Daniela Dahn: Spätes Nachwort zur unveränderten Neuauflage von „Spitzenzeit“ bei Rowohlt im Jahr 2000
„Nur innerhalb der Wahrheit kann ich vergnügt und ruhig sein“, zitierte ich damals Peter Hille, wohl andeutend, dies sei eine auch mir sympathische Norm. Da ist es schon eine Herausforderung, fast dreißig Jahre nach Entstehen der ersten Texte, zwanzig Jahre nach Erscheinen des Buches und zehn Jahre nach Verschwinden der handelnden Gesellschaft mit seinen literarischen Jugendsünden konfrontiert zu werden.
Die ersten Geschichten schrieb ich mit 22 Jahren, als Studentin der Journalistik im „Roten Kloster“, wie diese Sektion der Karl-Marx-Universität Leipzig ob ihrer ideologischen Schmalspurigkeit verlacht wurde. Es gab Ausnahmen. Der Schriftsteller Heinz Knobloch lehrte das Genre Feuilleton, immer bemüht, aus der Tradition der Goldenen Zwanziger, des Erbes von Tucholsky und Kisch, von Ossietzky und Benjamin, von Polgar und Auburtin, von Altenberg und Musil, etwas in die DDR-Presselandschaft hinüber zu retten. Mit mäßigem Erfolg, denn das Feuilleton, verwandt der Satire, Parabel, Groteske, Fabel, dem Prosagedicht und Gedankenspiel, blieb den Kulturredakteuren suspekt. Diese Form der Kurzprosa war dazu geeignet, ausgehend vom kleinen Gegenstand, von alltäglichen Beobachtungen, unvermittelt zu grundsätzlichen Schlußfolgerungen auszuholen: „Die Praxis kann verändert werden, das Prinzip nicht – das ist unser Spielraum.“
Inzwischen ist just das Prinzip geändert worden. Und inwiefern die neue Praxis für die Mehrheit mehr Spielraum bietet – das ist eben die Frage. Vielleicht können diese „Lebenszeichen aus einem gewesenen Land“ ein wenig zur Anschauung beitragen.
In den Jahren 1973 bis 1978, in denen die meisten Texte entstanden, arbeitete ich als Redakteurin beim Fernsehen und schrieb mir nebenher den Frust von der Seele. Den Frust darüber, wie im doppelten Wortsinn flüchtig Fernseharbeit ist. Nämlich oberflächlich und fliehend. Und wie wenig eigene Meinung einzubringen war. Aber auch in der Presse hatte ich mit diesen Feuilletons wenig Chance. Gemessen am Gedrucktwerden waren meine Zwanziger keine goldenen. Die Hoffnung konzentrierte sich zunehmend auf ein eigenes Buch. Als ich jedenfalls im Frühjahr 1979, 29jährig, Dank der Vermittlung von Knobloch, beim Mitteldeutschen Verlag Halle das Spitzenzeit-Manuskript abgab, waren drei Viertel der Texte unveröffentlicht.
Ich hoffte auf die damals allen bekannte Diskrepanz zwischem dem engen Spielraum in den Massenmedien und dem doch unverkennbar größeren, wenn es um Bücher ging. Zurecht – das Manuskript wurde freundlich aufgenommen, politisch begründete Änderungswünsche gab es nicht. Bis zum Erscheinen vergingen eineinhalb Jahre, eine einst übliche Frist. Das in Leinen gebundene Bändchen mit Schutzumschlag und sechs farbigen Illustrationen von Ciurlionis kostete 7 Mark. Die Erstauflage von 10 000 Exemplaren war in wenigen Wochen vergriffen, bevor überhaupt Rezensionen erschienen waren. Das war für ein Debüt erfreulich, aber nicht ungewöhnlich. Eine Nachauflage ließ, wie bei allen, auf sich warten – Papier war kontingentiert.
