Ist die Revolution käuflich? Kuba – Was ist vom Fidelismo geblieben?

Vor zehn Jahren hat Raúl Castro die Führung des Landes übernommen und bedachtsam reformiert. Was ist vom Fidelismo geblieben?

„Kuba ist das Symbol der Hoffnung der Neuen Welt“, hat Papst Franziskus bei seinem letzten Besuch gesagt. Hoffnung worauf genau bitte? Bevor Fidel Castro vor zehn Jahren die Führung abgetreten hat, hielt er in der Universität Havanna eine überraschende Rede. Erstmals wurde von ganz oben die Frage aufgeworfen, ob die Revolution überleben wird. Nicht die USA könnten diese heute mehr beseitigen. „Wir ja, wir können sie zerstören, und es würde unsere Schuld sein.“ Er schimpfte auf den „idiotischen Staat“, der mit Subventionen wider Willen diejenigen privilegiere, die am meisten verbrauchten, also die Neureichen, statt so umzuverteilen, dass nur den Bedürftigen geholfen würde. Und er geißelte die Verschwendung der knappen Ressourcen und den nicht knappen Dogmatismus. „Unter den vielen Fehlern, die wir alle gemacht haben, war der bedeutendste zu glauben, dass irgendjemand etwas vom Sozialismus verstand.“

Immer wieder sind Neuerungen fehlgeschlagen. Dass sich der Socialismo Tropical überhaupt so lange halten konnte, hat der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez einmal damit erklärt, dass „Fidel gleichzeitig Regierungschef und Oppositionsführer ist“. Die Veränderungen unter der Regierung Raúl Castro sind von behutsamer Konstanz, was sich auch darin zeigt, dass Fidel mit all seinen Artikeln und Büchern Op- positionsführer gegen die Einmischungen von außen geblieben ist. Das Komitee zur Verteidigung der Revolution (CDR) in Havannas Viertel La Víbora lädt zum Quartiersfest ein. Wer jemanden kennt, der dort wohnt, kann mitkommen. Eine verlockende Tafel selbstbereiteter Speisen be- kommt noch etwas Schonfrist – die Revolution will erst erörtert werden. Eisgekühlter Cuba Libre ist aber unverzichtbar. Ich frage, ob dies nicht ein arg pathetischer Name sei, angesichts der alltäglichen Mängel, um die sich die Komitees kümmern. Julián Hernández, der in der Esperanto-Schule um die Ecke Englisch lehrt, lacht – der Name stamme aus den ersten Jahren, in denen es noch einen begrenzten Guerillakrieg gegen die Barbudos gab, die „Bärtigen“ und ihre wachsende Anhängerschar. Aber permanente Revolution brauche auch permanente Verteidigung.

„Manchmal bremsen die Wasser- oder Energieabschaltungen den Fortschritt, manchmal Alkoholiker oder Kleinkriminelle“, unterbricht Maria temperamentvoll. „Die Menschen wohnen dicht aufeinander, oft mehrere Generationen in einer Wohnung, da ist niemand allein, was für Ältere ein Segen, für Jüngere ein Fluch sein kann.“ In Havanna leben 2,5 Millionen Menschen, obwohl die Infrastruktur nur für 1,5 Millionen gedacht ist. Der Schauer, dem Sozialismus nun wie der Sonne beim Untergang zusehen zu können, lockt außerdem jährlich fast vier Millionen Touristen ins Land. Weshalb auch zweit- oder drittklassige Hotels belegt werden müssen. Wenn der Fahrstuhl stecken bleibt oder die Toilettenspülung versagt, erfüllen sich manche Gruselerwartungen. Doch schnell wird alles ausgeglichen durch die karibische Heiterkeit, den Salsa, den Mojito. Bis 1959 hatten sich die US-Amerikaner 60 Prozent des kubanischen Bodens unter den Nagel gerissen. Die in Havanna hinterlassenen 35.000 Cadillacs, Buicks oder Chevrolets stehen unter Denkmalschutz. Weniger aus Re- spekt vor US-Design. Vielmehr gelten die Oldtimer als „Revolutionsbeute“, mit der man Frauen oder Touristen beeindrucken und als Taxifahrer gutes Geld machen kann. Das gute und das schlechte Geld (konvertibel oder nicht) – eines der Hauptprobleme auf der Insel. „Wie bitter jener Tag, an dem die Devisen-Läden geschaffen wurden“, hatte Fidel in der Rede gesagt. Aber es sei in der existenziell bedrohlichen Sonderperiode in den 90er Jahren die einzige Möglichkeit gewesen, mit überhöhten Preisen etwas von dem Geld umzuverteilen, das Touristen oder Miami-Überweisungen ins Land brachten.

