Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises am 6.6.2004 in der Frankfurter Paulskirche
Mit einem Literatur-Preis ausgezeichnet zu werden, ist für alle Schreibenden eine große Freude und Bestätigung. Trägt diese Auszeichnung den Namen des radikaldemokratischen Publizisten, des brillanten Stilistikers Ludwig Börne, läßt sich auch ein wenig Stolz nicht un-terdrücken. In diesem Falle aber wird für mich alles übertroffen durch die Ehre, dass gerade Sie, verehrter Jorge Semprun, meinen Versuchen, dieser Welt schreibend beizukommen, Be-achtung geschenkt haben.
Als ich tief bewegt „Die große Reise“ las, war ich 16 Jahre alt. Unter den Büchern, die meine Sehnsucht nach Humanismus und damit auch meine moralische Rigorosität prägten, haben Werke von Ihnen untergründig gewirkt. Ich verneige mich vor der Konsequenz Ihres Lebensweges.
Ich danke der Börne-Stiftung, einen durch Lesergunst und Würdigungen in aller Welt geadelten Juroren gewählt zu haben, an dessen Seite Bescheidenheit geboten ist. Auch die Geschichtsträchtigkeit dieses Ortes, mit all seinem Ringen um demokratische Grundwerte, läßt das Gefühl von eigenem Ungenügen aufkommen. Da bleibt nur die Flucht nach vorn, was in unserem Falle die Flucht zu Börne ist.
Die Flucht von einer Herausforderung in die nächste, denn eine Annäherung an Börne bedeutet auch die Annäherung an den Unwillen, den zugespitzt formulierte Gedanken zwangsläufig auslösen. Hatte doch der damals mächtigste Literaturkritiker, Wolfgang Menzel, Börne des Terrorismus der Worte bezichtigt. Und beinahe hundert Jahre später echauffierte sich Heinrich von Treitschke bei der Börne-Lektüre noch dermaßen, dass er in seinen „Bil-dern aus der Deutschen Geschichte“ gar von Gesinnungsterrorismus sprach.
Was also erwarten Sie von einer Börne-Preisträgerin? Oder ich von Ihnen?
Der eigentlich zu Ehrende dieses Tages hat für sich unter allen Umständen in Anspruch genommen, dass „ich mein eigenes Wesen nicht aufzuopfern habe“. Um dieser Aufrichtigkeit nahe zu kommen, empfiehlt er, jenseits aller Bedenken niederzuschreiben, was einem durch den Kopf geht. Lassen Sie mich also die Gunst der halben Stunde nutzen, mich mit dieser Technik der freien Assoziation, die Sigmund Freud später so an Börne begeistert hat, dem auszusetzen, was Texte des „Zeitschriftstellers“ in mir heute auslösen.
Börne-Forscher bedauern zuweilen, dass ihr Gegenstand beinahe nur noch durch das Medium Heine betrachtet wird. Mit dessen ironischer, stellenweise auch verleumderischer „Denkschrift über Börne“ hat Heine unter den zwei Streithähnen das letzte Wort behalten, im Leben und in der Literatur. Vermutlich haben die beiden sich gerade deshalb als Konkurren-ten empfunden, weil sie sich in der beißenden Kritik so ähnlich waren, weil Deutschland bei-de um den Schlaf brachte. Heine gibt dem jüdischen Schriftsteller Börne nur die Note: gut; dem deutschen Patrioten aber das Attribut: groß.
So ist das mindeste, was am Fall Börne gegenwärtig geblieben ist, dass man als Jude sehr wohl deutscher Patriot sein kann. Weniger bekannt scheint mir, dass Börnes Liebe zu den deutschen Landen eine sehr gebrochene war, deren Ambivalenz manchen von uns heute recht vertraut sein dürfte. Der geborene Löb Baruch musste sich ständig gegen Angriffe wehren, er sehe den „herrlich deutschen Rosengarten mit schmutzig-gelben Augen an“, er würde alles Deutsche verächtlich, alles Französische aber unter der Maske der Freiheit wünschenswert machen.
In Ludwig Börnes letztem Text, „Menzel, der Franzosenfresser“, der als sein politisches Vermächtnis gilt, konterte er: „Ich habe nicht den deutschen Patriotismus allein, ich habe auch den französischen und jeden anderen verdammt, und ich habe ihn nicht für eine Narrheit er-klärt, sondern für mehr, für eine Sünde.“ Die Vaterlandsliebe sei zwar ein angeborenes und darum natürliches Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit, die Machthaber hätten den Völkern „um sie aneinander zu hetzen und wechselseitig zu unterdrücken“ aber aufgeschwatzt: „Das Ausland hassen, heiße sein Vaterland lieben“. Deshalb ist Patriotismus für Börne nur solange eine Tugend, solange er in seinen Schranken bleibt, darüber hinaus wird er ein Laster.