In dem ebenfalls 1980 erschienenen Band „Bestandsaufnahme 2“, in dem der Mitteldeutsche Verlag Autoren vorstellt, die zwischen 1976 und 1980 debütiert haben, gab ich folgende „Schreib-Auskunft“: „Die Literatur lebt vom Ausmalen der Konflikte, unser Journalismus (trotz gegenteiliger Beschlüsse) vom Übermalen. Diese kuriose Spanne zwischen beiden die Wirklichkeit widerspiegelnden Bereichen auszunutzen, war mir wesentlicher Schreibantrieb. Natürlich das nicht allein. ´Denkanstöße´ geben zu wollen, diese vielstrapazierte Absicht dagegen, ist mir etwas anmaßend und unverbindlich zugleich. Mir geht es eher um das Bestärken der kindlichen Märchen-Haltung: Er hat ja nichts an! Also darum, Unsinn auch Unsinn zu nennen, sich mit scheinbar selbstverständlich gewordenen, aber schadenden Praktiken und Irrtümern nicht abzufinden, nicht zu resignieren, dagegen Einzelkämpfer zu unterstützen, Mut zu machen und Lust auf Zivil-Courage, auf aktive Lebensbewältigung. Ein moralisches Programm also, in erster Linie sicherlich für mich selbst. Denn schreibt man nicht, um selbst das Leben zu bewältigen?“
Diese Äußerung wurde in einem Interview für die Kulturzeitschrift Sonntag (Nr. 40/82 S.4) aufgegriffen. Und ich nutzte die Gelegenheit, eine Gesellschaftsutopie zu entwerfen, die für mich bis heute, auch mit der Erfahrung zweier Systeme, Gültigkeit besitzt. Ein Entwurf, von dem Sozialismus und Kapitalismus etwa gleich weit entfernt waren:
„Sonntag: Soll Literatur Ihrer Meinung nach Leben ertragen lernen oder Leben verändern?
Dahn: Diese Entweder-oder-Fragen laufen immer Gefahr, mit sowohl-als-auch beantwortet zu werden. Es wäre natürlich schön, wenn Literatur Leben verändern könnte.
Ich würde schreibend liebend gern eine Welt mitgestalten, in der Frieden herrscht, im großen wie im kleinen. In der die Menschen nicht einander Feind sind, sondern sich – nicht zuletzt befähigt durch eine blühende Kunst und Kultur – mit hohen moralischen Ansprüchen begegnen: großzügig und tolerant, kameradschaftlich und uneigennützig, gebildet, ungenügsam und vorwärtsdrängend. Eine Welt, in der das Gemeinwohl oberstes Gebot ist, in der man in den Wäldern wieder Pilze suchen kann, in den Flüssen baden und in den Städten atmen. In der man sich das leisten kann, weil Waffen auf beiden Seiten nur noch in Museen das Gruseln lehren. Eine Welt, in der es keine Besitzer und keine Besitzlosen gibt, in der Wohlstand herrscht, aber nicht kleinbürgerliche Borniertheit, sondern angeregter öffentlicher Gedankenaustausch über alle Angelegenheiten von allgemeinem Interesse, über alle Angelegenheiten des Volkes, welches die Macht haben muß.
Ich fürchte, ich werde es nicht ganz schaffen. Ich werde mir für das Schreiben kleinere Ziele stellen müssen, und da fängt das Ertragenlernen schon für mich an. Und es geht bis zu ganz, ganz anderem. Man kann das Leben wohl nur verändernd ertragen. Schreiben und Lesen helfen dabei manchmal.“
Zwar belächle ich heute, beim Wierderlesen der Texte, die jugendliche Gewißheit, die Welt, wenigstens manchmal, für verbesserbar zu halten. (Wenn´s denn sein muß, auch durch mich). Und es amüsiert mich, wie ich, die allgegenwärtige Reglementierung aufs Korn nehmend, selbst manch didaktischen Fingerzeig nicht lassen kann. Da half auch die gelegentliche sprachliche und gedankliche Verspieltheit nicht darüber hinweg. Und ich schmunzele, angesichts der trotzigen Entschlossenheit, das Revier geographisch nicht zugänglicher Kulturgüter mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wenigstens als angelesenes Bildungsgut zu verteidigen: die sieben Weltwunder rund um das Mittelmeer, die Sixtinische Kapelle, die Wiener Hofburg.
Doch in der damals schon spürbaren Distanz und Selbstironie bin ich mir kenntlich geblieben. Ich atme auf beim Wiederlesen: keine Gläubigkeit, kein falsches Pathos, keine Versöhnungsgesten an irgendeine Obrigkeit. Die Bemerkung, „daß die großen Tiere nicht die klügsten sind“, verstand man auch, wenn sie als Fabel daherkam. Ebenso wenn der Fuchs einsah, „daß er in einer Sphäre dazwischengefunkt hatte, in der er sich gar nicht auskannte“, und damit alles zerstörte. Eine Anspielung auf die Unsitte von Funktionären, sich überall politisch einmischen zu müssen, statt fachlich kompetente Entscheidungen zu akzeptieren. Anderes spielte bei Hofe und war doch unmißverständlich: „Die gewohnte Umwelt als absurd empfinden, begreifen, daß man historisch nicht mehr im Recht ist, das Sein, nicht das Bewußtsein bestimmen zu lassen – ich fürchte, dazu bedarf es außergewöhnlicher geistiger Kraft!“
Doch auch die sozialistischen Klassiker wollte ich nicht andächtig als Autoritätsbeweis bemühen. Marx und Lenin sollten nur ironisch gebrochen auftreten dürfen. So spottete ich über Marx Antwort auf die Frage nach seiner Lieblingstugend. Dabei bleibt die im selben Fragespiegel gegebene Antwort nach seinem Lieblingsmotto seine einzige Aussage, die für mich damals, heute und in alle Ewigkeit uneingeschränkte Gültigkeit besitzt:
An allem ist zu zweifeln.
