Laudatio von Jorge Semprun anläßlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an Daniela Dahn am 6.6.2004 in der Frankfurter Paulskirche
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Daniela Dahn.
Vor mittlerweile 18 Jahren war es – hier in Frankfurt war es, daß ich zum ersten Mal in Deutschland eine Rede gehalten habe. Damals stand ich da – so wie heute, wenn auch nicht in der Paulskirche – und stellte mir selbst vor den Ohren des Publikums eine Frage, die ich heute – 18 Jahre später und unter ganz anderen Umstän-den – dem Sinn nach wiederholen könnte: Warum eröffnet ein Ausländer, warum eröffne gerade ich diese Römerberggespräche? Denn damals, 1986, handelte es sich um die Römerberggespräche, als deren Auftaktredner ich bestellt worden war.
Heute geht es um die Verleihung des Ludwig-Börne-Preises. Und ich könnte die Frage von damals wiederholen: Warum ein Ausländer, warum gerade ich?
Wenn in diesem Jahr ich als Preisrichter ausersehen wurde, so mag es daran liegen – so glaube ich jedenfalls –, daß die Verantwortlichen der Börne-Stiftung die Mei-nung hegen, ich sei nicht ein Fremder, wie andere es sind. Möglicherweise denken sie sogar, ich sei nicht bloß ein Fremder. Tatsächlich, und so werden sie es wohl sehen, bin ich der deutschen Kultur, der deutschen Sprache und der Geschichte Ihres Landes, meine Damen und Herren, auf verschiedene Weise sehr eng verbunden – obgleich mein Verhältnis zu Deutschland zunächst vor allem insofern innig war, als es in der Feindschaft gegenüber Nazi-Deutschland lebte.
Wie dem auch sei: Daß ich in diesem Jahr als Preisrichter ausersehen wurde, ist für mich eine große Freude und eine nicht minder große Ehre.
Eine Freude deshalb, weil dies Amt mir die Möglichkeit gibt, Daniela Dahn den Börne-Preis zu verleihen, einer Frau, die diesen Preis meines Erachtens verdient, ohne daß darüber lange diskutiert werden muß. Und das Besondere dieses ungewöhnlichen Preises besteht ja eben darin, daß es keine anderen Jury-Mitglieder gibt, die man überzeugen muß: Meine Entscheidung, meine Wahl genügt. Die Gründe für meine Wahl möchte ich Ihnen indes gleich näher darlegen.
Es ist mir also eine Freude und eine Ehre, als Preisrichter ausgewählt zu sein und mich nun hier bei Ihnen in so freundlicher Gesellschaft zu befinden. Seien Sie sehr bedankt.
Es war in einer Zeit, die sehr lange her ist, dass ich – damals ein noch jugendlicher Student der deutschen Philosophie – auf die Schriften Ludwig Börnes stieß. Und ich will Ihnen nicht verschweigen, obwohl das heutzutage unpassend anmutet, wenn es nicht gleich gar politisch unkorrekt ist, dass ich dies Friedrich Engels verdanke.
Der nämlich hat sich in seinen gesammelten Briefen und Artikeln der Jahre 1839 bis 1844 – als er also, wie sich leicht nachrechnen lässt, in der ersten Hälfte seiner zwanziger Jahre stand – sehr oft auf Börne bezogen.
Aber Friedrich Engels verleihen wir den Börne-Preis heute nicht. Das wäre im übrigen eine chronologische Absurdität. Und also werde ich mich nicht bei Engels‘ Bedeutung aufhalten und auch nicht davon handeln, welch große Bedeutung Engels dem Publizisten Ludwig Börne in der politischen und kulturellen Geschichte des deutschen Liberalismus zumaß.
