Sind die Menschen von den Menschenrechten überfordert? Ein Plädoyer für demokratisches Selbstbewusstsein – Freitag 9.9.2010

Zumindest im öffentlichen Bewusstsein waren die Menschenrechte im letzten Jahrhundert ein triumphales Ass im Blatt des Westens. Deshalb hätte man vermuten sollen, dass mit dem Ausreizen der nicht gerade freiheitsfreundlichen Sozialismen sowjetischer Prägung vor 20 Jahren, diese Ideale nunmehr einen ungehinderten Siegeszug über den ganzen Globus antreten konnten.

Das Gegenteil ist der Fall: Die Utopie der Menschenrechte stirbt, schreibt die bekannte französische Politologin Caroline Fourest in ihrem jüngsten Buch. Der Wind habe sich gegen den Idealismus gedreht und gegen die universellen gleichen Sehnsüchte der Menschen. Er fordere stattdessen Gruppenrechte im Namen von Religion und Kultur – eine massive Kapitulation vor Werten, die nach jahrhunderte langen Kämpfen Rechtskraft erhalten hatten.

In der Tat war es fast ein Wunder, dass sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12. 1948 auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ einigen konnte. Das revolutionäre Programm Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurde zum Artikel 1 der Deklaration. Eine in wunderbar klarer, fast poetischer Sprache verfasste Erklärung – eines der würdevollsten Dokumente der Weltgeschichte. Die Versammlung aller Völker hatte damals sicher weder die Absicht, eine linke Utopie zu verabschieden, noch ein Mittel zur Instrumentalisierung westlicher Hegemonie-Interessen. Vielmehr war es eine Konsequenz aus den verheerenden Folgen der Nazi-Herrschaft und des von ihr ausgelösten Zweiten Weltkrieges, zu deren Ausbruch auch schwere soziale Verwerfungen beigetragen hatten, den klassischen freiheitlichen Menschenrechten auch die modernen sozialen Menschenrechte hinzuzufügen. Beide sollten künftig unteilbar sein, beide gleich verbindlich. Weil nämlich die sozialen Menschenrechte im Kern auch individuelle Grundrechte sind. Weil Würde eine soziale Basis hat, ohne die die ganze Freiheit für die Katz ist.

Damit war klar, dass die Erfüllung der Menschenrechte nicht allein eine Angelegenheit des Wertesystems und der Rechtsordnung war, sondern auch der Wirtschaftsordnung. Beide Seiten hofften offenbar, ihr Model wäre geeignet, diese Ansprüche zu erfüllen. 1961 brachte Ernst Bloch die marxsche Dialektik, wonach die Freiheit insgesamt infrage gestellt ist, so oft eine bestimmte Freiheit infrage gestellt ist, auf den weitgehenden Nachkriegskonsens: „Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.“

Damit war die Zweiteilung natürlich nicht überwunden, mit der von Anfang an versucht wurde, die Deklaration zu unterlaufen und die Seite der Medaille, die nicht ins Konzept passte, als weniger wichtig zu qualifizieren. Im Osten sagte man: Recht auf Freizügigkeit, auf Meinungs- und Informationsfreiheit – ganz schön und gut, aber aktuell nicht erfüllbar. Das gefährdet unsere soziale Sicherheit. Wenn wir ökonomisch stärker sind, werden wir uns mehr Freiheit leisten können, bis dahin bleibt es ein Fernziel. Im Westen hieß es: Recht auf Arbeit und Soziale Sicherheit – ganz schön und gut, aber aktuell nicht erfüllbar. Das gefährdet unsere Freiheit. Wenn die gesichert ist, werden wir uns ums Soziale kümmern, bis dahin bleibt es ein Programmrecht. Jeder stufte das Recht, das einzuhalten er nicht in der Lage war, zum fernen Staatsziel herunter. Damit war die Frage, was Menschenrechtsverletzungen sind, immer schon eine Frage der Interpretationshoheit. Und die lag weitgehend im Westen.

Dennoch wurden die in der UN-Charta formulierten Rechte mehrheitlich nicht in Frage gestellt. Das kann man seit dem Abdanken der sozialistisch genannten Seite leider nicht mehr behaupten. Beispiele aus Deutschland sind nur Pars pro toto: Der Grundgesetzeskommentator Günter Dürig beklagte im Vorwort der 1991´er Ausgabe des GG: „Bei sozialen Grundrechten (auf Wohnung, auf Arbeit usw.) ist auf der eigentlichen Verfassungsebene nicht ein einziger Anspruch aktuell erfüllbar… Ich glaube nicht mehr an gutgemeinte Naivität, wenn ein selbsternannter Runder Tisch gleich 37 (!) solcher sozialer Rechte einbringt. Da will man systematisch das Grundgesetz für allen Unsinn büßen lassen, den sich ein gewisser Marx im Britischen Museum angelesen hat.“

Da mochte man sich einen kleinen „Anti-Dürig“ nicht verkneifen. Der „Marx´sche Unsinn“, das Recht auf Arbeit, stand auch schon in der Weimarer Verfassung und steht heute in Länderverfassungen wie der Bayrischen. Ob diese Rechte aber in der Verfassung stehen oder nicht – eine Menschenrechtsverletzung bleibt die Nichterfüllung in jedem Fall, denn Verfassungen sind nicht ausschlaggebend dafür, welche Menschenrechte gelten. Weder das Grundgesetz noch, sagen wir die chinesische Verfassung, haben diese Entscheidungsbefugnis. Das ist ja das universelle an der UNO-Charta, dass sich die unterzeichnenden Mitgliedsstaaten auf ein „gemeinsames Ideal“ geeinigt und sich „verpflichtet“ haben, die „Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen“. Bis heute hat die UNO den Anspruch auf die normative Kraft ihres Paktes nicht aufgegeben. Sie fordert die Unterzeichner auf, beide Seiten der Charta in der Bildung gleichrangig zu behandeln. Doch Umfragen haben ergeben, dass die sozialen Menschenrechte im Osten deutlich höher bewertet werden: Ohne Arbeit keine Freiheit.