Treitschke befand später: „Durch das beständige Zetern und Spotten ging sein deutsches Nationalgefühl, das ohnehin nie eine starke, naturwüchsige Empfindung gewesen war, ganz zugrunde, und er versank in ein radikales Weltbürgertum, das dem Landesverrat sehr nahe stand.“ Als Waffe gegen „Nestbeschmutzer“ ist der Patriotismus in allen Zeiten gern miss-braucht worden. Börne drehte den Spieß um und nutzte ihn zum Kampf um die Freiheit im eignen Land. Er liebte Deutschland, weil es unglücklicher gewesen sei als andere Nationen. Er liebte nicht aus Stolz, sondern aus Sorge. Aus einer Art Mitleiden, das selber krank macht. Ist dies nicht auch für unsereins eine sehr nachvollziehbare Haltung? Es ist wohl so etwas wie eigennütziger Gemeinsinn, wenn Autoren sich mit Leidenschaft bemühen, die politischen und sozialen Verhältnisse durchschaubar zu machen.
Patriotismus bedeutet für mich ein durch gemeinsame Sprache, Kultur und Gesetzge-bung vermitteltes Gefühl von gesteigerter Zuständigkeit. Von engagierter Einmischung. Kriti-sieren heißt, sich verantwortlich fühlen. Das Diskreditieren von scharf begründeten Analysen als feindliche Gesinnung verkennt, dass sich den Mühen und Risiken der Auseinandersetzung nur stellt, wer sich der Gesellschaft verbunden genug fühlt, sie verbessern helfen zu wollen.
„Wie glücklich wäre ich, wenn ich die Wahrheit oder das, was ich dafür halte, verbrei-ten könnte, ohne einem Menschen dadurch wehe zu tun“, meinte Börne, der im Grunde har-moniesüchtig war. Doch gerade deshalb hielt er nichts davon, das die Harmonie Störende nur mäßig zu bekämpfen. „Denn mäßigt euch, wie ihr wollt, die deutschen Leser mäßigen noch eure Mäßigung… Sie haben eine Elefantenhaut, zarten Kitzel fühlen sie nicht, man muß ihnen eine Stange in die Rippen stoßen.“ Wenn Frankfurter Bürger und Institutionen eine Stiftung gründen, um einen derart Aufsässigen nicht dem Vergessen zu überlassen, so finde ich dies nicht nur couragiert und dankenswert, sondern auch patriotisch. Und es ehrt mich, in dieses Anliegen nun einbezogen zu sein.
Wenn Börne ein Patriot war, dann bin auch ich eine Patriotin. Das ist für mich eine kleine Überraschung, die mir in diesem assoziativen Gedankenstrom begegnet. Seitdem das Grundgesetz auch für mich gilt, war mir allerdings schon der Begriff des Verfassungspatrio-tismus lieb geworden. Kritik am Zustand der Demokratie und an der sich von den ursprüngli-chen Intentionen der Verfassung weit entfernt habenden Wirtschaftsordnung wird vom Grundgesetz nicht nur gedeckt, sondern geschützt, ja herausgefordert. Von solchen Bedin-gungen konnte Ludwig Börne nur träumen. Und auch für Ostdeutsche waren diese verhei-ßungsvollen Freiheitsräume, neben den Wohlstandsverheißungen, entscheidend, um der Bun-desrepublik wie einer Endstation Sehnsucht beizutreten. Inzwischen sind wir gemeinsam den Gefährdungen dieser Werte ausgesetzt. Nach meiner Beobachtung richtet sich die Nostalgie vieler Neubundesbürger gar nicht auf ein spätes DDR-Bild, sondern auf ihren frühen Traum von der Bundesrepublik.
Die schmerzliche Kluft zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, speziell in Ostdeutschland, in meinen Texten immer wieder aufzuzeigen, war für mich der Weg, Fremd-heit durch engagiertes Mitgestalten zu überwinden. Dabei konnte ich mich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten die Ostdeutschen die verstaubten Zeiten des Radikalen-erlasses im Chrashkurs nachzuholen. Von so manchen selbsternannten Hütern der Freiheitlich Demokratische Grundordnung wurde diese als Synonym für den Status quo missbraucht und Weiterdenkende eingeschüchtert. Gegenstand anhaltender Medienkampagnen zu sein, ist eine ungewöhnliche Gewalterfahrung. Insbesondere, wenn die Glaubwürdigkeit von Argumenten dadurch entwertet werden soll, dass die Glaubwürdigkeit der argumentierenden Person in Frage gestellt wird. Der Springer-Verlag mußte sich zu meinen Gunsten schon zu mehreren Unterlassungserklärungen verpflichten, er hatte deshalb viele tausend Mark Prozeßkosten zu zahlen. Der Konzern hat offenbar dennoch seinen Spaß daran, ohne je mit mir gesprochen zu haben, den gleichen Unfug als nebulöse Mutmaßungen immer weiter zu verbreiten. Ich habe die Verleumdungsfreiheit als Disziplinierungskeule empfunden, die vergessen machen soll, dass Machtfragen zu stellen nicht verboten ist.