Ein paar Zitate sind gleichwohl nötig:
Im Januar 1841 publizierte Engels unter dem Pseudonym F. Oswald einen Artikel im „Telegraph für Deutschland“. Darin heißt es: „Schon vor dieser Welterschütterung“, die Rede ist von der Julirevolution, „arbeiteten zwei Männer im stillen an der Entwickelung des deutschen Geistes, welche vorzugsweise die moderne ge-nannt wird, zwei Männer, die sich im Leben selbst beinahe ignoriert und deren gegenseitige Ergänzung erst nach ihrem Tode erkannt werden sollte, Börne und Hegel . Der Mann der politischen Praxis ist Börne, und dass er diesen Beruf voll-kommen ausfüllte, das ist seine historische Stellung . Er trat an die Deutschen mit den Worten des Cid: ‚Lengua sin manos, como osas hablar?‘ (Zunge ohne Hände, was erkühnst du dich zu sprechen?) Die Herrlichkeit der Tat ist von keinem so geschildert wie von Börne. Alles ist Leben, alles Kraft an ihm.“
So Friedrich Engels – man könnte mühelos mehr als ein Dutzend solcher Passagen anführen. Eine weitere will ich Ihnen vortragen, um noch ein anderes Licht auf Börnes Oeuvre zu werfen: Im Oktober 1839 beendete Engels einen Brief an Wilhelm Graeber mit den Worten: „Am liebsten möchte ich, Du könntest Börnes ‚Menzel, der Franzosenfresser‘ bekommen. Dieses Werk ist ohne Zweifel das beste, was wir in deutscher Prosa haben, sowohl was Stil als Kraft und Reichtum der Gedanken betrifft; es ist herrlich: wer es nicht kennt, der glaubt nicht, dass unsre Sprache solch eine Kraft besitze.“
Anderthalb Jahrhunderte später, 1993, hat Marcel Reich-Ranicki Börnes Rolle in der deutschen Literatur luzide beschrieben. In der Einleitung zu einer kleinen An-thologie von Börnes Texten, die unter dem Titel „Spiegelbild des Lebens“ publiziert wurde, vergleicht Reich-Ranicki diesen nicht mit Hegel, sondern mit Heinrich Heine.
„Börne bedauerte“, schreibt er, „dass Heine an der Wahrheit nur das Schöne liebe. Heine gab zu verstehen, dass Börne am Schönen nur die Wahrheit schätzen wollte. Wo Börne l’art pour l’art witterte, da witterte Heine die Revolution um der Revolu-tion willen. Börne glaubte, Heine suche Schutz in einem Elfenbeinturm. Heine fürchtete, Börne stehe immer auf einer Barrikade. Wer hatte Recht? Sie waren, will es mir scheinen, nicht soweit voneinander entfernt – jener Elfenbeinturm Heinrich Heines und jene Barrikade Ludwig Börnes.“
Wer hatte Recht?
Die Frage ist offen. Sie wird es immer bleiben. So lange zumindest, wie unsere demokratischen Massen- und Marktgesellschaften noch nicht implodieren, was allerdings zu erwarten ist, wenn die Welt weiterhin nicht in der Lage sein wird, dem zerstörerischen Druck der demographischen und sozialen Ungleichheit zu wider-stehen; wenn die Welt auch künftig der fortdauernden Akkumulation der Produkti-vität des Kapitals ausgeliefert bleibt, die ungleich verteilten Reichtum schafft, während sie allmählich sowohl die natürlichen als auch die kulturellen Ressourcen aufzehrt, die allen Menschen gehören – oder vielmehr gehören sollten.
Für Marcel Reich-Ranicki – und ich bin fest davon überzeugt, dass er damit Recht hat – sind Börnes Einsichten keinesfalls von nur historischer Bedeutung: Sie sind immer noch wahr und werden es immer sein.
Was schreibt Reich-Ranicki über die Lektion, die Börne uns hinterlassen hat? Bör-ne habe über die Literaturkritik und die literarische Diskussion in seiner Zeit geur-teilt, als habe er schon die Zeitungen und Zeitschriften unserer Gegenwart gekannt. Und weiter: „Er hat sich nachdrücklich über die beklagenswerte materielle Situation deutscher Schriftsteller geäußert: ‚In Deutschland erlaubt das Naturrecht der Selbstverteidigung, die Wahrheit zu verletzen. Kein armer Schriftsteller dort, der keine andere Freuden hat als häusliche, der oft jahrelang von einer Gans nichts als die Federn auf seinem Tische sieht und von einem Hasen nichts hat als das Herz, dem, wenn er nach vierzehn Wochen glaubt, sich einen neuen Rock erschrieben zu haben, die unbarmherzige Zensur einen ganzen Ärmel wegschneidet, was will er machen, wenn eine hohe Polizei mit ihm zürnt und ihm Amt und Brot raubt? Er muss lügen oder sterben; aber zur Wahrheit kann man zurückkehren, zum Leben nicht .'“
„Bis heute“, schrieb Reich-Ranicki, „sind in diesem Lande die Bemühungen, den Schriftstellern ein Existenzminimum zu sichern, ergebnislos geblieben“.