Die siebziger Jahre waren eine Zeit politischer Umschwünge. Ein Auf und Ab von Hoffnung und Enttäuschung, wie so oft in der DDR. Als Ulbricht 1971 abgesetzt wurde und das neue Führungstrio das Ende von Personenkult und Tabus und den Anfang einer neuen Sozialpolitik ankündigte, begann eine Aufbruchstimmung, die etwa drei, vier Jahre anhielt. In dieser Zeit entstanden Texte wie: Es muß etwas passieren. „Das wirklich Neue passiert hier“, war ich damals überzeugt. Formulierungen wie „bei uns“ drückten nicht nur ein Wir-Gefühl aus, sondern auch den Umstand, daß ich diese DDR trotz ihrer schwerwiegenden Defizite und Unzulänglichkeiten für ein Projekt hielt, das mein Engagement lohnt.
Der Westen, das war „da, wo maßgeblich Geld regiert“. Er erscheint im Buch nur insofern, als er durch Export von Produktionsmitteln („Prozeßgesteuert“) und Kultur (Empfindungen projizierende Farbflecken) auf unser Leben einwirkte. Wenn ich bei der Gelegenheit die abstrakte Malerei dafür lobte, daß sie die visuelle Erkenntnis- und Genußfähigkeit für das Schöne jenseits unseres Sehvermögens erst in uns entwickelt hat, so weil diese Kunstgattung noch als dekadent verpönt war. Damals konnte ich nicht ahnen, daß eines Tages alle gegenständlich malenden DDR-Künstler als sozialistische Realisten ausgegrenzt werden würden.
Auch die Psychologie hatte sich von dem Ruf der frühen Jahre, eine bürgerliche Wissenschaft zu sein, noch nicht erholt. Freud galt noch nicht als rehabilitiert. Die Fachliteratur war einseitig. So geschah es, daß meine gänzlich unwissenschaftlichen Texte über Motivationen, Charaktere und über Psychosomatik Eingang fanden in eine Vorlesungsreihe zu Psychodiagnostik und in die B-Promotion einer Hochschullehrerin am Gerichtsmedizinischen Institut in Dresden. Als ich um die mich betreffenden Auszüge bat, war es jener Dozentin peinlich mir mitteilen zu müssen, daß ihre Arbeit den Siegel VD, also Vertrauliche Dienstsache, bekommen habe.
Als sich Mitte der 70er Jahre die ökonomische Situation verschlechterte und die Oberen am liebsten das ganze Land zur Vertraulichen Dienstsache erklärt hätten, wurde es wieder schwieriger, das verordnete Schweigen zu durchbrechen. Gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierte ich auf einer großen Versammlung von Fernsehmitarbeitern, doch darauf mit Kurzprosa zu reagieren, kam mir nicht in den Sinn. Der sich anschließende Aderlaß von liebgewonnenen Künstlern, denen offiziell keine Träne nachgeweint werden sollte, verschlug einem zusätzlich die Sprache. Die eher behutsam gestellte und im Kostüm einer Modebetrachtung daherkommende Frage, bekam durch den damaligen Kontext ihre Eindeutigkeit: „Sind nicht im Grunde, im tiefsten Grunde, Fortschreitende fortschrittliche Leute?“ Heute würde ich, angesichts unserer Unfähigkeit, junge Glatzköpfe davon abzuhalten, sich von uns zu entfernen, so nicht mehr fragen.
Ende der 70er Jahre wurde das chronisch aktuelle Thema Anpassung wieder akut. Es zieht sich eigentlich durch fast alle Texte, aber ganz direkt reagierte das Feuilleton „Im Interesse der Sache“ auf diese Herausforderung. Das Postulat: Unbequeme sind unbezahlbar, war ein Ideal, unerfüllbar wie es Ideale so an sich haben. Nach zehn Jahren Erfahrung mit Marktwirtschaft weiß ich, wie einfach solche Flausen auszutreiben sind: Unbequeme werden nicht bezahlt.
Immer schon beschäftigte mich die Frage, wie das wohl früher funktioniert hat, während der Nazizeit (Lebenszeichen), bei Hofe (Strapeziermenscher) oder im Verhältnis von Künstlern und Machthabern in der Renaissance (Michelangelo: „Das Falsche frohlockt, Wahrheit dringt nicht vor“).
