Ich glaub’, ich spuke – Über die Schrift hinaus, Ulla Berkéwicz

Daniela Dahn

Neopathetik Ulla Berkéwicz’ Essay ist, vorsichtig gesagt, eine kühne Übertretung all dessen, was Prosa bisher wagte

der Freitag | Ausgabe 40/2018

Die Autorin wäre nicht Ulla Berkéwicz, würde sie nicht eine ganz eigene Prosa kreieren: Mit ihrem Hexenbesen der Dekonstruktion fährt sie in überlieferte Weisheiten und mystische Texte. Sie hat keine Scheu, verborgene Zusammenhänge zwischen der vedischen Religion aus vorhinduistischer Zeit, der Mathematik und der jüdischen Weltsicht ans Kunstlicht zu holen.
Auch hat sie wenig Respekt vor formaler Logik, insbesondere vor dem Axiom des ausgeschlossenen Dritten. Sie gibt Paradoxien ihren verdienten Stellenwert zurück und rehabilitiert spukende Gespenster, indem sie ihnen Zutritt zur Rationalität verschafft. Diese darf dann allerdings nicht in dreidimensionaler Vorstellung verharren, sondern muss sich öffnen für sieben und mehr Dimensionen. Mathematisches Denken wird als pathetisches Denken beschrieben, was erklären könnte, weshalb sich Musik letztlich auf Mathematik reduzieren lässt.

Wovon träumt ein Gójlem?

Berkéwicz bricht die Sätze auf, bis schroffe Kanten und Abgründe entstehen, schiebt die Zahlen- und Wortschollen ineinander und macht die Leser zu Zeugen, wie sie Geist, Chuzpe und Wissen zu Fugenfüller verarbeitet und so das Ganze zusammenhält. Ihre neu geschaffene literarische Realität gelangt derart Über die Schrift hinaus, ist aber weder ein Abheben ins akademische Fachsimpeln noch ins abgedreht Versponnene. Vielmehr bleiben alle Gedankenspiele dem irdischen und überirdischen Leben verpflichtet.
Dieser essayistische Prosatext ist fast nebenbei auch ein eminent politisches Buch. So wird der vedische Dualismus von Gut und Böse zum Ausgangspunkt für die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno diskutierte Frage, weshalb die technologisch erzogenen Massen eine so rätselhafte Bereitschaft haben, „in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten“.

Angesichts des apokalyptischen Schreckens eines Atomkrieges wird an den Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, erinnert, der „die Anwendung großer Macht um niedriger Zwecke willen“ als Mangel an moralischer Urteilskraft geißelte. Die auch Voraussetzung für die Simonie ist, den Irrglauben, alles mit Geld und Bestechung erlangen zu können, selbst die Gaben Gottes.

Und es geht um die Sorge, die Digitalisierung würde autonome Maschinen und Waffen hervorbringen, die sich von ihren Schöpfern emanzipieren und selbst das Kommando zur Verwüstung übernehmen. So wie es nach der Legende um Rabbi Löw einst der léjmene Gójlem, die Urgestalt eines Roboters, versuchte. Er konnte nur gebändigt werden, als es dem Rabbi gelang, dem wild Gewordenen das Hirschpergament mit den geheimen vier Buchstaben, (also den Chip mit dem Code) aus der Stirn (der Schnittstelle) zu ziehen. Eine Mahnung, die Programmierung nie zu vergessen oder gar aus der Hand zu geben.

Auch nicht die des Kapitalismus, dessen Charakterisierung als gnadenlos sich durch das Buch zieht. Das Übel ist eben nicht erst der Neoliberalismus, den zu verwerfen längst Mainstream ist, sondern die Funktionslogik dieses Wirtschaftssystems von Anfang an, der „Kapitalismus als Religion“, der mit Bezug auf Walter Benjamin als auf die Zerstörung der Welt zielend beschrieben wird. Erlösung von der „Diktatur der Freiheit“ ist nicht in Sicht. Auch nicht von dem Wahn, den falschen Göttern zu folgen. Deshalb kreisen die Reflexionen immer wieder um die Kategorie des Erbarmens. Wo ist angesichts dieser Welt göttliches Erbarmen zu spüren – ist es richtig, aufgrund seines Ausbleibens auf den Tod Gottes zu schließen? Dafür spricht, dass die vermisste Barmherzigkeit nicht nur die Erlösung derer wäre, mit denen sich erbarmt würde, sondern auch die Erlösung des Erbarmers selbst.

Im zweiten Teil des Bandes plötzlich nicht nur totaler Kulissenwechsel, sondern auch der der Erzählperspektive. Die Hoffnung auf Erlösung verlagert sich von der desillusionierenden Reflexion auf ein Mysterienzauberspiel, einen Faschingsfeuersturm in einem Wiener Café oder auch sechs Ecken weiter, in Russland vielleicht.

Die Protagonisten treten heraus aus ihren Rahmen auf der Porträtantenwand, Friederike Mayröcker, der zuvor eingeführte geniale Mathematiker Grigori Perelmann, schließlich die russische Zarenfamilie, die Callas und viele Illustre mehr. „Lebensglück fetzt vorbei, die Schwanenfedern stieben“, wird Ingeborg Bachmann zitiert. Man erwartet, dass es 13 schlägt, und fortwährend blinkt der Judenstern an.

Für manche Leser wohl eine Szenerie, die in ihrer Aberwitzigkeit das Vorherige noch toppt, aber da gerät man an die Geschmacksache. So fantastisch und surreal diese Posse auch ist, so findet sie doch ihre Grenzen, wenn authentischen Personen existentialistische Dialoge aus dem absurden Theater in den Mund gelegt werden. Diese wollen, können und dürfen die intellektuelle Dichte des ersten Teils nicht erreichen.

Dieses Buch ist alles in allem eine fantastische Übertretung dessen, was Prosa bisher wagte, eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Wer auf eine Vertonung dieses poetischen Textes neugierig ist, dem sei das von der Schauspielerin Ulla Berkéwicz gelesene Hörbuch empfohlen, in dem sie der Autorin Ulla Berkéwicz mit warmdunkler Stimme noch ganz eigene Akzente hinzufügt.