Die Aktualität Ludwig Börnes und – um diesen schillernden Begriff ins Spiel zu bringen – seine Modernität: Sie entspringen nicht nur seinem literarischen Stil, sei-ner Sprache, die mal unvergleichlich nuanciert ist und dann wieder ganz schroff, je nachdem, ob er seine Zeit analysierte oder gegen sie polemisierte. Diese Aktualität und Modernität ergeben sich aus einer existentiellen Haltung, sie sind gleichsam Begleitphänomene von Börnes Lebensmethode: Die bestand in der entschlossenen Respektlosigkeit, in der kreativen, kraftspendenden Respektlosigkeit gegenüber jeglichem Konformismus. In den „Briefen aus Paris“ schrieb Börne über den Zeit-genossen in Weimar: „Seit ich fühle, habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich warum.“
„Die Neigung zum vorsichtig umschreibenden Understatement kann man also Bör-ne schwerlich vorwerfen“, schließt Reich-Ranicki, „er dachte nicht daran, die Bäume im Wald zu verstecken.“
Diese Sätze, erinnern die Sie nicht an etwas? Mich erinnern sie unmittelbar an einige Zeilen, die Daniela Dahn geschrieben hat. Sie erinnern mich an eine Rede, die Daniela Dahn im Oktober 2003 in Ingolstadt anlässlich des Jahrestages der deutschen Einheit hielt. Da sagte sie:
„Wer nicht versucht hat, sich einzumischen, soll nicht behaupten, es ginge nicht. Sich schreibend einzumischen, heißt stören. Wer zufrieden ist, schreibt nicht. Schreiben heißt abweichen und rebellieren, attackieren und ironisieren. Schriftsteller sind nicht dazu da, Harmoniebedürfnisse zu erfüllen. Sie müssen auch keine Hoffnungen machen und Lösungen anbieten. Dafür haben wir ja Politiker. Schriftsteller sollten auf ihre Art das Problembewusstsein schärfen und die Sensibilität der Menschen füreinander wachhalten. Nur wer so gezielt zuspitzt, dass er einen empfindlichen Nerv trifft, wird überhaupt gehört. Und muss dann selbst mit Angriffen rechnen.“
Mit diesen Sätzen, viele sind es nicht, aber ich könnte viele andere zitieren, hat Daniela Dahn sich – ganz unpathetisch, aber mit Nachdruck – zu einer deutschen Tradition bekannt, hat sie sich als eine Repräsentantin der deutschen Modernität erwiesen. Ich rede von der Tradition des kritischen Denkens, der demokratischen Vernunft.
Seiner demokratischen Vernunft hatte Ludwig Börne es zuzuschreiben, dass er unbequem war. Was er schrieb, gefiel den deutschen Obrigkeiten nicht, die ein Auge darauf hatten, dass die Dinge, die veröffentlicht wurden, nicht allzu sehr abwichen von ihrer eigenen Sicht auf die Welt. Damals nannte man das Zensur. In Deutschland gibt es heute keine Zensur mehr, de jure jedenfalls gibt es sie nicht mehr. Dafür gibt es mächtige Verlagshäuser, die mit der Macht ihrer Zeitungen und ihrer finanziellen Mittel daran arbeiten, dass möglichst nichts gesagt werde, was ihrer Sicht auf die Welt widerspricht.
