Flüchtende

Das Wort „Fluchtursachen“ ist aus dem Vokabular des Westens gestrichen

Daniela Dahn

der Freitag – 18. November 2021

Kühl sagt Heiko Maas, glückloser Außenminister, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. Es scheint egal, ob sie erfrieren oder nur erkranken. Egal, ob sie schon europäischen Boden betreten und damit das Recht auf ein Asylverfahren haben. In Brüssel wird nicht über ein Vertragsverletzungsverfahren diskutiert, sondern über die Bezahlung einer Mauer. Auf jeden Migranten, auf jede Frau, jedes Kind, kommen inzwischen drei oder vier Uniformierte an dieser Grenze der Schande – nicht
mit dem Auftrag zu helfen, sondern mit dem gesetzwidrigen Pushback-Befehl. Go, go, go ist ihre Botschaft.
Das Wort Fluchtursachen scheint aus dem Vokabular gestrichen. Stattdessen werden Migranten angeblich nur noch „instrumentalisiert“, was ihnen eigene, begründete Motive abspricht. Und erst recht deren Verursacher im Dunkeln lässt. Die meisten Geflüchteten kommen aus dem Irak. Im Gegensatz zu Belarus war Polen einst mit 2.000 Soldaten beteiligt, als das Land von ausländischen Truppen, die dort nichts zu suchen hatten, in Schutt und Asche gebombt wurde.
Die Sprache zeugt heute unverändert von militantem Denken: „hybrider Angriff“ (von der Leyen), „menschliche Schutzschilde“ (Morawiecki) oder „weißrussischer Staatsterror“ (Steinmeier). Nun erwägt die polnische Regierung, die NATO um Rat zu bitten. Und dies wenige Tage nach der Pariser Libyen-Konferenz, die erneut veranschaulicht hat, wie andauernd die Schäden in dem von der NATO mitverursachten „Failed state“ sind. 2011 hatte die NATO der UNO demonstriert, was von ihrem Rat zu halten ist. Sie schützte nicht die zivilen Aufständischen gegen Gaddafi, sondern zerstörte die zivile Infrastruktur. Denn Gaddafi hatte neben der diktatorischen auch eine emanzipatorische Seite, die Libyen nach dem UN-Index der Entwicklung von 2010 auf den ersten Platz unter den afrikanischen Ländern befördert hatte, weltweit damals auf Platz 53 (heute ist es der 105.). Das 4.000 Kilometer lange Netzwerk von Kanälen und Stahlpipelines, mit denen nubisches Grundwasser aus 1.300 Meter tiefen Wüstenbrunnen in die Städte gepumpt wurde, war gerade fertiggestellt. Geplant war die Bewässerung von 150.000 Hektar – eine „grüne Revolution“ zur Ernährung ganz Afrikas. Zerbombt wurden wesentliche Teile der Leitungen und die Produktionsstätten der Pipelines. Heute ist Afrika wieder abhängig von den teuren, westlichen Anlagen zur Entsalzung von Meerwasser, die weit unökologischer sind, schlechtere Qualität liefern und Wasser knapp halten.
Der Rat der NATO als Drohkulisse.
Die Methoden Lukaschenkos sind nicht hinnehmbar. Aber sind nicht die „Strafaktionen“ des Westens auch eine Form von Staatsterrorismus? Die EU hat sich auf ein Importverbot von Kali aus dem davon abhängigen Belarus verständigt. Man müsse, so Maas, den Staatsbetrieb (mit seinen 20.000 Mitarbeitern) „empfindlich treffen“. Wieso ist der Westen so überrascht, wenn Diktaturen nicht gefälligst unter den Sanktionen zusammenbrechen, sondern ihrerseits Gegenwehr suchen? Die EU darf strafen, sich selbst aber nicht erpressen lassen. Neokoloniales Gebaren. Der wirksamste politische Druck ist immer noch die Leuchtkraft einer echten Demokratie, die sich nicht nur an Recht und Gesetz hält, sondern mit großzügiger Mitmenschlichkeit überzeugt. Mit go, go, go wird jedenfalls nicht zu verhindern sein, dass neue Fluchtwege gefunden werden, die unseren Wohlstand auf Kosten anderer vor Augen führen.