Um so mehr ist die Tatsache, dass mir der generöse Eigensinn Jorge Sempruns erlaubt, stellvertretend für Querköpfe der einen oder anderen Couleur hier zu stehen, nicht nur für mich eine große Ermutigung. Vergleichbares wäre in der DDR undenkbar gewesen.
Kann Börnes freiheitliches Vermächtnis als erfüllt angesehen werden? Zumindest in den Massenmedien gehören systemkritische Fragen nicht gerade zum Credo. Warum hat in unse-rem reichen Land die Hälfte der Bevölkerung so gut wie kein Privatvermögen? Und warum überläßt selbst die andere Hälfte die großen Brocken einer anonymen Minderheit? Warum gibt es hierzulande kein größeres Tabu als die Vermögensstatistik? Warum wird die Gesell-schaft ärmer, wenn sie produktiver wird?
Börne wäre heute vermutlich nicht minder aufgebracht, als zu Zeiten der Demagogen-verfolgung durch die in Frankfurt tagende „völlig toll gewordene Bundesversammlung“. Er beschreibt den damals längst eingeführten Begriff Zeitgeist, als befände er sich auf einer Ver-sammlung der IG-Medien: Wenn wir verkündigen, was uns, jedem von seiner Partei aufgetra-gen, werden wir gelobt und belohnt; wenn wir eine falsche Botschaft bringen, werden wir getadelt und gezüchtigt. Gerade deshalb verlangt Börne nicht mehr und nicht weniger, als den Mut zum eigenen Denken: „Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drü-ckender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt.“
Dieser Befund ist um so erstaunlicher, wenn man sich ausmalt, was die Regierungszen-sur damals in Frankfurt, wo sie durch die Nähe der Bundesversammlung besonders streng war, bedeutete: Jede Zeitungsseite musste vor Drucklegung am Abend um zehn durch einen Stempel des Zensors freigegeben werden. Viermal wird Börne während seiner kurzen Zeit als Redakteur der „Zeitung der Freien Stadt Frankfurt“ wegen des Abdrucks ungestempelter Ar-tikel bestraft, dreimal mit ärgerlichen Geldbußen und einmal mit der Verurteilung „zu 14-tägiger Einsperrung unter Gaunern, Bettlern und Dieben“, vor der ihn die Redaktion nur durch fristlose Entlassung bewahren kann. Aber auch sein Verleger Campe wird seinetwegen zuzei-ten bis zu viermal wöchentlich vor Gericht geladen. Und dennoch drückt ihn die Zensur der öffentlichen Meinung mehr als diese?
Da auch heute, trotz Abwesenheit eines staatlichen Zensors, über Personen hinausge-hende Macht- und Eigentumsfragen nicht ernsthaft gestellt werden, drängt sich die Frage auf, ob die veröffentlichte Meinung die nun mal zu erledigende zensorische Arbeit ohne viel Auf-hebens, mehr ehrenamtlich und aus alter Gewohnheit, mitübernommen hat.
Bei gewissen Themen glauben Ostdeutsche nach wie vor erst mitreden zu dürfen, wenn sie bekannt haben, wie sie es damit in ihrem verdächtigen Vorleben gehalten haben. Also will ich eine Rückblende in meine Zeit vor Einheit-Sturzgeburt einfügen. Ich habe meine Zensur-erfahrungen gelegentlich beschrieben und will sie heute nur um eine Episode ergänzen, die mir Börnes Stempel-Ignoranz erst wieder in Erinnerung rief.
Normalerweise hatte man in der DDR als Redakteur oder Autor weniger Chancen als Börne, eine Zensuranweisung hintergehen zu können. Einmal, Mitte der 70er Jahre, kam ich mit meinen Kollegen vom Jugendfernsehen in Versuchung.Wir hatten eine Jugendbrigade des Walzwerkes Hettstedt interviewt, die sich über den neu eingeführten Leistungslohn beschwer-te. Die Jungs vom Hochofen hatten gerade erlebt, wie die Meister den Einzelnen gar nicht bewerten konnten und es zu Ungerechtigkeiten kam. Die aufgebrachten Arbeiter scheuten sich nebenbei bemerkt nicht, die Zustände in den Betrieben und damit deren staatliche Leiter öffentlich zu kritisieren. Das Fremdwort abhängig Beschäftigter hätten sie nicht verstanden, die Bedeutung von Entlassung nie erfahren, und Betriebsinterna gab es in einer volkseigenen Wirtschaft fast nur, sobald Rücksicht auf Exporte, also den Markt genommen werden musste.
Bei der Abnahme kam in der Redaktionsleitung wenig Begeisterung auf. Denn die öf-fentliche Diskussion von Lohnfragen habe sich – ob wir dies vergessen hätten – schon im Juni 1953 nicht bewährt. Dies und das und dies müsse rausgeschnitten werden. Klarer Auftrag für den MAZ-Schnitt in der Nachtschicht. In die sich nie ein Chef verirrte. Und von wo wir das Band ohne weitere Kontrollen direkt ins Sendezentrum zu bringen hatten. Nachts um drei dann, in einer Mischung aus Trotz und Übermüdung, kamen wir zu dem Schluss, der Auf-stand damals, als wir kaum geboren waren, sei gerade deshalb ausgebrochen, weil nicht öf-fentlich über Lohnfragen diskutiert wurde. Und leider hätten wir eben an zwei Stellen die Anweisungen missverstanden, die zensierten Äußerungen liefen über den Sender ….