Zu Börnes Zeiten blieb den Publizisten, die sich unbeliebt machten, wenig anderes als der Weg ins Ausland. Heutzutage, da die Dinge besser stehen, können die Autoren, die sich unbeliebt machen, zu Hause bleiben, sie müssen aber damit fertig werden, diffamiert zu werden. Daniela Dahn kann ein Lied davon singen. Machtlos sind die Autoren nach wie vor, auch wenn heutzutage nicht mehr die Obrigkeit sondern große Verlagshäuser den Goliath abgeben, der sie in Schach hält. Wenige Mittel gibt es, die dagegen helfen. Eines von ihnen ist ein renommierter Preis. So ein Preis kann, wenn er den oder vielmehr die Richtige erreicht, zur Schleuder werden, mit der die Autorin sich wehren kann. So ein Preis kann der Tradition des kritischen Denkens zu einem kleinen Sieg verhelfen.
Wir veranstalten hier kein Seminar über die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland. Einige Grundlinien dieser Tradition des kritischen Denkens will ich trotzdem erwähnen. Es liegt auf der Hand und wäre mühelos zu zeigen, dass Ludwig Börne einer der Autoren war, die diese geistige Tradition begründeten, einer der ersten Künstler, die diese Disziplin der aufgeklärten Kritik ausübten. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, was mir gefiele, würde ich gern im Einzelnen darstellen, wie aktuell Börnes „Briefe aus Paris“ sind und wie zeitgemäß – unserer Zeit gemäß – in ihren Warnungen. Soll heißen: Wie präzise sie die Strömungen des gesellschaftlichen Lebens erfassen, ihre Heraufkunft und ihre Zukunft. Wenn man das soziologische und psychologische Anschauungsmaterial, das die „Briefe aus Paris“ bieten, näher betrachtet und einige der Analysen Börnes mit denen von Wal-ter Benjamin vergleicht, der ein ganzes Jahrhundert später auch über diese Stadt, die Handels- und Gesellschaftsmetropole der bürgerlichen Moderne, geschrieben hat, dann muss man mit bewunderndem Staunen feststellen, wie vorausschauend scharfsinnig Börne war.
Zur Zeit Walter Benjamins hat ein anderer Philosoph, wie Börne und Benjamin auch er ein Spross der großen Tradition deutsch-jüdischen Denkens, freimütig und konsequent die Sache der kritischen Vernunft betrieben: Ich spreche von Edmund Husserl, und dabei denke ich vor allem an seine Vorlesungen über die Krise der Humanität in Europa und der Philosophie, die er 1935 erst in Wien und dann in Prag gehalten hat.
Und ich denke an den uns zeitlich näher stehenden Karl Jaspers. Nicht nur an sein philosophisches Werk, sondern auch an seine standhafte Haltung gegenüber dem Nazismus. Für die Dinge, um die es mir hier geht, sind Jaspers‘ kritische Beobach-tungen über die soziale Wirklichkeit in der Bundesrepublik und die Zukunft Deutschlands besonders wichtig. Ich denke an ein Buch, das sein eigenes Programm im Titel führt: „Provokationen“, eine Sammlung von Gesprächen und Interviews. Ein Beitrag darin, aus dem Jahr 1960, trägt die Überschrift „Freiheit und Wiedervereinigung“, ein anderer, von 1966, heißt „Wohin treibt die Bundesrepu-blik?“
In dieser Tradition des kritischen Denkens, der Zivilcourage steht auch Daniela Dahn, stehen auch ihre engagierte Beschäftigung mit den politischen und sozialen Verhältnissen der deutschen Gegenwart und ihre beharrliche Ausdauer bei der Suche danach, was die Wahrheit ist. Was Engels über Börne schrieb, sage ich jetzt von Daniela Dahn: Die Herrlichkeit der Tat ist von keinem so geschildert wie von Dahn. Alles ist Leben, alles Kraft an ihr.
Gewiss, zwischen Börne und Daniela Dahn liegen die Umbrüche und Umwälzungen von mehr als anderthalb Jahrhunderten: die historischen und politischen Verhältnisse in Deutschland haben sich radikal gewandelt. Oberflächlich und redukti-onistisch wäre es, die Schriften Börnes und Daniela Dahns mittels derselben Krite-rien zu betrachten. Zu Börnes Zeit stand die Frage nach der nationalen Identität der Deutschen auf der Tagesordnung. Es ging um die Frage, wie das Land auf anderem Wege als dem des Despotismus, und sei er noch so aufgeklärt, zu nationaler Einheit gelangen könne.
