Hier schreibe ich und kann nicht anders. Zur Debatte um Günter Grass – Freitag 34, 25.08.2006

Hier schreibe ich und kann nicht anders

GÜNTER GRASS – Zur Debatte um Günter Grass

Banausen glauben, große Leistungen in Kultur und Wissenschaft können nur von großen Menschen vollbracht werden. Weshalb sich diese für so etwas Göttliches wie eine moralische Instanz eignen müssten. Erst heben sie den Auserwählten auf den Sockel, so dass dieser Mühe hat, das ihm zugedachte Denkmal abzulehnen. Und dann gefallen sie sich in der lustvollen Genugtuung: Siehe, der Künstler ist ein fehlbarer Mensch. Doch wenn er kein fehlbarer Mensch wäre, wäre er kein Künstler. Makellose Charaktere schreiben nicht. Sie haben weder Antrieb noch Stoff, sich diese Quälerei anzutun. Brecht hat Galilei vorgeschickt, um Nachsicht für sich zu erbitten.

Die in die Waffen-SS führende frühe Verblendung des Künstlers Günter Grass ist in der Tat schwer nachvollziehbar. Doch wenn Historiker nun behaupten, ein bereits in den fünfziger Jahren gegebenes rückhaltloses Eingeständnis von Schuld hätte dem Schreiben des Autors nicht geschadet, so darf dies bezweifelt werden.

Gerade aus der gespürten Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und Verhalten erwächst der kreative Zwang, immer aufs neue Schmerzgrenzen überschreiten zu müssen. Weil die Kraft vorerst nur dazu reicht, eine bloße Beichte in Verse, Metaphern und Episoden zu verkleiden. Ohne dass in den Ohren „dröhnende Schweigen“, ohne die „nagende Scham“ hätten wir Leser vermutlich auf viele drastische Geschichten und rigorose Einmischungen verzichten müssen. Man kann nicht alles haben.

Der „Langweiler Wahrheit“ hätte uns einen makellosen Bürger Grass beschert, aber womöglich kein so umfangreiches, kein so eigenwilliges, verstörendes, aufrüttelndes und provozierendes Lebenswerk. Mit dem Stachel des unerklärlichen und unerklärten Restes. Hier schreibe ich und kann nicht anders. 20 Bücher lang. Wer dem Karrierekalkül unterstellt und nicht sieht, dass da keine innere Wahl war, mag sich in dieser Ignoranz erhaben fühlen.

Im Übrigen sagen Art und Zeitpunkt einer Selbstkritik oft mehr über die politische Kultur als über die Person. Die Bundesrepublik der Anfangsjahre hat sich nicht gerade durch besondere Härte im Umgang mit NS-Tätern und Mitläufern hervorgetan. Beifall von der falschen Seite war fast mehr zu befürchten als heftige Schelte. Und nach 1968, als Grass eben dies und vieles mehr kritisiert hatte, würden wohl alle sich angesprochen Fühlenden mit ihm abgerechnet haben. Wer stört, darf nicht auf Gnade hoffen, er wird denunziert. Die Reaktionen von heute belegen nicht das Gegenteil. Schon wird sein spätes Selbstbefragen, bei dem sich nichts findet, das dem Knaben günstig wäre, benutzt, um mehr Verständnis für die Sichtweisen in der Nazizeit einzufordern.

Der Schriftsteller Grass konnte die Grenzen des Sagbaren nicht mit knappem Statement bei politischer Gelegenheit überwinden, sondern nur im ausführlichen und obendrein literarischen Kontext. Der nachvollziehbare Vorsatz ist dann allerdings durch das ungut verknappende und zur Sensation stilisierte FAZ-Interview konterkariert worden.

Was den moralischen Rigorismus gegenüber anderen betrifft, so ist von Grass kein Abkanzeln verirrter Halbwüchsiger erinnerlich. Die strengen Maßstäbe galten wohl auch weniger der Vergangenheit von Politikern und anderen Wortführern, als deren ewiggestriger oder das Morgen verschlafender Gegenwart.

Ihm dazu das Recht absprechen mag, wer mehr als der Citoyen Grass zu einer streitbaren Demokratie, für die Verständigung zwischen Deutschen und Polen, Juden, Sinti und Roma, zwischen Ost und West und Nord und Süd getan hat. Hätten sich die Männer seiner Generation nicht mehr vorzuwerfen als er und nicht weniger getan, um ihre Irrtümer auszugleichen – die Welt sähe anders aus.