Ich erzähle dies ohne jeden Anspruch auf Lorbeerlaub, denn wir wussten: „Einsper-rung“ gab es für so was nicht mehr, und selbst eine Entlassung gab der Tatbestand, der füh-renden Arbeiterklasse das Wort erteilt zu haben, nicht her. Der Redaktionsleitung blieb nur die Notbremse zu ziehen, und die von uns mit viel Herzblut entwickelte Sendereihe „Dreieck“ einzustellen mit dem Hinweis, wir seien kein richtiges Kollektiv. Ich reagierte begriffsstutzig – näher besehen ein schönes Wort. Wie hatte ich auch annehmen können, ein Kollektiv zeichne sich durch Zusammenhalt und vertrauensvollen Umgang aus, durch gemeinsame Ri-sikobereitschaft und den Mut, trojanische Pferde zu stehlen. Nein, oberstes Kriterium für ein Kollektiv war, dass es sich ohne zu Murren an die Anweisungen hält.
Heute gibt es keine Kollektive mehr und damit natürlich auch keine vergleichbaren Verhaltensweisen. Wenn heute unsinnige Anweisungen ergehen, sind – wer könnte daran zweifeln – sofort alle auf den Barrikaden. Dass das Land nicht voller Barrikaden ist, erklärt sich allein aus dem Mangel an unsinnigen Anweisungen.
Eigenwillig Ding mit so einer Assoziationskette. Anknüpfungspunkt: Zensur schickt sich nicht mehr, in unseren tabulosen Zeiten. Heute werden nicht Textstellen, sondern Fi-nanzmittel gestrichen. Es gehört zu meiner Arbeitsmethode, solche Behauptungen nicht bloß in den Raum zu stellen, sondern sie mit anschaulichen Fällen zu bekleiden. Wozu sich aller-dings Bücher besser eignen als Dankesreden. Daher nur eine Erinnerung, die mir nach Börnes Rezept im hoffentlich rechten Moment durch den Kopf geht:
Anfang der 90er Jahre hatte ich gute Kontakte zum Deutschen Institut für Wirtschafts-forschung, weil dort ein Projekt lief, das mich interessierte. Man arbeitete an einer Umrech-nungsformel von Ost- in Westmark, von Nationaleinkommen in Bruttosozialprodukt, um so eine Basis für die Vergleichbarkeit von Wirtschaftskraft am Ende der DDR und den erwarte-ten Fortschritten zu haben. Die These vom nur um Haaresbreite vermiedenen wirtschaftlichen Kollaps der DDR galt bis dahin als stabiles Fundament für die Legende, nach der es keine Alternativen gab. Als sich im Institut herausstellte, dass sich das Bild von der völlig bankrot-ten Zonenwirtschaft schwerlich aufrecht erhalten lassen würde und sich statt dessen das De-saster der gegen jede ökonomische Vernunft organisierten Einheit abzeichnete, wurde die Fortsetzung der laufenden Forschung vom Wirtschaftsministerium durch Streichung der be-reits eingeplanten Mittel verhindert. An unseren Vergleichszahlen war die Politik nicht inte-ressiert, hörte ich von den frustrierten Wissenschaftlern.
1994 wurde auch noch die getrennte Rechnungsführung im innerdeutschen Warenver-kehr eingestellt, aus der ersichtlich geworden war, dass vierzig Prozent des Verbrauchs im Beitrittsgebiet von draußen finanziert werden muss. Eine dramatische, ja in der Weltgeschich-te einmalige Disproportion. Spätestens da konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Abschaffen einer aussagefähigen Statistik zur Unzeit und das Wort Verdunkelung kämen gut miteinander aus.
So war einige Jahre für relative Ruhe gesorgt. Im Westen wurden die enormen Belas-tungen vieler Menschen und ihrer Kommunen nicht klaglos, aber einsichtig erduldet, was im Osten durchaus Respekt, Mitgefühl und Dankbarkeit hinterließ. Einzelne warnende Stimmen, der Osten stehe dennoch auf der Kippe oder sei, wie ich damals ergänzte, bereits gekippt, konnten abgetan werden. Seit kurzem zieht der Osten den Westen erneut in den veröffentlich-ten Abgrund, und plötzlich liegen die Nerven auf beiden Seiten wieder blank. Schuld abladen heißt Emotionen aufladen. Und Unterstützung abziehen. Deutungsmuster sind verteilungsre-levant. Deshalb sehen viele Neubundländler neue Entwertungstorturen auf sie zukommen.