In der Epoche Husserls und Benjamins stand ganz oben auf der Agenda die Frage, wie die demokratische Vernunft bewahrt werden konnte, der letzte und einzige Po-sten gegen den Zerstörungszug der rassistischen und imperialistischen Ideologie des Nazismus, welcher der deutschen Nation geblieben war.
In unserer Zeit, in der Daniela Dahns passioniertes Engagement sich entfaltet und dabei in seinem Bestreben Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zu vereinbaren weiß, steht die Frage nach einer radikalen Neuordnung – radikal also bis zu den Wurzeln der Zivilgesellschaft – auf der Tagesordnung, die Frage nach der radikalen Neuordnung der Demokratie im vereinigten Deutschland.
1986, drei Jahre vor der Wende, habe ich in meiner Rede anlässlich der Römer-berggespräche folgendes gesagt – erlauben Sie mir, dass ich eine Spur Egozentrik an den Tag lege, indem ich mich selbst kurz zitiere: „Die deutsche Wiedervereinigung ist in jeder Hinsicht notwendig und ist gleichzeitig undenkbar, wenn sich der historische Hintergrund nicht radikal ändert: das Verhältnis der Kräfte der Demokratie und des Totalitarismus. Die deutsche Wiedervereinigung kann nur das Ergebnis eines gewaltigen Fortschritts der Demokratie in Europa sein.“ Diese Demokratisierung: Sie fand 1989 statt.
Unmöglich wäre es, und ist im übrigen auch unnötig, jetzt auf die komplexen Zusammenhänge einzugehen, die zu diesem demokratischen Aufbruch führten, und noch einmal die durchaus widersprüchlichen Konstellationen des historischen Prozesses darzustellen, die ihn möglich machten. Aber wenn die bekannte Analyse dieses Prozesses der Demokratisierung richtig ist, dann kommt man nicht umhin, die entscheidende Rolle anzuerkennen, die dabei die Bürgerbewegungen der DDR gespielt haben.
Dank der Bürger jener Republik ist damals eine der schönsten Seiten im Buch der Geschichte der europäischen Völker geschrieben worden. „Wir sind das Volk“, „wir sind ein Volk“ : In dem historischen Raum zwischen diesen beiden Parolen der demonstrierenden Massen entwickelte sich die – von einer Mehrheit erwünschte – Verknüpfung des demokratischen Aufbruchs mit der Einigung der beiden deutschen Staaten. Es ist kein Zufall, dass einige der überzeugendsten, und im übrigen auch das Gefühl besonders ansprechenden Texte Daniela Dahns aus dieser – bei allen Gefahren, die damals drohten – erfüllten, glücklichen Umbruchszeit stammen oder sich auf sie beziehen. Wer niemals erlebt hat, wie ein Volk, das seine Souveränität endlich zurückerlangt hat, sich in Bewegung setzt, der weiß nichts von dem Glück, zu leben!
Wenngleich die Zeitumstände seit Börnes Epoche andere geworden sind, haben er und Daniela Dahn doch eines gemeinsam, was sie auch mit den anderen Autoren, die ich erwähnt habe, teilen, und mit weiteren, die man nennen müsste, wenn man schildern wollte, welche Bedeutung die Tradition der Kritik für das heutige Deutschland hat.
Diese Gemeinsamkeit, die Ludwig Börne und Daniela Dahn trotz der Verschieden-artigkeit ihrer historischen Lebenskontexte verbindet, ist eine Sorge – dem Wesen nach ist sie bei beiden identisch, vielfältig sind nur die Formen, in denen sie artikuliert wird. Es ist die Sorge um Deutschland, und dahinter verbirgt sich die Sehnsucht, dass dies Land in dem Sinn zur Welt gehören möge, als es an der Universalität der demokratischen Werte teilhat.
Daniela Dahn behandelt diese Frage – manchmal unausgesprochen, manchmal ganz direkt –, indem sie sich um allgemein gültige und dabei doch politisch nuancierte Antworten bemüht, die sie auf der Basis des Antifaschismus entwickelt. Einer der Essays in ihrem Buch „Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit“ – vielleicht das mir liebste ihrer Bücher, aber das ist meine persönliche Meinung: bilden Sie sich ihre eigene, verehrte Zuhörer: lesen Sie sie alle! – einer der Essays in „Westwärts und nicht Vergessen“ heißt denn auch: „Die Banalität des Guten. Mein Unbehagen als Antifaschistin“.
