Rundbrief: Bestandsaufnahme
Da hat die hellwache Publizistin Daniela Dahn, die Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs 1989 war, mitten in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise des Kapitalismus eine Gesellschaftsund Wirtschaftsanalyse vorgelegt, die 20 Jahre nach dem Mauerfall durch ihre Klarheit, Brisanz und dialektische Formulierkunst besticht. Besser als viele gegenwärtige nostalgische Wendezeugnisse recherchiert sie präzise die Prozesse in der kapitalistischen und pseudosozialistischen Gesellschaftsordnung und kommt zu dem Schluss, dass beide gegensätzlichen Systeme in Deutschland nicht autonom waren, sondern gleichsam als siamesische Zwillinge an einer Nabelschnur hingen. Und deshalb lautet der überraschende Befund der unbequemen Autorin heute: Mehr als der frühere Osten ist der Westen zum Verlierer der Einheit geworden. Ohne Systemkonkurrenz hat er seinen Halt verloren. Werte und Ziele wie Wohlstand für alle, mehr bürgerliche Freiheiten, soziales Wirtschaften und eine intellektuelle Kultur, die auf Meinungsvielfalt setzt, schwinden dahin. So muss heute der Kapitalismus aufhören, er selbst zu sein, „damit die Krise nicht auch die Demokratie in den freien Fall zieht.“
Wie deckungsgleich und doch zugleich seitenverkehrt die beiden Systeme waren, zeigt die Autorin an dem Unterschied zwischen Konkurrenz und Wettbewerb auf: „Der Unterschied zwischen Konkurrenz und Wettbewerb ist der Unterschied zwischen den Disziplinierungsmodellen des ökonomischen und ideologischen Drucks. Ohne ein solches Modell kommt offenbar keine Gesellschaft aus, aber mit ihm auf die Dauer auch nicht. Die politischen Repressionen hatten verheerende ökonomische Folgen, während die ökonomischen Repressionen (Zinsdruck, Insolvenz, Entlassung) derzeit verheerende politische Konsequenzen haben“ (S. 23)
Zugleich entmythologisiert Daniela Dahn die freie Marktwirtschaft auf das, was sie bietet: Reichtum für die Starken, Armut für die Schwachen. Deshalb kann eine soziale Marktwirtschaft nur durch gerechtes planvolles Handeln entwickelt werden, in der der Staat regulierend wirken muss. Sie macht dies mit einer Metapher der Schöpfungs- und Sintflutgeschichte deutlich: „Man muss sich den Schöpfer als glücklichen Planwirtschaftler vorstellen. Mit einem Sieben-Tage-Plan. Nicht auszudenken, wenn die Erschaffung der Welt dem Markt überlassen worden wäre. Dann hätte am ersten Tag das Geld geschaffen werden müssen, am zweiten Tag das Privateigentum, am dritten die Bank, am vierten die Börse, am fünften das Insolvenzverfahren, am sechsten Karl Marx und am siebenten der Hedgefonds. Wehe, wehe – so aber ging alles seinen göttlichen Gang, von der Schöpfung bis zur Vorsehung – eine durchgeplante Lehre. Da der Sündenfall, wenn nicht provoziert und beabsichtigt, so doch vorhersehbar war, stand neben dem Paradies gleich eine unwirtliche Welt zur Verfügung. Verbesserbar, durch den Pflug der Zivilisation. Ging etwas schief, wie in Sodom und Gomorrha, so hat nicht der Markt geheilt, sondern ein Bauplan, in diesem Falle der für die Arche Noah.“ (S. 35).
Als basisdemokratische Akteurin weiß die Autorin: „Veränderung kann nur von unten kommen. Der Bürger ist die kleinste Zelle der Demokratie. Er, sachkundig und allseitig informiert, muss sich in seine eigenen Angelegenheiten mischen; Widerstand leisten und Vorschläge machen…. Wem Zorn fehlt, dem fehlt Selbstachtung. Wenn sich die krisenhafte Entwicklung zuspitzt, ist auch eine Globalisierung des Zorns zu erwarten…. Denn das Defizit liegt nicht vorrangig im Konzeptionellen, sondern in der Durchsetzbarkeit dessen, was aus der Sicht der Mehrheit für nötig erkannt wird. Es fehlt nicht an Entwürfen für eine gerechtere Welt, sondern an der Kraft, sie durchzusetzen“ (S. 294).
Insofern ist das Buch ein ganz protestantisches Buch, das zur Pflichtlektüre eines jeden Christen gemacht werden müsste.
Christoph Körner