Die Presse reagierte zunächst zögerlich, doch dann entschlossen freundlich, mit Einschränkungen im Detail. „Mit Geist, Witz und Engagement“ überschrieb die Berliner Zeitung (4.3.81) ihre Rezension: „Daniela Dahn geht den Dingen nach, sie steht nicht daneben. Sie erschließt sich, indem sie darüber schreibt, Verantwortungsbereiche… Nicht in allen Texten jedoch stimme ich ganz mit dem polemischen Zielpunkt überein, zuweilen werden Dummheiten, die bei uns gemacht werden, zum ´Eigentlichen´ der Sache erhoben. “
Die Junge Welt (5.5.81) attestierte einen „beachtlichen Debütband“, um dann, ihre Empfindsamkeit für Ironie demonstrierend, einzuschränken: „Manche Überlegungen, manche Fragestellungen halte ich für unreif, unüberlegt. Etwa wenn sie Menschen danach zu unterscheiden trachtet, ob sie Wachs- oder elektrische Kerzen an den Weihnachtsbaum stecken.“
Die Literaturzeitschrift Weimarer Beiträge konstatierte (im März 83) leicht genervt: „Es kommt ein herausfordernder Ton ins Feuilleton. Ihre manchmal schon pedantisch scheinende Genauigkeit und Hartnäckigkeit, hinter Erscheinungen auf das Wesen zu schauen, hält sie durch, auch wenn ´Nebensächliches´ erzählt wird.“
„Wenn Mona Lisa nicht bloß lächelt“, titelte die Studentenzeitung Forum (16/82, S.15) ihre ganzseitige Besprechung und schloß mit dem Auftrag: „Sie weiß, daß die Notwendigkeit, zu Zivilcourage, zu aktiver Lebensbewältigung Mut zu machen, sich nicht mit der Machtübernahme der Arbeiterklasse oder mit dem entwickelten Sozialismus von selber erledigt hat. Weil das Subjektive der kleinen Form einen hohen Bildungswert hat, weil es geeignet ist als Beitrag, sozialistische Demokratie zu entwickeln, wünsche ich Daniela Dahn gesellschaftliche Ermunterung dabei.“ Die bekam ich. Für mein erstes Buch so vorbehaltlos, wie später nie wieder.
Die Sächsische Zeitung (19.6.81) befand, dies seien „Feuilletons mit Charme“: „Sie kann ungeheuer neugierig, ungeheuer bissig und ungeheuer weiblich sein. Eingefahrene Gleise im Umgang mit der Weiblichkeit unseres Landes versieht sie mit Stoppsignalen.“
Es war die hohe Zeit der Frauenliteratur. Als Autorin hatte man es in der Literatur eher leichter, wahrgenommen zu werden. Besonders vom Westen. In einem Aufsatz über „Neuere Frauenliteratur aus der DDR“ schrieb Irma Hanke 1981 für das Deutschland Archiv: „Interessant ist in der Tat vor allem das ´Wie´ ihrer Feuilletons: die sich artikulierende Mentalität des mündigen Bürgers. Die Texte, kurz, prägnant, …der sanfte Spott, die eben noch durchscheinende Aufsässigkeit – das sind die Stilprinzipien dieses Bandes.“
Der SFB produzierte ein Hörspiel nach der Collage „Lebenszeichen“. Die Zwischentexte sollte ich selbst sprechen. Als mein Antrag, zur Produktion reisen zu dürfen, abgelehnt wurde, war das eine ziemliche Demütigung für mich. Soweit ging das Entgegenkommen also nicht.
„Das Feuilleton in der DDR – eine Analyse der kleinen Form, in der auch jenseits der Grenze Platz für vieles ist“, nannte Manfred Jäger eine ganzseitige Betrachtung im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt (2.8.81). „Der Titel ´Spitzenzeit´enthüllt eine verborgene Bedeutung: In einer Zeit, in der so vieles auf die Spitze getrieben wird, sollte der Zeitgenosse sich wehren, indem er selber Spitzen austeilt, indem er sich mit ein paar Frechheiten wehrt … Überhaupt sind ihre Arbeiten zupackender, näher an beobachteten Fakten, als bei manchen Berufskollegen, denen es mehr um ihre Befindlichkeit als um Zustände geht. Unter oft harmlos erscheinenden Einkleidungen regt sich noch, was mancher Text lieber geworden wäre: ein kräftiger, zorniger Artikel.“
Hätte ich lieber zornige Artikel geschrieben? Artikel sicher nicht, denn auf den literarischen Anspruch legte ich schon wert. Aber schärfer, das ist naheliegend und wird wohl so gewesen sein. Obwohl meine Erinnerung behauptet, ich hätte, was ich mir vorgenommen habe, auch gesagt. Die angeschlagene Tonart, zu der auch Humor und Ironie gehörte, sei ein treffendes Maß für meine damalige alters- (also jugend-) bedingte Distanz zum System gewesen. Ich verstand mich nicht als Dissidentin. „Ich mache mir Sorgen, ob alles gut läuft, wie es läuft“, das war die Grundhaltung. Heute würde ich dies durchaus schärfer sagen: Wissen, daß alles falsch läuft, wie es läuft, und sich dennoch keine Sorgen machen – das ist das Ende.