Alle reden über den Pakt zur Migration. Reden wir über den zu Flüchtlingen

Daniela Dahn

erschienen in der Freitag 6. Dezember 2018

Zwei Pakte, die die UN-Vollversammlung auf den Weg gebracht hat, stehen jetzt vor der Annahme.
Alle reden über den Pakt für Migranten – reden wir über den für Geflüchtete.
Migratio heißt Umzug; Auswanderer hoffen ohne Rechtsanspruch auf Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, ziehen nicht selten nach Jahren wieder zurück. Zur Flucht Gezwungene, politisch Verfolgte dagegen genießen Asylrecht, wenn auch in Deutschland beschnitten bis zur Unkenntlichkeit, nach der Grundgesetzänderung von 1993, bei der die SPD aus der Opposition heraus für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit sorgte.
Als „Menschen mit Migrationshintergrund“ werden heute der Einfachheit halber alle bezeichnet. Eine scharfe Trennung gibt es letztlich nur auf dem Papier. Auch wenn die unter Mitwirkung von 146 Staaten erarbeiteten Abkommen nicht rechtsverbindlich sind, ist die UN mit ihrem Geist der internationalen Solidarität damit endlich wieder in die Offensive gekommen. So wie einst die Menschenrechte eine normative Moral etabliert haben, ohne selbst einklagbar zu sein, hofft man nun auf wachsende Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit.
Waren doch nie mehr Menschen auf der Flucht als heute – 24 Millionen, die Hälfte von ihnen Kinder. Im Windschatten um die Aufregung über die erstmalig geordneten Belange für eine reguläre Migration ist bislang öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden, dass auch für den Umgang mit Geflüchteten in Europa und darüber hinaus eine Abkehr von bisheriger Praxis angestrebt wird. „Robuste und gut funktionierende Regelungen“ sollen die Exil-Länder mit geringem und mittlerem Einkommen entlasten und die Verantwortung gerechter auf alle Staaten verteilen.
Was darauf hinausläuft, die perfiden Dublin-Verträge außer Kraft zu setzen. Deren weitgehend von Deutschland durchgesetzte Logik besteht darin, den ärmeren Ländern zu dekretieren: Wen ihr hereinlasst, für den seid ihr verantwortlich. Derart überforderte Länder wie Griechenland, Bulgarien und Italien wehren die Flüchtlinge ab oder behandeln sie so schlecht, dass sie weiterziehen. Verzweifelt irren die Unwillkommenen durch Europa, werden wie Frachtgut hin und her geschoben.
Freiwillig bekundet die Mehrheit der Staaten nun dazu beitragen zu wollen, dass Flüchtlingen auf humane Weise geholfen wird. Die Würde des Menschen ist kein Konjunktiv, wie es auf der #unteilbar-Demo hieß. Durchgesetzt werden soll das Kardinalprinzip des Flüchtlingsschutzes: Berechtigte Ansprüche dürfen nicht zurückgewiesen werden.
Sosehr also zu wünschen ist, dass die beiden Pakte eine humane Dynamik entfalten, so wenig lässt sich manche Irritation verschweigen. Es wird beteuert, dass der Pakt „völlig unpolitisch“ sei. Bitte was? Ist „unparteiisch“ gemeint, liegt ein Übersetzungsfehler vor? Doch auch im englischen Original ist der Global Compact on Refugees „entirely non-political in nature“. Ist Politik schon so in Verruf geraten, dass man sich in ihrer Nähe nicht mehr sehen lassen will?
Wohl wahr, es gibt derzeit kein Land auf der Welt, dessen politisches Credo wäre: Fluchtursachen first. Ihre Bekämpfung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, räumt der Pakt ein und vertraut auf die „Maximierung von Beiträgen des Privatsektors“. Dessen Investitionskraft, Finanzinstrumente und kommerziellen Geschäftsmodelle, ergänzt durch Arbeitskräftemobilität, sollen es richten. Also letztlich die Instrumente, die das ganze soziale Desaster erst angerichtet haben. Das ist hochpolitisch. Und sollte eine entsprechende Antwort erhalten.

Artikel als pdf

Willkommen und Abschiebung – Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Daniela Dahn

erschienen in: der Freitag | Nr. 25 | 21. Juni 2018

Willkommen und Abschiebung

Über menschliche Kälte, den Kampf der Kulturen von Haben oder Sein und das Gebot grundstürzender Umverteilung: Sind Geflüchtete ein Schreckgespenst oder das neue revolutionäre Subjekt?