Deshalb mag es dort als besonders schmerzlich empfunden werden, wenn der „Marx´sche Unsinn“ nicht nur völkerrechtlich, sondern auch philosophisch vorgeführt wird. In ihrem jüngsten Buch „Stadt der Engel“ zitiert Christa Wolf zustimmend den Essayisten Georg Steiner, der sich u.a. mit seinem leider sehr einleuchtenden Buch „Warum Denken traurig macht“, einprägte. Für Steiner, der die Schrecken des Gulag nicht leugnet, war der Kommunismus dennoch eine „ungeheure Hoffnung. Es gibt im Marxismus – das ist sehr jüdisch – eine verrückte Überschätzung des Menschen. Er bringt uns dazu zu glauben, wir seien Wesen, die zur sozialen Gerechtigkeit fähig wären. Ein schrecklicher Irrtum, den zig Millionen Menschen mit ihrem Tod bezahlt haben, aber eine generöse Idee und ein großes Kompliment an die Menschheit.“

Es sei dahingestellt, ob ohne den Glauben an soziale Gerechtigkeit, also ohne das von Bloch geforderte Ende der Ausbeutung, weniger Menschenleben zu beklagen gewesen wären. Und auch, ob die mörderische Art und Weise, wie das Ideal der sozialen Würde angegriffen und verteidigt wurde, alternativlos war. Unbestritten ist, dass die Generationen, die diesem Glauben verfallen waren, und die nunmehr sein Scheitern als endgültig ansehen, dem Dauerschmerz der Ernüchterung ausgesetzt sind.

Dabei ist die Frage, ob die Menschheit zur sozialen Gerechtigkeit fähig ist die Frage, ob sie eine hinreichende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft durchsetzen kann. Denn die sozialen Grundrechte sind nur durchsetzbar, wenn der Staat die gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen hat, diese auch erfüllen zu können. Das Recht auf Arbeit setzt ein Mindestmaß an Bedarfsplanung voraus. Zur Zeit fehlen in Deutschland zehntausend Handwerker, weil die Marktwirtschaft nicht in der Lage war, die geburtsschwachen Jahrgänge voraus zu sehen. Ein gewisses Maß an Planwirtschaft ist also unabdingbar, vielleicht sind die Begriffe New Deal oder Dritter Weg immer noch weniger abschreckend.

Geplant wird die künftige Verteilung der Reichtümer in jedem Fall, fragt sich nur von wem. Der „Kampf um die Absatzmärkte der Zukunft und um den Zugang zu Rohstoffen“ hat nicht nur in die Planung der Bundeswehr Eingang gefunden, sondern auch in die der Nato. Insofern verbleicht nicht nur die Hoffnung, der Mensch könne gerecht sein, sondern wieder einmal auch die, er könne friedfertig sein. Wie der ruhmlose Abzug der Amerikaner aus dem Irak zeigt, einem Öl-Krieg, der unter falschem Vorwand begann, mit falschen Mitteln geführt und mit einer halbherzigen Bilanz beendet wird. Diese nennt den hohen Preis, den die Amerikaner bezahlt haben – 4400 tote Soldaten. Und eine Billion Dollar Kosten, die ihren Anteil an der Krise hatten. Sie nennt nicht den Blutzoll, den die Iraker zu zahlen hatten – die zivilen Toten hat offenbar niemand so genau gezählt. Die Angaben schwanken zwischen mindestens 120 000 und der Studie der Johns Hopkins University in Baltimore, die schon 2006 auf einer Pressekonferenz von 600 000 durch Bomben und Schüsse getöteten Irakern sprach. Hinzu kämen 50 000 Opfer, die ihr Leben durch kriegsbedingte Missstände wie Wassermangel, Seuchen, oder fehlende Elektrizität verloren hätten. Von den Verletzten und Verwaisten in der verwüsteten Infrastruktur ganz zu schweigen. Erwähnt da jemand Menschenrechte?

Jürgen Habermas hat in seinem Vortrag über „Human Rights Today“ im Juni an der Universität in Frankfurt a.M. von einem „neuen Minimalismus“ der Menschenrechte gesprochen, der den Schutz der gleichen Menschenwürde eines jeden nicht mehr beansprucht. „Wenn die Supermacht die UN-Charta beiseite schiebt, um sich ein Interventionsrecht anzumaßen“, dann bestätige sich der Verdacht, dass die Menschenrechtspolitik zum Vehikel von Großmachtinteressen werde, ja „das Programm der Menschenrechte in seinem imperialistischen Missbrauch besteht“.
Wo ist das Subjekt, das diesen Missbrauch verhindern kann? Auf Außerirdische können wir lange warten. So bleibt nur eine einzige, vage Hoffnung: Wir sind das Volk. Es setzen sich nur soviel Menschenrechte durch, wie Menschen bereit sind, ihr Interesse an Demokratie, an Rechts- und Sozialstaat zu verteidigen.