Zumindest läßt sich heute nicht einfach behaupten, mehr Kritik wäre nicht möglich gewesen. Denn ich hatte es ja gar nicht versucht. Aus westlicher, und damit auch aus heutiger Sicht, müssen diese Texte harmlos erscheinen. Fänden sich in meinem Archiv nicht noch Leserbriefe und sogar Protokolle von Diskussionen nach Lesungen – ich hätte wohl vergessen, daß die Wirkung damals ziemlich anders war.
Der Mitteldeutsche Verlag Halle hatte eine Art Patenschaftsvertrag mit dem Chemiekombinat Bitterfeld. Jährlich zogen Heerscharen von Autoren ins viele Tausend Menschen beschäftigende Kombinat, um im dortigen Kulturpalast „Zirkel schreibender Arbeiter“ anzuleiten oder direkt vor Ort, in den Kollektiven, „Tage der Literatur“ abzuhalten. Ich erinnere mich an diese Begegnungen in einer Mischung aus Rührung und Befremden. Begleitet vom Bibliothekar des Betriebes, dem Lokalredakteur und meiner Lektorin, betrat ich junges Ding einen Raum, in dem lauter erwachsene Werktätige auf mich warteten. Im weißen Kittel, im Blaumann oder bunter Kittelschürze unterbrachen sie ihr Gespräch und sahen mir erwartungsvoll entgegen. Ich sah mich um und fand mich zwischen Reißbrettern eines Ingenierbüros, in einem Versammlungsraum, der Bereichsbibliothek, zwischen den Reagenzgläsern eines Labors oder in der Kantine.
Nicht, daß die Anwesenden nur pflichtgemäß erschienen wären. Die Beschäftigung mit Literatur gehörte zum „Geistig, kulturellen Leben“, das man sich im Wettbewerbsprogramm vorgenommen hatte. Da diese Veranstaltungen grundsätzlich während der Arbeitszeit stattfanden, war man für diese Abweichung vom Alltagstrott dankbar, selbst wenn man nur ein Stündchen abschalten wollte. Es kam vor, daß jemand seinen Platz verließ, um einen Blick auf die den Produktionsprozeß steuernden Geräte zu werfen, aber er kam dann auf leisen Sohlen zurück. Soweit sogut. Als Vortragende mußte mir allerdings klar sein, daß ich es hier mehrheitlich nicht mit geübten Lesern zu tun hatte. Und daß diese Leute außerdem kaum eine Chance hatten, sich einen bestimmten Autor zu wünschen. Ich sah ihrer skeptischen Neugier an, daß sie sich fragten, was für einen bunten Vogel ihnen die Gewerkschaft da wieder vor die Nase gesetzt hatte. Um das Ereignis schließlich im Brigadetagebuch abheften zu können, wurde eine „Kollektive Stellungnahme zur Buchdiskussion“ geschrieben und der Autor bekam erbarmungslos einen Durchschlag.