Immer noch besteht das Grundmißverständnis zwischen Ost und West darin, dass eine Seite denkt, sie gibt ihr letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Nir-gends sonst gibt es in den innerdeutschen Beziehungen soviel Mythen, Vorurteile und wohl auch Aggressionen, wie bei den Besitzständen. Es mag so etwas wie die Börne´sche Sorge ums Vaterland gewesen sein, wenn ich versucht habe, in meinen Büchern Brücken aus Fakten zu bauen. Denn es ist nicht nur unredlich, sondern auch gefährlich, beide Seiten gegeneinan-der auszuspielen, statt sich gemeinsam darüber klar zu werden, was geschehen ist und was geschehen muß.
Es ist ein Paradox auf hohem Niveau: Niemand übersieht die wesentlich verbesserten Straßen, Schienen, Telefonleitungen, die neuen Wohnhäuser, vor denen neue Autos stehen. Ein Glanz, um den so manche Osteuropäer uns vermutlich beneiden. Von außen lässt sich kaum durchschauen, dass all die schöne Infrastruktur hauptsächlich den Zweck erfüllt, westliche Waren ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen. Von außen lässt sich kaum durchschauen, dass die Menschen im Osten einen Kapitalismus ohne einheimische Kapitalisten erleben. Dass der Preis für all die bunten neuen Güter der Makel von Almosenemp-fängern ist, die von als deutsch geltenden Tugenden weitgehend ausgeschlossen wurden: Leistungswille, Fleiß, Ehrgeiz. Deren Lebensbilanz enteignet wurde.
Zumal die Nebelkerzen Wirkung zeigen: (Ich weiß, Zahlen sind unliterarisch, aber sie sind auch subversiv, und in dieser Eigenschaft mitunter durch nichts zu ersetzen.) Wenn westliche Politiker heute stolz behaupten, seit der Vereinigung habe sich die ostdeutsche Wirtschaftskraft immerhin verdoppelt, geht diese Bilanzfälschung unwidersprochen durch. Weit und breit keine Demagogenverfolgung. Dabei ist der Trick leicht zu durchschauen. Nimmt man als Basis das Jahr 1991, in dem durch die überstürzte Währungsunion bereits siebzig Prozent der Industrie abgestürzt war, haben Steigerungsraten keinen großen Aussagewert. Bleibt man aber beim maroden Ende der DDR von 1989, so weisen die zugänglichen Berechnungen und Schätzungen in Ost und West übereinstimmend aus, dass nach nunmehr 14 Jahren trotz gestiegener Effektivität die damalige Wirtschaftsleistung gerade erst wieder erreicht wird. 14 Jahre, an deren Ende es nicht weniger Probleme gibt als am Anfang.
Es gab einen nahtlosen Übergang von der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ in der DDR in die organisierte Nicht-„Haftung für grobe Fahrlässigkeit“ der Treuhand. Wie aus dem Briefwechsel zwischen Finanzminister und Treuhandchefin hervorgeht, wurden die Mitglieder des Verwaltungsrates und des Vorstandes zum „Außerachtlassen einfachster und nächstliegender Überlegungen“ beim Umgang mit dem Volkseigentum ermächtigt. Soviel staatliche Misswirtschaft, wie in der ersten Zeit des Treuhandkommandos, hat es in Ostdeutschland während der ganzen DDR-Zeit nicht gegeben.
Gerade der Erfindungsreichtum, der nötig war, um die Fesseln des zentralen Plans zu unterlaufen, hat das engagierte Eingreifen und unendliche Mühen zahlloser Leiter, Ingenieure, Meister und Arbeiter bedurft. Von den 8500 einstigen Walzwerkern in Hettstedt bieten übrigens nach der Privatisierung immerhin noch tausend der Konkurrenz Paroli. Obwohl sie bei deutlich niedrigerem Lohn als im Westen jährlich drei Wochen länger arbeiten, ist man unlängst übereingekommen, dass alle – vom Direktor bis zum Pförtner – ihre Einkünfte nochmals spürbar vermindern. Von gerechtem Leistungslohn redet keiner mehr, jedenfalls nicht öffentlich.
Stichworte aus dem jüngsten gemeinsamen Bericht der Wirtschaftsinstitute zur Entwicklung in Ostdeutschland: Enttäuschend, ausgeprägt strukturschwache Region, Niveau der Insolvenzen deutlich über westdeutschem, Talfahrt, dramatischer Bevölkerungsrückgang, jeder Vierte unterbeschäftigt, verschärfte Zumutbarkeitsregeln eingeführt, Entmutigungseffekte. Die Studie trägt übrigens den schönen Namen: Zweiter Fortschrittsbericht. Da zeigt sich wieder, welch gefährliche Ansteckungsgefahr von der im wildesten Osten immer noch grassierenden Orwellschen Krankheit ausgeht.
Symptombedingt wird vergessen, den eigentlichen Fortschritt zu erwähnen: Nach der Vereinigung ist die Zahl der Einkommensmillionäre in den alten Bundesländern um fast vierzig Prozent gestiegen. In den letzten Jahren ist unser schönes Vaterland noch schöner gewor-den – verblühende Landschaften durch Geldregen auf Goldrouten. Das private Vermögen hat sich verdoppelt, von drei auf sechs Billionen D-Mark. Gleichzeitig hat sich allerdings auch die Staatsverschuldung verdoppelt. Wer Zusammenhänge herstellt, fliegt raus, hat Peter Sloterdijk den Mechanismus der Öffentlichkeit einmal beschrieben.