Ich weiß sehr wohl, dass viele tugendhafte Geister heutzutage der Meinung sind, der Antifaschismus sei sowohl in der Theorie als auch in der Praxis obsolet. Das ist es, im besten Falle, was sie denken. Im schlimmsten Fall sehen und erwähnen diese tugendhaften Kritiker nur die Instrumentalisierung, der die antifaschistischen Bewegungen der dreißiger Jahre anheim fielen, als die kommunistische Internationale und die sowjetische Außenpolitik der Stalinzeit sich ihrer bemächtigten.
Diese Instrumentalisierung hat stattgefunden, niemand wird das bestreiten. Aber sie fand nicht in allen Ländern auf die gleiche Art und Weise statt. Sie funktionierte unterschiedlich und hatte unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, von welchem Land wir reden und von welchem historischen Moment.
Im Europa der dreißiger Jahre entsprach der Antifaschismus den Bedürfnissen der Massen ebenso wie denen der mittleren Schichten. Der Umstand, dass eine soziale und politische Haltung, eben die des Antifaschismus, von der stalinistischen Füh-rung der UdSSR instrumentalisiert wurde, widerlegt nicht die historische Sinnhaftigkeit dieser Haltung.
In den kommunistischen Parteien der westeuropäischen Länder hat der praktische Antifaschismus, obgleich er instrumentalisiert wurde, obgleich die Kehrtwende der sowjetischen Politik und der Hitler-Stalin-Pakt ihn 1939 abrupt unterbrachen, übrigens weitreichende Folgen gehabt: Er gehörte zum theoretischen und praktischen Gepäck der militanten Aktivisten und bewirkte eine ideologische Öffnung, eine Öffnung zur Welt, die schließlich – was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag –die demokratische Eruption der Fünfzigerjahre motivierte, die dabei half, das Ende des Stalinismus herbeizuführen.
In der DDR hingegen war der Antifaschismus nicht nur Staatsideologie, er war nicht bloß ein Instrument der taktischen Erwägungen der UdSSR und des politischen Schleuderkurses in Moskau sowie des Wunsches der Ulbricht und Honecker, den Bürgern Westdeutschlands ein anderes, besseres Deutschland vorzuführen.
In der DDR war der Antifaschismus nolens volens auch ein Frage der Kultur und der Erziehung, ein objektiver sittlicher Bildungsprozess, der im Jahr 1989 damit endete, dass die so Erzogenen sich gegen die erstarrten und versteinerten bürokratischen Strukturen des real-existierenden Sozialismus wandten.
Aber Daniela Dahn erklärt uns das alles viel besser, als ich es hier könnte. Sie erklärt uns nicht nur, warum wir die archaische Vision des Antifaschismus hinter uns lassen müssen. Sie zeigt auch, wie eine Erneuerung und Aufhebung seiner klassischen Ausprägung aussehen könnte. Sie bestünde darin, in globalem Maßstab eine demokratische und zugleich radikale Antwort auf die Herausforderungen zu finden, die sich aus den Strategien des Neokonservatismus und Ultra-Liberalismus ergeben, die in den Gestalten der Kamarilla von George W. Bush zu einer hoffentlich nur vorläufigen, aber äußerst unheilvollen Inkarnation gefunden haben.
Heute, an diesem 6. Juni, da man dankbar und auch mit innerer Bewegung der amerikanischen Truppen der Dritten Armee unter General Patton gedenkt, die an der Küste der Normandie landeten und ein knappes Jahr später, am 11. April 1945, das KZ Buchenwald befreiten, muss man auch daran denken, dass keiner dieser Soldaten, kein einziger dieser Kämpfer für die Freiheit sich hätte vorstellen können, dass die Welt sechzig Jahre später die schrecklichen Fotos der Folterungen im Irak vor Augen haben würde.