Der sogenannte Befreiungskampf gegen illegale Einwanderung hat das Potenzial, Regierungen zu stürzen und Faschismus zu mobilisieren. Nicht nur in Ungarn, wo sich fast drei Viertel der Wähler zu Kämpfern erhoben haben. Wer sich in Deutschland an der Basis umhört, gerade unter Gewerkschaftern, der könnte wie der Soziologe Klaus Dörre zu dem fassungslos machenden Schluss kommen: Der Faschismus ist nicht mehr aufhaltbar. Und morgen gehört ihnen Europa?

Man muss miteinander reden, heißt es allenthalben. Also reden wir. Die Vertreter von Willkommen und Abschiebung. Die Unterscheidung ist unscharf. Allein die Wortwahl – wegschieben, Schnee schieben, Menschen schieben. Der eher dem Abschottungslager zuzurechnende Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz schrieb 2016 im Cicero: „Dass Menschen aufgezwungene Veränderungen nicht wollen, dass sie Parallelgesellschaften ablehnen, dass sie kulturelle und religiöse Konflikte nicht wünschen, ist weder fremdenfeindlich oder rechtsradikal, noch rückschrittlich, sondern ihr gutes Recht.“ Natürlich sind mit dem Aufeinandertreffen fremder Kulturen Konflikte verbunden; wer sie nicht selbst erlebt, wird über die Medien reichlich damit versorgt.

Wofür Medien (und Psychologen) weniger sensibilisieren, ist, sich in die zu versetzen, denen seit vielen Generationen von Wohlstandsmenschen wie uns brutale Veränderungen ihrer gewohnten Lebensweise aufgezwungen werden. Die Parallelgesellschaften der übelsten Art ertragen mussten und müssen: als Sklaven, Kolonialisierte, Missionierte, Opfer imperialer Putsche und des Terrors kapitaler Ökonomie und auch noch des Krieges gegen den Terror. Der Trugschluss, ein kleiner Teil könne unbeschwert in Luxus leben, während der Großteil dafür in Armut und Konflikten versinkt, könnte gerade darauf beruhen, dass wir nicht wünschen, diesen Missstand als „kulturellen Konflikt“ wahrzunehmen.

Auch religiöse Konflikte mögen wir gar nicht. Wir finden es bedauerlich, wenn westliche Länder islamische in Kriegen mit Erniedrigung, Leid, Raub, Chaos und so genährtem Fundamentalismus geflutet haben. Aber es gab keine Alternative zum Schutz unserer und ihrer Sicherheit. Was ist der Dank? Jetzt wird der Hindukusch auch in Deutschland verteidigt.

„Wir wollen unsere abendländische und christliche Kultur“ bewahren – hält die AfD dagegen. Der Mythos vom Abendland war auch den Nazis willkommen, als Abgrenzung gegen „jüdischen Bolschewismus“ und alles Fremde. Nun richtet sich das Geschütz gegen die „islamische Überflutung“. Da schaltet so mancher Erzbischof, beinahe wie einst Don Camillo, bei unliebsamen Kundgebungen schon mal die Kirchenbeleuchtung aus. Muslime brächten auch Werte mit, die zu beleben uns guttäte – wie familiärer Zusammenhalt, meint der Ratsvorsitzende und wirft der AfD „menschliche Kälte“ vor. Innerchristliche Konflikte, wie befremdlich sie auch sein mögen, werden als nicht so störend empfunden wie die mit fremden Religionen.

Grünbeins Weltrevolution

Dabei prägt unsere Lebensweise Migranten viel mehr als umgekehrt. Die allermeisten Muslime passen sich nach einiger Zeit der hier üblichen Familienplanung an und sind toleranter als gedacht. Selbst von den hochreligiösen Sunniten in Deutschland wollen laut einer Bertelsmann-Studie 40 Prozent homosexuelle Paare heiraten lassen – in der Türkei wollen das nur 12 Prozent. Gar 90 Prozent „unserer“ Sunniten halten die Demokratie für eine gute Regierungsform, also nicht die Scharia.