Dilemma pur: Zur Verteidigung der Revolution bleibt nur ihr Verrat. Ohne die Zweitwährung wäre die Revolution verhungert, mit ihr ist sie verhunzt. Sie hat ihr heiligstes Gut geopfert, die Würde ermöglichende Egalität. Stattdessen muss sie mitansehen, wie sich ein Geldadel ausbreitet und Genossen verarmen. Das widerspricht jedem sozialistischen Ideal. Sobald die Wirtschaftskraft es zulässt, soll die Währung wieder vereinheitlicht werden. Die Revolutionskomitees, so erfahren wir, arbeiten mit meist studentischen Sozialarbeitern zusammen, die „Zellen gegen die Korruption“ bilden und Leute aufspüren, die Benzin unterschlagen oder in den Betrieben volkseigene Produkte abzweigen. Die einen begeistert das Unterbinden von Missbrauch, die anderen fühlen sich kontrolliert oder zu Unrecht verdächtigt. In den bitterarmen Jahren nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus sind Kubaner herangewachsen, die von den Verheißungen eines besseren Lebens wenig gemerkt und stattdessen eine Rette-sich-wer-kann-Mentalität entwickelt haben. An diesen Schwachpunkten setzen Institutionen wie die US-Agency for International Development an, die unlängst versuchte, durch gezielte Förderung regierungskritischer Rapper eine künftige Umsturzbewegung aufzupäppeln.

Doch die Insulaner haben nach jahrelanger Konfrontation ein kritisches Bewusstsein gegenüber solchen Einflussnahmen. Selbst Jugendliche, die ungeduldig auf Verbesserungen warten, wissen, dass sie auch etwas zu verlieren haben. Kubas Sozialstaat ist unter den Entwicklungsländern trotz Blockade bis heute einmalig. UNICEF lobte Kuba als einziges Land in Lateinamerika und der Karibik, in dem es keine unterernährten Kinder mehr gebe. Als Pädagoge lobt Julián Hernández das Bildungssystem, das vom ersten bis fünften Lebensjahr mit Spielgruppen beginnt und damit endet, dass 40 Prozent der Kubaner einen Universitätsabschluss haben und noch einmal 45 Prozent eine Berufsausbildung. Sicher, die Ausrüstung sei oft katastrophal. An seiner Schule gebe es 40 PCs für 500 Studenten. Nicht alle hätten einen eigenen. „Bedauerlicherweise haben unsere Sanktionen dazu geführt, dass wir den Kubanern den Zugang zu Technologien unmöglich machten, von denen sonst alle rund um den Globus profitieren“, hatte Präsident Obama in seiner Kongressrede zum Kurswechsel eingeräumt. Trotz der eigenen Engpässe hat Kuba aus Solidarität bislang fast 50.000 Akademiker aus 120 Entwicklungsländern ausgebildet. Jetzt locken Universitäten weltweit Kubaner mit Stipendien an, um ihnen die Vision westlichen Lebens nahezubringen. Die Frage, ob sie zurückkehren, sei natürlich eine Herausforderung. Aber auch eine Chance, dass welterfahrene Menschen wiederkommen, die den unbekannten Luxus in Beziehung setzen zu anderen neuen Erfahrungen: Jugendarbeitslosigkeit in Madrid, Pockets of Poverty in Detroit oder Chicago, deren verfallene Viertel denen in Havannas Altstadt ebenbürtig sind, Kindersterblichkeit in Haiti oder Gangs in Kolumbien. Die Gastgeber vom CDR aus dem Viertel La Víbora verbreiten Zuversicht. Längst hat der eigentliche Teil des Festes begonnen: Gesang und Tanz. Wir lernen, Rumba-Rhythmen eignen sich auch für Polonaise.

Auf manchen Gebieten leistet sich dieses arme Land einen im Westen undenkbaren Luxus. 1961 wurde auf einem Golfplatz in Havannas Vorort Marianao die für ihre Architektur weltberühmte Escuela de Arte errichtet. In einer Mischung aus mittelalterlichem Kreuzgang und Bauhaus wagte Kubas Stararchitekt Ricardo Porro einen sexualisierten Stil, mit phallischen Formen und Rundungen. (Diese Sinnlichkeit passte zu den schönen Helden aus der Sierra Maestra – die kubanische Revolution hatte einen Eros wie keine je zuvor und danach.) Die Hochschule unterrichtet in den Sparten Tanz, Musik, Theater, Bildende und Audiovisuelle Kunst. Auf 1.300 Studenten kommen 600 Dozenten! Die Ausbildung, das Wohnen und die Verpflegung sind gratis. „Wir üben keine Zensur, aber wir lehren Geschichte“, sagt die Dozentin Sonia Teger. In den offen stehenden Ateliers zeigt mir Dorian seine Lithografie Eine Lektion kubanische Ökonomie, auf der die Streifen von Kubas Flagge mit Stacheldraht getrennt sind, durch den Kühe glotzen. Yoxi arbeitet an ihrer Plastik Thron, eine Art Chefsessel auf einem zwei Meter hohen, mit Heu gefüllten Podest.