Wir für unser Teil, wir müssen die Hemiplegie vermeiden, die halbseitige Lähmung unseres Gehirns und unserer Seelen, ob es nun die rechte oder die linke Seite sei. Wir müssen es fertig bringen, beides nicht aus den Augen zu verlieren: Die Kraft, mit der die amerikanischen Truppen im Jahr 1944 Europa befreien halfen, und die Kraft, mit der die wie blind auftretenden und imperial auftrumpfenden amerikanischen Truppen im Jahr 2004 die Menschen im Irak bedrängen. Das eine kann das andere nicht erklären, das eine das andere nicht rechtfertigen. Das eine darf das andere nicht vergessen machen.
Die Lektüre der Texte von Daniela Dahn ist ein gutes vorbeugendes Mittel gegen die halbseitige Lähmung des Gehirns. Denn ihr Denken und ihr Stil sind dialektisch. In ihren Schriften vollzieht sich die mitreißende, kritische Zeremonie der Negativität, die sich an der Wirklichkeit abarbeitet, indem sie diese zu erklären sucht, bis die Wirklichkeit unter der Fülle der Erklärungen allmählich nachgibt und eine andere wird.
Liebe Daniela Dahn, Sie werden sich schon gedacht haben, dass meine eigenen Erfahrungen nicht ganz unerheblich dabei sinds ich Ihren lebhaften Zugriff auf die Dinge verstehe, dass ich die Kohärenz Ihres publizistischen Engagements schätze und mit Ihren Vorlieben und Ihren Zweifeln, Ihrem Zorn und Ihren Zielen sympa-thisiere.
Zwanzig Jahre im kommunistischen Untergrund und davor das Erlebnis „Buchen-wald“, die oft brüderliche, manchmal gespannte Nähe zu den Veteranen der KPD, die im KZ Buchenwald eingesperrt waren, erlauben es mir, mich leichter, als andere es können, mit der Vehemenz und der Unbefangenheit Ihrer Annäherung an politische Fragen zu identifizieren. Diese Erfahrungen mögen es sein, die es mir leichter machen, zu verstehen, was aus der Perspektive des erfahrungslosen Antikommunismus, der nur sich selbst kennt, vielleicht schwieriger zu verstehen ist: Sie, die Sie aus der DDR kommen, haben dem ehemaligen Westdeutschland nicht nur vor Augen geführt, wie anders die DDR war, Sie zeigen auch, wie nah die Menschen in beiden Staaten einander immer gewesen sind, insofern sie nämlich dieselben Wünsche haben: den Wunsch nach Gerechtigkeit, den nach Gleichbe-handlung, den nach Anerkennung der eigenen Identität.
Meine ausschweifenden Exkursionen, die ich auf der Suche nach dem besten Kandidaten für den Börne-Preis in Ihren Büchern unternommen habe, haben aus mir einen Ihrer Freunde gemacht, einen Ihrer Gefährten im Kampf, was immer die kleinen Punkte sein mögen, in denen unsere Meinungen auseinander laufen.
Zum Schluss möchte ich einen Satz von Marcel Reich-Ranicki über Ludwig Börne zitieren. Ich nehme ihn auf meine Rechnung, aber an Sie ist er gerichtet: „Die Leser“, schreibt er, „haben Börnes Deutlichkeit geschätzt und seinen Mut, seine Unabhängigkeit bewundert. An Feinden freilich hat es ihm nicht gefehlt. Aber verächtlich ist der Kritiker, der keine Feinde hat. Wer sie fürchtet, der muss sich ein anderes Metier aussuchen. Doch scheinen auch Börnes Feinde geahnt zu haben, dass dieser Mann das Recht hatte, gegen Ende seines Lebens zu sagen: ,Ich habe nie für meinen Ruhm, ich habe für meinen Glauben geschrieben.'“
Liebe Daniela Dahn, Sie stehen – zum Glück – nicht am Ende Ihres Lebens. Aber an dem Punkt, an dem Sie stehen, in der Mitte Ihres Lebens, Ihrer Reife, können Sie sich heiter sagen, dass Sie nur für Ihren Glauben geschrieben haben. Seien Sie dafür bedankt.
Aus dem Französischen übersetzt von Franziska Augstein