Sind noch alle an Bord? Hört noch jemand zu? Ist es tatsächlich unser Recht, uns frei zu halten von Übeln, die wir aktiv oder durch schweigende Duldung anderen antun? Die Übereinstimmung mit der eigenen kleinen Welt verlieren – nicht mit uns, rufen die aus dem Westen, nicht schon wieder, die aus dem Osten. Und beide wissen: Es wird nie wieder, wie es war.

Denn es darf nicht so bleiben, wie es war. Mit unserer Kultur des Habens und der Ignoranz gegenüber der immer offensichtlicher werdenden Erkenntnis der „Habenichtse“: Wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich. Allein in den letzten vier Jahren, so die Internationale Organisation für Migration, sind auf der Flucht 25.000 Menschen umgekommen – hinzu kämen die namenlosen, die in der Sahara verdursteten und im Mittelmeer ertranken. Es ist die Nagelprobe für Wutbürger, ob sie den Glutkern des Humanismus verinnerlicht haben: Alle Menschen sind gleich an Würde und an Rechten. Alle, nicht nur Bio-Deutsche, die es so wenig gibt wie Bio-Autos. Deutschland hat seinen ökologischen Fußabdruck für 2018 bereits Ende April hinterlassen. Der weitere Verbrauch geht auf Kosten anderer, Ärmerer. Deren Existenz nicht selten internationale Konzerne mit deutscher Beteiligung durch Knebelverträge und verseuchte Natur zerstört haben. Wer gegen diesen permanent betriebenen Verstoß gegen Recht und Würde nie aufbegehrt hat, nicht durch praktisches Engagement noch durch theoretisches Rebellieren in Bild, Schrift und Ton, der möge vom Obersten Gericht mit christlicher Nächstenliebe und Mitgefühl bestraft werden. Und dann aufwachen.

Sicher, die Einreise über die blaue oder grüne Grenze ohne gültiges Visum ist illegal. Aber wessen Antrag nach Prüfung anerkannt wurde, der hatte offensichtlich keine Chance, seine legalen Ansprüche anders als über illegale, lebensbedrohende Wege durchzusetzen. Seine Einreise war legitim. Das Grundgesetz bestimmt: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Da wir politische Verfolgung nicht begrenzen können, dürfen wir auch die Aufnahme der Betroffenen nicht begrenzen. Armut, Bürgerkriege oder Naturkatastrophen gelten, selbst wenn durch westliche Politik mit ausgelöst, als unpolitische Verfolgung. Das ist unlogisch, aber konsequent für eine Welt, die so viele ins Elend gestürzt hat, dass die ursprüngliche Idee von Asyl ad absurdum geführt wurde. Allein mit Aus- und Einwanderung sind die Probleme nicht zu lösen, darüber dürfte sogar Einigkeit herrschen.

Durs Grünbein hat, rückblickend auf die Kontroversen unter Literaten und Verlegern in der Süddeutschen, das eigentliche Problem in einem Nebensatz abgehandelt: Die Lage sei so komplex, dass sie „nur noch durch eine Weltrevolution zu lösen“ sei. Das wurde unhinterfragt hingenommen. Könnten wir uns bitte darauf einigen, an diesem Punkt mit den Überlegungen nicht aufzuhören, sondern anzufangen?

Ende des Jahres will die UNO zwei Pakte verabschieden, einen für Flüchtlinge und einen für geordnete Migration. Die Entwürfe liegen vor. Die Kapazitäten von Gemeinden sollen gestärkt werden, um Flüchtlinge besser integrieren zu können, gezielter auszubilden und leichter arbeiten zu lassen. Individuelle Unterbringung soll größere Camps ersetzen. Denkbar sei eine verpflichtende Aufnahmequote. Friedenspolitik soll weltweit gestärkt werden. Völlig offen bleibt bisher, wer all das Wünschenswerte bezahlen soll.

