufgebrachten Reden und einem von Nannies nach zehn- bis zwölfstündiger Arbeit einstudiertem Theaterstück, werden die Bedingungen geschildert:
Sie arbeiten nicht selten für einen Stundenlohn von drei Dollar, meist ohne Bezahlung von Überstunden, Krankheit und Urlaub. In neun von zehn Fällen zahlt der Arbeitgeber nichts für ihre Gesundheitsversicherung. Viele haben keinen freien Tag – ein Recht, das man selbst Rennpferden zubilligt. Manche essen, was von den herrschaftlichen Tischen zurück kommt. Jeder Dritte berichtet von verbalen Beleidigungen oder körperlichem Missbrauch. Einige schlafen in den Kinderzimmern und haben keine Privatsphäre. Ihre Isolation erschwert es, bessere Bedingungen auszuhandeln, wer es dennoch versucht, riskiert, entlassen zu werden.

Die Hausangestellten verlangen eine Würdigung ihrer Tätigkeit, die es erst möglich macht, dass New Yorks Geschäftsleute jeden Tag unbesorgt zur Arbeit gehen können. Hausarbeit ist sinnvoll, was man nicht von jeder Arbeit sagen kann. „Wir haben zwar kein Streikrecht, könnten die Stadt durch unser Fernbleiben aber völlig lahm legen.“ Es sei eine Schande, dass die selben Probleme seit 100 Jahren bestünden. Ein Plakat droht: Sagt Ihnen, die Sklaverei ist vorbei!

Ein schwarzer Präsident macht noch keine postrassistische Ära. Vielmehr bricht er die Probleme auf – Chance und Gefahr zugleich.