Der Osten wird neuerdings gern als Milliardengrab verdammt. Wäre es nicht ergiebiger, den asozialen Reichtum als Billionengrab zu enttarnen? Eine breite Diskussion über die Abschöpfung von Extragewinnen zur Finanzierung der Vereinigungskosten und zur Verhinderung des Sozialabbaus ist nicht geführt worden. Ein solidarischer Lastenausgleich, wie nach dem Krieg noch durchsetzbar, ist nicht mehr opportun. Der Verweis auf die im Grundgesetz verankerte Sozialpflichtigkeit von Eigentum ist schon ein revolutionärer Akt. Wer es noch wagt, Umverteilung von Vermögen, Land und Arbeit zu fordern, gerät leicht unter Kommunismusverdacht. Dabei findet Umverteilung täglich statt – wir sehen ohnmächtig zu, wie Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Ironie der Fehlergeschichte: Für die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten gibt es keine kapitalismusinterne Lösung mehr.
Dabei beobachte ich in den neuen Ländern, und soweit ich das beurteilen kann, auch in Osteuropa, ein durch die Erfahrung des Scheiterns erzwungenes Dazulernen, das dem Westen noch bevorsteht. Während hier die herablassende Belehrung und Selbstgewissheit nur sehr langsam bröckelt, sieht man sich dort kaum mehr in der Rolle, „unerbittlich das Richtige zeigend“, wie Brecht noch verlangte, sondern „unerbittlich das Ungewisse zeigend“, wie Volker Braun abwandelt.
Der Realsozialismus war letztlich nicht revolutionsfähig – aber das immerhin hatte er begriffen. Partiell lernfähig war er schon – und das, vermengt mit dem Wunschdenken, die emanzipatorischen Potenzen des Gemeineigentums würden eines Tages auch die geistigen Spielräume erfassen, ließ sich leicht verwechseln. Glasnost postulierte, dass es ohne Demo-kratie nicht weitergeht. Perestroika zeigte: mit auch nicht. Diesmal griff die gefährdete Macht nicht wie gewohnt störrisch zu den noch reichlich vorhandenen Waffen, sondern ging vor dem Mehrheitswillen gewaltfrei in die Knie. Diese Selbstüberwindung sollte man ihr immer-hin nicht absprechen.
Und wie steht es heute um die Lernfähigkeit der freiheitlichen Ordnung? Mit Demokra-tie könnte es weitergehen. Was wir aber seit Jahren erleben ist eine schleichende Entdemokra-tisierung. Auch Demokratien sind nichts Starres, müssen ihre Spielregeln veränderten Bedin-gungen anpassen. Wer will, dass die Demokratie bleibt, kann nicht wollen, dass sie bleibt wie sie ist. Was der Bürger aber an Blockaden wahrnimmt, kann er erst recht nicht wollen. In im-mer mehr Bereichen setzt das Grundgesetz keine Maßstäbe mehr: bei der Sozialverfassung, der Inneren Sicherheit, im Asylrecht, bei Umweltrisiken wie der Gentechnik, und – am weit-reichendsten – bei den Aufgaben der Bundeswehr. Freiwillig gibt das Parlament immer mehr Kompetenzen ab, an die Regierung, an den Bundesrat, an das Verfassungsgericht, an die Wirtschaft, an die EU-Kommission. Doch Parlamentsbeschlüsse sind die Legitimation der Regierung. Der Selbstentmachtung des Parlaments und schließlich der Regierung folgt die Selbstentmachtung des Wählers durch Nichtteilnahme an einer Prozedur, in der er keine Auswahl mehr erkennen kann.
„´Ist der Staat Zweck oder der Mensch in ihm?´ – dies schien ihm die große Frage der Zukunft“, schimpfte Börnefresser Treitschke. Durch eine winzige Aktualisierung würde ich Börne gern abwandeln: Ist die Wirtschaft Zweck oder der Mensch in ihr? Ist es nicht längst Zeit, die Sinnfrage zu stellen, wofür wir eigentlich leben? Für einen höchst rentablen Stand-ort, in dem das Recht des Stärkeren gilt, oder für die Welt als einen Ort, an dem das Leben nicht nur für Minderheiten lohnenswert ist. Glück ist nicht mit betriebswirtschaftlicher Logik zu gewinnen. Das Primat des Marktes schließt das Primat des Denkens aus.