So unterzeichnete die Kulturobmännin Trauzettel den Bericht der Brigade „Technisches Kontrollorgan“: „… Zwei Kolleginnen brachten zum Ausdruck, daß sie ein Buch mit fortlaufender Handlung lieber lesen. Doch hat der anspruchsvolle Schreibstil allen gut gefallen und wir wünschen uns noch mehr Bücher in dieser Stilart. D. Dahn schreibt oftmals Gedankengänge auf, über die viele Menschen nachdenken aber nicht den Mut haben, ihre Gedanken öffentlich preiszugeben. Ihre Feuilletons sind in spritziger und oftmals überspitzter Form geschrieben. Das Kollektiv schätzt ein, daß jeder Leser, der das Buch einmal in den Händen hält, zum Lesen verführt wird, denn das Lesen ist und bleibt die eigenwilligste und intensivste Form der Entspannung und Unterhaltung.“
„Wir haben für dieses Jahr, wie schon in den Vorjahren, die Durchführung einer Buchlesung in unseren Kultur- und Bildungsplan aufgenommen“, heißt es im Bericht der Kollektive der Investkoordinierung. „Eine Lesung der Schriftstellerin Dahn wurde uns vorgeschlagen. Von der Gewerkschaftsbibliothek bekamen wir 3 Exemplare ihres Erstlingswerkes zur Verfügung gestellt. Es war für alle Teilnehmer, auch für unsere Gäste der Prozeßoptimierung, die bisher noch an keiner Buchlesung teilgenommen haben, sehr anregend. Wir haben Wissenswertes und Nachdenkliches erfahren… Zum Abschluß haben wir Frau Dahn nicht allein viel Erfolg, sondern auch weiterhin soviel Mut und Ehrlichkeit gewünscht.“
Für die Gewerkschaftsgruppe TIP/B unterzeichnete R. Wünsche: „Bemerkenswert, daß nachdem die Autorin bei uns zu Gast war, zahlreiche Kollegen das Buch zum Teil oder aber von vorn bis hinten lesen wollen. Wir waren beeindruckt, überrascht, erstaunt, über die Art und Weise, wie Daniela Dahn die Probleme unserer Gesellschaft anpackt, aufgreift, aufspießt, wie sie sie frei von politischer Rücksichtnahme, frei von agitatorischen Klischees darstellt, wie sie mit Sicherheit Witz und Ironie gebraucht, um so manchem selbstherrlichen Zeitgenossen und Salon-Sozialisten den Spiegel vorzuhalten.“
„Es gab auch ablehnende Stimmen, welche die Schreibweise der Autorin als zu kompliziert und damit als unverständlich bezeichneten“, schrieb Christiane Wirth für das Kollektiv Forschung/Farben des Betriebsteils Wolfen. „Ich hielt es deshalb für angebracht, mit den Kollegen einige kurze Arbeiten gemeinsam zu lesen und zu besprechen. Dadurch ergab sich bereits ein lebhafter Meinungsaustausch vor der eigentlichen Buchdiskussion, die wir nun mit einer gewissen Spannung erwarteten. Gleich zu Beginn der Veranstaltung stellten wir gezielt unsere Fragen und die Autorin gab uns Gelegenheit, unsere Meinungen – sowohl positive als auch negative – offen zu äußern. Uns gefiel die Art und Weise, wie sie dann in einer uns überraschenden Ehrlichkeit sachlich und gelassen Rede und Antwort stand, woraus sich ein – wohl für beide Seiten – fruchtbarer Meinungsaustausch entwickelte. Wir entdeckten Querverbindungen zwischen einzelnen Feuilletons, wie sie die Autorin selbst vorher nicht gesehen hatte. Einen großen Raum in der Diskussion nahm die Serie „Lebenszeichen“ ein, die auf alle Leser einen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Dabei wurde uns erschreckend deutlich, wie unwissend und willenlos sich einfache Menschen in den 2. Weltkrieg führen ließen.“
Ähnliche Startschwierigkeiten schildert der von L. Kreuzberger unterzeichnete Bericht des Kollektivs vom Zentrallabor im Industriekraftwerk: „Das Buch hat bei unseren Kolleginnen ein sehr unterschiedliches Echo ausgelöst. Während einige mit Freude darin gelesen haben, gab es andere, die es als ´nicht lesbar´ ablehnten. Der Leser muß aufgeschlossen sein, er muß mitdenken und sich in den charakteristischen Stil der Schriftstellerin einfühlen. Ist ihm das gelungen, wird er das Büchlein nicht mehr aus der Hand legen. In vielen Beschreibungen erkennen wir unsere Alltagsprobleme in Betrieb, Familie und überhaupt im Zusammenleben der Menschen wieder. Wir können das, was uns bewegt an Begeisterung, aber auch an Kritik, nicht besser formulieren. So wurde aus der anfangs mit Skepsis aufgenommenen Begegnung ein sehr offenes und herzliches Gespräch, für das wir uns bedanken möchten.“
Diese freundliche Aufnahme konnte den anwesenden Vertretern des Verlages nicht entgehen, denn sie wußten aus anderen Buchvorstellungen, daß die Brigaden, ganz Arbeiter- und Bauernmacht, durchaus nicht davor zurückschreckten, auch schroffe Ablehnungen zu formulieren. So verpaßten mir der Verlag und das Leipziger Literaturinstitut den „Förderungspreis 1980 für Prosa“. „Der respektlose Zugriff zu zentralen Themen und eine selbstbewußte, engagierte, kritisch-verantwortungsbewußte Haltung“, hätten die Möglichkeiten der kleinen Form ausgeweitet. Der Preis bestand aus einer Urkunde und 3000 Mark – einer Menge Geld. (Für eine Lesung bekam ich übrigens etwa 150 Mark, oft weniger, nie über 200. Eine Summe, mit der ich drei Monatsmieten bezahlen konnte. So gut werden Lesungen heute nicht mehr bezahlt.)