Ran an die Steuerflüchtlinge

Regierungen haben da meistens eine Idee: Nach einem Bericht der Bundesbank vom Juni 2015 hat die Bankenrettung den Steuerzahler 236 Milliarden Euro gekostet. Das hat heftig auf die Sozialsysteme gedrückt, aber kaum jemand außer der Linken hat das beklagt. Das Finanzministerium hat für 2018 „Flüchtlingskosten“ von 15,2 Milliarden Euro bereitgestellt. Das ist, hochgerechnet über Jahre, im Vergleich mit dem Rettungsschirm für Banken, nur eine Rettungsmütze. Aber alle beschwören den Untergang der Sozialsysteme. Wenn deutsche Rentner heute Flaschen sammeln, dann nicht wegen der Rettung von Geflüchteten, sondern wegen der Rettung von Banken. Wer ist bei 440.000 fehlenden Arbeitskräften wirklich eine Last? Wenn sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, so wurde Ende Mai beiläufig gemeldet, werden schon fünf Jahre nach ihrer Ankunft die Hälfte der Asylbewerber in Lohn und Brot stehen und so der Gesellschaft mehrfach zurückgeben, was sie empfangen haben. Würde all das transparenter vorgerechnet, könnten Verlustängste gemildert werden.

Viel schwerer ist die Bekämpfung von Fluchtursachen, denn die sind systemimmanent. Der diesjährige Haushalt weist 6,6 Milliarden Euro dafür aus. Dagegen 38,5 Milliarden für Rüstung. Da weiß man, wo der Schwerpunkt liegt. Das vorrangige Mandat ist nicht mehr Rettung aus Seenot, sondern Schutz, auch militanter, der europäischen Grenzen. Wie von Frontex praktiziert. Wurde in Kauf genommen oder gar beabsichtigt, dass die wieder steigende Zahl von Ertrunkenen der kostengünstigste und wirksamste Schutzschild gegen Fluchtwillige ist? Die Konsuminseln im Norden werden immer brutaler verteidigt. Wer das befürwortet, stärkt wohl kaum den Rechtsstaat, sondern wachsende, faschistoide Strukturen. Und beschädigt so Deutschland. Hoppla, gab es da eben Tumulte? „Andersdenkende sind niemals die Feinde der Demokratie, sondern die zu verstehenden Symptomträger von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“, behauptet Maaz kühn. Niemals? Auch nicht, wenn sie Nazis sind? Selbst wenn diese den durch Rosa Luxemburg geadelten Status der Andersdenkenden in Anspruch nehmen, bleiben sie Feinde der Demokratie. Die ihnen dennoch Freiheitsrechte zugesteht. Wenn sie funktioniert, sucht sie auch politische Defizite hinter den rassistisch Verirrten. Aber diese als Symptomträger zu verharmlosen oder gar als gesellschaftliche Entwicklungshelfer zu verstehen – das empfiehlt sich nicht. Wenn nicht eine grundstürzende Lastenumverteilung gelingt, dann wird das Konfliktpotenzial womöglich jeder Kontrolle entgleiten. Wenn die Flucht vor Steuern nur halb so entschlossen bekämpft würde wie die Flucht vor Elend, dann wäre schon viel gewonnen. Die Opfer globaler Missstände sollten nicht auch noch deren Bekämpfung bezahlen müssen. Das käme den Profiteuren zu. Im nationalen Maßstab hieße das, gesicherte Sozialleistungen, aber eine wohlbedachte Zwangsanleihe bei den 5,7 Billionen Euro deutschem Privatvermögen. Vergleichbar dem Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wer das als Kampfansage an Unternehmer und Privateigentümer sieht, irrt. Es ist vielmehr Programm auch ihrer Rettung: Um die subversive Ungleichheit der Bewohner dieser Welt zu mildern, müssten sie einen Bruchteil des wie auch immer entstandenen Vermögens hergeben, um so den Großteil bewahren zu können. Vor Unruhen bis Rebellionen, vor Handelskrieg bis Krieg. Ob der Widerspruch zwischen Nötigem und Machbarem demokratisch zu überwinden sein wird, ist existenziell. Fremdenfeindlichkeit ist letztlich eine Folge der Kapitallogik. Die unversöhnliche Ursache verleugnet ihre Wirkung. Kapitalismus mit menschlichem Antlitz first. Wer lacht sich da tot?

Fernziel muss eine Welt sein, in der jeder leben kann, wo er will. Ein Privileg, das die Reichen längst haben. Damit die Mehrheit am liebsten zu Hause lebt, muss sich vieles, wenn nicht alles, ändern. Sind die Flüchtenden das ersehnte revolutionäre Subjekt, das Egalisierung und Ökologisierung zwangsläufig vorantreibt? Prekarier aller Länder, vereinigt euch. Hallo? Ist da noch jemand? Wer hat das Licht ausgemacht?

Originalartikel als pdf