„Wer Geld hat, braucht keinen Verstand“. Ludwig Börne, der laut Angaben seines Bio-grafen Karl Gutzkow „das ganze Ding mit der Revolution so ernst nahm“, schimpfte auf die Gutsbesitzer, die reichen Bankiers, die Industriellen, die, den Schweiß vom siegreichen Kampf gegen die Aristokratie noch nicht abgetrocknet, schon eine neue, eine Geldaristokratie bildeten. Es gelte zu begreifen, „dass man nicht gegen die Armen, sondern gegen die Armut zu Felde ziehen müsse.“
Spätestens auf den Weltsozialforen im brasilianischen Porto Alegre und im indischen Mumbai habe ich begriffen: Es ist eine Weltordnung entstanden, die den Interessen der Mehr-heit auf diesem Planeten diametral gegenübersteht. Immer noch halten wir es für rechtmäßig, dass die armen Länder jedes Jahr das Sechsfache der erhaltenen Entwicklungshilfe durch Zin-sen und Schuldentilgung zurückzahlen. Selbst unsere postulierte Uneigennützigkeit entpuppt sich als profitable Geldanlage. Deutschland gehört – wie der größte Teil Europas – trotz aller Probleme zu den Gewinnern der Globalisierung. Ja, Patriotismus und Weltoffenheit bedingen einander. Wir halten einen vorderen Platz im internationalen Waffenhandel, dessen Profit – man glaubt es kaum – so hoch ist, wie das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. Wer Zusammenhänge zu nichtfinanzierbaren Sozialprogrammen sieht, fliegt abermals raus …
Ein ziemlich sicheres Mittel, Massenvernichtungswaffen nicht in Terroristenhände ge-langen zu lassen, ist, sie ihnen nicht zu verkaufen. Ein sehr sicheres Mittel, Massenvernich-tungswaffen nicht in Terroristenhände gelangen zu lassen, wäre, sie weltweit zu vernichten. Statt dessen lagern in Deutschland 65 amerikanische Atombomben vom Typ B 61-11, jede mit der fünffachen Sprengkraft der Hiroschima-Bombe. Fast alle Deutschen möchten laut Forsa, dass diese uns geißelnden Bestände vernichtet werden. Zumal eine solche Lagerung in einem Nichtkernwaffenstaat laut Artikel II des Atomwaffensperrvertrages verboten ist, wie Horst-Eberhard Richter von der mit dem Friedensnobelpreis geehrten internationalen Ärzte-vereinigung unlängst betont hat.
Westliche Grundwerte verteidigt man am besten, indem man sie selbst einhält. Doppel-tes Maß ist immer einfaches Unrecht. Auch ich weiß, was Bündnisverpflichtungen sind. Dass aber, wie im Fall der amerikanischen Bomben, Politiker Verträge schließen, die von 90 Pro-zent der Bürger quer durch alle Parteien abgelehnt werden und daran offenbar nichts zu än-dern ist, gehört zu den nicht eben häufig besprochenen Angelegenheiten.
Börne wäre, wie ich, über die konsequente Ablehnung des Irak-Krieges durch die deut-sche und die französische Regierung erleichtert gewesen. Prophetisch klingen seine Worte, kein Volk könne frei werden, indem es sich erobern lasse, „da doch, wie die Weltgeschichte lehrt, selbst jedes erobernde Volk durch die Eroberung seine Freiheit verloren“. Wer wird uns auch künftig, anders als im Kosovo, vor der Erobererrolle schützen? Laut Plan unsere Abge-ordneten, die die Regierung kontrollieren. Doch: Der Parlamentarismus wird zur leeren Hülse, wenn die Parlamentarier nicht Nein sagen dürfen. Wann fallen im Parlament tatsächlich noch Entscheidungen, die nicht schon vorher feststehen? Und welche Konsequenzen Beschlüsse des erweiterten EU-Parlaments haben werden – darüber sind sich selbst Experten nicht einig.
Ein vereintes Europa, in dem die Menschen noch stärker ins Gespräch kommen, ist ein wunderbares Ziel. Ich sage dies noch unter dem Eindruck einer für mich denkwürdigen Be-gegnung. Vor kurzem besuchte eine Delegation des Willy-Brandt-Kreises das Grab von Fer-dinand Lassalle auf dem jüdischen Friedhof in Wroclaw. Was uns darüber hinaus der polni-sche Historiker Maciej Lagiewski, dem die Instandsetzung des Friedhofs zu verdanken ist, über Friederike Kempner und all die dort liegenden Oppenheims, Mendelsons, Steins, Schott-länders, Mühsams, Pringsheims und Rosenthals aufs Heiterste zu erzählen wußte, war mehr an deutscher Geschichte, als unsere ganze Delegation zusammengebracht hätte. Und schließ-lich war er der Erste, der mir trotz zerstörtem Stein mit Sicherheit das Grab meines Urgroßva-ters zeigen konnte. Selbst dass es dessen Kindern, darunter meinem Großvater, nicht mehr vergönnt war, auf einem jüdischen Friedhof begraben zu werden, wußte er. Woraufhin ich mich ermutigt sah, nach den dramatischen Folgen des deutschen Angriffskrieges für seine Familie zu fragen.