Die für alle kostenlose Medizin ist trotz Mangel an Medikamenten und Geräten effektiv, die Lebenserwartung so hoch wie in der Schweiz. Das führt hier wie da zu den Problemen einer überalterten Gesellschaft. Einzigartig ist die Methode zum Stoppen einer Netzhauterkrankung, die sonst zu Erblindung führt. Tausende Betroffene aus aller Welt, auch viele Deutsche, pilgern daher nach Kuba. Von der Insel werden Ärzte exportiert, Öl ist zu knapp. Weshalb auch im maroden Transportwesen kreative Lösungen gefragt sind. In Santiago, der südlichen Konkurrenz zu Havanna, fahren hunderte Mopedfahrer, an deren Lenker ein zweiter Helm hängt. Eine Offerte, für etwa zehn Cent eine Person mitzunehmen. Das funktioniert problemlos, wie wir uns auf dem Weg zum Hauptsitz der Architekten Kubas überzeugen. Mir scheint, die Bausubstanz ist hier in besserem Zustand. Was unsere Gastgeber nur mit einem Lächeln quittieren. Diese Stadt ist noch heißer, noch bunter, hier leben mehr Schwarze, und volljährig wird man mit 16. Mit unserer besorgten Frage, was passieren wird, wenn aggressive Investoren kommen, lösen wir eine lebhafte Debatte aus. Die USA haben jetzt Geschäfte mit der aufstrebenden Privatwirtschaft erlaubt, mit dem Staat nicht. Meine Mahnung, bloß nicht dieselben Fehler zu machen wie zum Schluss in der DDR, etwa volkseigenen Grund und Boden zu verkaufen, findet Beifall und die Bestätigung, dass man sich dieser Gefahr voll bewusst sei. Man habe aus jenen Fehlern gelernt. Kein Gesetz erlaube solche Privatisierung. Vor zehn Jahren seien alle Grundbücher auf den letzten Stand gebracht worden. Wenn etwa eine bürgerliche Post-Castro-Regierung dies nicht anerkennen wolle, würde es wohl einen Bürgerkrieg geben. Zum anschließenden Spanferkel-Essen hat sich ein Reporter von Radio Rebelde eingefunden. Meine Frage, wie rebellisch er denn sein dürfe, entlockt keine Heiterkeit – unbegrenzte Meinungsfreiheit gebe es wohl nirgends. Das kann ich bestätigen. Wenn er mit Änderungen an seinen Beiträgen nicht einverstanden sei, würden sie eben nicht gesendet. Aber er sei vorsichtig, schmunzelt er nun doch, denn er wisse, dass beide Castros den Sender hören. Das Maß der Rebellion wird auch hier begrenzt vom Maß der Provision. Bis September läuft im ganzen Land eine Debatte um die Herkulesaufgabe, ein Entwicklungsmodell bis 2030 zu umreißen. Dafür werden sogar zwei Handy-Apps mit Dokumenten und Fakten angeboten. Zentral sind das gesellschaftliche Eigentum und eine partizipative Demokratie mit Ansätzen von Rätestrukturen.

Keine Wirtschaft, die tötet, wie es Papst Franziskus der kapitalistischen vorwirft . Diese Ernsthaftigkeit ist anrührend. Aber es wäre ein Wunder, wenn solcher Plan sich behaupten könnte. Doch wer weiß – einst haben 20 Guerilleros eine schwer bewaffnete Armee besiegt. In der Schweinebucht sind die überlegenen Invasoren in wenigen Stunden zurückgeschlagen worden. Vom Realsozialismus ist nur diese isolierte Insel übrig. Fidel hat nachweislich acht Mordanschläge der CIA überlebt. Nach schwerer Krankheit auferstanden, wird am 13. August im ganzen Land sein 90. Geburtstag gefeiert. Auf ein Wunder mehr oder weniger kommt es den gestählten Kubanern nicht an.