All das Wohlwollen änderte aber nichts daran, daß das Buch im Handel nach wie vor nicht zu kaufen war. Man konnte bestenfalls alle zwei oder drei Jahre mit einer Nachauflage von 10 000 Stück rechnen. Durch diesen Mangel hatten die Bücher beim Leser eine lange Laufzeit. In manchen Briefen wurde einem geschildert, wie sehr man auf gute Beziehungen zu Buchhändlern angewiesen war, um an die begehrten Exemplare zu kommen. Typisch der Brief von Carla S. vom Juli 1986, als die 3. Auflage vergriffen war: „Eine Kollegin lieh mir „Spitzenzeit“ als Urlaubslektüre… Ein Buch, das man nicht nur einmal lesen würde, besäße man es. Ich habe in vielen Buchhandlungen versucht, es zu erhalten, vergeblich. Mir riet ein Bekannter, der auch Eigentümer dieses Buches ist, Ihnen zu schreiben und zu fragen, ob Sie einen Weg sehen, um es erwerben zu können. Bitte entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit!“ Ich hatte einen großzügigen Tag und tütete ein signiertes Exemplar von meinen spärlichen Reserven ein. Postwendend kam ein mit gepreßten Blumen beklebter Brief: „Der Empfang Ihres Buches heute war eine Riesenfreude für mich, es durchzog mich richtig ein Glücksgefühl. So war es vor langer Zeit als das Bescherungszimmer geöffnet wurde.“
Diese Tonlage wird heute wohl nur noch belächelt, weshalb ich es lieber vermeide, aus noch euphorischeren Briefen zu zitieren. Es scheint mir aber nicht unwichtig daran zu erinnern, wie sehr Bücher als Lebensmittel begriffen wurden und Autoren zu spüren bekamen, daß sie gebraucht werden. (Während ich dies schreibe, macht mich ein amerikanischer Germanistik-Professor, der sich in meinem Archiv für einen Aufsatz gerade in die Leserpost aus zwanzig Jahren vertieft, darauf aufmerksam, daß sich daran bis heute doch so viel nicht geändert habe. Womit er eigentlich recht hat.)
Die meisten Leserbriefe zu „Spitzenzeit“ haben den Gedanken der Wahlbekanntschaften aufgegriffen, nicht wenige haben sich die Mühe gemacht, meinen eher als Spiel verstandenen Fragekatalog ernsthaft zu beantworten, gespannt, ob sie damit den Test, eine „Wahlbekanntschaft“ zu werden, bestanden hätten. Womit ich natürlich überfordert war. Manche Leser haben sogar eigene Kriterien entwickelt, wonach sie Menschen unterscheiden würden: „Glauben Sie, daß die sozialistische Umwelt, so wie sie ist, das Ideal darstellt, oder halten Sie diese für veränderungsnotwendig, für veränderungswürdig, für veränderbar; sind Sie bereit, dafür öffentlich aufzutreten, auch Kritik und Vorwürfe, ja wenn es sein muß auch Parteiverfahren einzustecken?“
Der dies schrieb, war stellvertretender Direktor eines Volkseigenen Gutes für Tierzucht in Mecklenburg. Sein achtseitiger, handschriftlicher Brief auf kleinkarriertem Papier enthält neben seiner Lebensgeschichte auch eine Schilderung seines Besuches auf der VIII. Kunstausstellung. Man erinnert sich: Alle zwei Jahre fanden in den Bezirken viel beachtete Ausstellungen der neuen Werke ansässiger Maler statt. Eine Jury hatte unter lebhaftem Hereinreden des Publikums zu entscheiden, welche Bilder ins Dresdner Albertinum, auf die zentrale Ausstellung delegiert wurden, die alle vier Jahre stattfand. Das war ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem Kollektive aus der ganzen Republik anreisten. Lange Schlangen vor dem Einlaß, mit bis zu vier Stunden Wartezeit nahm man in Kauf. Mein Viehzüchter also bestätigte mir, vor Gilles Bild „Brigadefeier“ heftige Debatten erlebt zu haben. Ebenso vor Willi Sittes Bild „Einblick“, auf dem durch eine halboffene Tür ein Paar auf einem Bett zu betrachten ist. In Korrespondenz zu Cremers danebenstehender Plastik „Liebendes Paar“ habe sich „eine herrliche Diskussion über Lebenshaltungen entfacht“. Er selbst habe sich seine Liebe zur Literatur bewahrt und hoffe demnächst Kontakt zu einem „Zirkel Schreibender Arbeiter“ zu bekommen.