Ein Europa, in dem wir uns über die von der gemeinsamen Geschichte gebrochenen Biographien näher kommen, lohnt alles Engagement. Wenn es aber darauf hinausläuft, und einiges spricht dafür, dass sich im wesentlichen doch wieder nur die Märkte und die Investo-ren näher kommen, und dieses Gut durch die Militarisierung der europäischen Außenpolitik verteidigt werden soll, so ist Gegenwehr geboten. Die EU-Verfassung will Aufrüstung erst-malig zur Pflicht erheben. Eine „Europäische Agentur für Rüstung, Forschung und militäri-sche Fähigkeiten“ wird eingerichtet. Über die Möglichkeiten von Abrüstung und zivilen Fä-higkeiten forscht offenbar niemand. Und das in einer Situation, in der in den USA gerade sämtliche internationale Abrüstungsabkommen zertrümmert werden. Im Bund mit der EU-Staatengemeinschaft könnte Deutschland zu einer weltweit operierenden Interventionsmacht werden, die „im Dienste ihrer Interessen“ ohne Legitimation durch das gewählte Europa-Parlament und ohne ausdrückliche Erwähnung eines UNO-Mandates, zu Kriegen befugt ist. Selbst EU-Abgeordnete sind sich nicht sicher, ob damit der Vorbehalt des Bundestages unter-laufen wird, vermuten dies aber. Da würde nicht mal mehr die demokratische Form gewahrt. Da ist Krieg wieder dort, wo er immer war. Der Bürger wird zu all dem nicht befragt. Er ist entmachtet.
„Unruhen in Hamburg; in Braunschweig das Schloß angezündet und den Fürsten ver-jagt; Empörung in Dresden“, jubelte Börne in einem Brief aus Paris. „Wie hat man es nur so lange ertragen? Es ist eine Frage, die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch einer, noch einer – aber wie ertragen es Millionen?“
Sie werden es nicht ertragen. Dies wäre die Utopie eines vom Kopf auf die Füße gestell-ten Zeitgeistes: Ein Begriff, der sich über die Jahrhunderte gehalten hat, obwohl er doch halt-los ist. Die Zeit hat eine Dimension, aber keinen Geist. Der herrschende Zeitgeist ist nicht der Geist der Zeit, sondern der Geist der Herrschenden. Also der privilegierten, gebildeten und besitzenden Minderheit. Ein Zustand jenseits demokratischer Ideale. Wissen kann sich ver-vielfältigen, ohne der Verdummung Einhalt zu gebieten. Aufgeklärt sein heißt, Ursache und Wirkung kennen, in Zusammenhängen denken, hinter den Oberflächen Interessen durch-schauen. Aufgeklärt sein heißt, politisiert sein. Nicht durch Dogmen, sondern durch Analyse. Ein ins Positive gewendeter Zeitgeist wäre erstmalig ein Geist der aufgeklärten Mehrheit.
Ludwig Börne lehnte die irrationale, unmenschliche Gewalt von Revolten ab, Revoluti-on sei etwas anderes als Kopfabhacken. Moderneres Vokabular unterstellt, verlangte er von revolutionären Befreiungstheorien nicht zu Totalitarismus und Terrorismus zu führen, son-dern umgekehrt, eben davon zu erlösen. Die „sicherste Art, den Krieg der Armen gegen die Reichen zu verhindern“, befand Börne, wäre „sie an der Gesetzgebung teilnehmen zu lassen“. Voraussetzung sei, dass jeder Umwälzung „eine Umwandlung der öffentlichen Meinung vor-hergegangen sein muss“. Der Radikaldemokrat Börne wollte das Volk nicht ändern, aber auf-wecken: Der Mensch ist älter als der Bürger, der Mensch muss sich bessern, dann folgt ihm der Bürger nach. Kein neuer Mensch, aber ein aufgeweckter alter, also anderer. Wenige Jahre nach Börnes Tod befand Karl Marx, „dass die Welt längst den Traum von einer Sache be-sitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“
Die digitalisierte Kommunikation schafft dafür so günstige Bedingungen wie nie zuvor. Nicht nur das Internet, sondern eines Tages vielleicht auch ein alternativer Weltfernsehsender könnten sich dem Ziel verpflichten: Habenichtse aller Länder vereinigt euch. Nachdem die sozialen Bewegungen sich formiert und vernetzt haben, könnten sie international handlungs-fähig werden. Was hieße, einen globalen Sozialvertrag einzufordern. Erstmalig wird die De-mokratie auch die Wirtschaft ergreifen müssen. Bei der Ausgleichung des Vermögens käme es darauf an, „die Zerstörung zu verhüten, die dem Räuber so wenig als dem Beraubten frommt“. Börne sah nicht nur die Armen deformiert, sondern auch die Reichen. Denn ohne soziales Fundament keine zivile und demokratische Freiheit, nirgends und für niemanden.
Fürchten wir nicht „das zornige Erröten der Völker“, wie Börne es hoffnungsvoll be-schwor. Fürchten wir den herrschenden Zeitgeist, fürchten wir unseren eigenen, profitablen Schlaf der Vernunft. Erfüllen wir Börnes Vermächtnis, indem wir von uns behaupten können: Wir treiben, weil wir werden getrieben.