Neben den Briefen fallen mir Fotos in die Hand, die mich daran erinnern, natürlich nicht nur in Bitterfeld gelesen zu haben, sondern auch in Buchhandlungen und Jugendclubs, in Kirchen und Schulen, in Intelligenzclubs und auf Dorffesten. Auf einem dieser Fotos erkenne ich den Speisesaal einer Mecklenburger LPG. Ich lese stehend aus „Spitzenzeit“, rechts und links von mir sitzen ein halbes Dutzend sich in der Umgebung niedergelassen habender Autoren, über uns lugt Ministerpräsident Stoph aus einem Bilderrahmen und wacht, ob auch alles seinen sozialistischen Gang geht. Doch den geht es, man sieht den Saal voller Genossenschaftsbauern, samt ihren betriebseigenen Maurern, Schlossern, Köchinnen und Kindergärtnerinnen. Von manchen heißt es, sie könnten gar nicht lesen. Doch wenn die dorfeigenen (und meist namhaften) Schriftsteller in die LPG kommen, dann will man, wie jedes Jahr beim Herbstfest, nichts verpassen.
Die LPG gibt es nicht mehr und eine Kantine im Dorf auch nicht. Seit der Wende habe ich keinen Bauern mehr auf einer Lesung getroffen. Mit wieviel Komik das ehrgeizige Ziel der „gebildeten Nation“ auch verbunden war, das einstige Privileg feinerer Leute, die Künstler seien nur für sie da, war gebrochen. Ob bei Kunstausstellungen oder betrieblichen Anrechten für Theater, Oper und Konzert, ob bei Lesungen oder Volkskunstzirkeln aller Art, die einem dann womöglich ein Programm im Kurbad bescherten. Kultur war hochsubventioniert. Dabei ist es heute nicht einmal allein das Geld, was entscheidet, wer teilhat, sondern auch der ungeschriebene Verhaltenskodex. Des kollektiven Geleitschutzes beraubt, fürchten viele, ihresgleichen in den Musentempeln nicht mehr zu treffen, stattdessen durch Mißachtung bedeutet zu bekommen, hier nicht herzugehören.
Andere Lebenszeichen aus dem gewesenen Land sind ebenfalls verschwunden, oft zur allgemeinen Erleichterung: Gaststätten haben nicht mehr wegen Personalmangels geschlossen, vor Autoersatzteilläden stehen keine Schlangen, am Krankenbett darf nach Herzenslust telefoniert und Besuch empfangen werden. In der Sixtinischen Kapelle kann man sich nun selbst erklären lassen, weshalb bei der Restaurierung zum Heiligen Jahr auch ein Teil der vom Hosenmaler Volterra übermalten Blößen erhalten wurde.
Zwar hat die Berliner Jüdische Gemeinde nun mehrere orthodoxe und liberale Rabbiner, aber die Probleme sind deshalb nicht kleiner geworden. Zwar …aber, zwar …aber – so klingt das Bilanzlied.
Zwar sind in Köpenick schmucke Wohnungen gebaut worden, aber die einst prägenden Kontraste, grüne Idylle und Industrieschwerpunkt, lösen sich auf. Die schönsten Gegenden, Müggelheim, Karolinenhof und Schmöckwitz, das wald- und seenreiche Erholungsgebiet für die Berliner, wird künftig, zum Ärger der dreißigtausend Einwohner, der sieben Kindergärten, fünf Schulen und einem Altenpflegeheim, unter der Flugschneise des Großflughafen Schönefeld liegen. Bisweilen alle 60 Sekunden ein Überflug. Und von den erwähnten 100 Industriebetrieben rund um Schöneweide haben bis heute 10 überlebt. Von 35000 Industriearbeitsplätzen im Stadtbezirk 3500. (Schweineöde sagen die Werkzeugmacher in Volker Brauns Erzählung.) Und in den verbliebenen Betrieben kann man jetzt ein Lied davon singen, was Leistungsdruck ist. Nach der Wende kaufte die koreanische Firma Samsung den 1983 von Japanern ausgestatteten VEB Fernsehelektronik. Ohne die Technologie wesentlich zu verändern, wurde das Tempo am Montageband verdoppelt. Ganz so, wie es nach Kenntnis von „Prozeßgesteuert“ zu befürchten war.
All dies beschreibend, handelte ich mir nach „Spitzenzeit“ auf wundersame Weise von Buch zu Buch mehr gesellschaftliche Widerstände ein, ganz kontinuierlich und nahtlos bis jetzt, als hätte es da nie einen Bruch gegeben.
Manchmal werde ich im Sinne des eingangs zitierten Hille heute gefragt, wie es mir gelingt, trotz allem „vergnügt und ruhig“ zu sein. Dann verweise ich in aller Bescheidenheit darauf, daß ich mir den Luxus geleistet habe, meiner Sicht von unten, meiner Hartnäckigkeit, meinem „herausfordernden Ton“, pathetischer gesagt: meiner Wahrheit, treu geblieben zu sein. Eine Therapie, die ich weiterempfehlen kann.