Er hat die Geschichte auf seine Seite gezogen. Zum 85. Geburtstag von Egon Bahr – Freitag 11 vom 16.03.2007

ZUM 85. GEBURTSTAG VON EGON BAHR
Ein Bewahrer der Eigenständigkeit im Denken und Handeln

Ein Jubilar ist zu beglückwünschen, dessen politisches Lebenswerk wie selten über Partei- und Ländergrenzen hinweg anerkannt und gewürdigt wird. All seine kreative Logik, seine strategische Pragmatik, seine unablässige Neugier und Begeisterungsfähigkeit hat Egon Bahr in den Dienst der Entspannung gestellt – vornehmlich zwischen Ost und West, aber längst auch zwischen anderen Himmelsrichtungen. Entspannt hat er immer wieder auch die ihm zur Kenntnis gegebene Situation eines oder einer Bedrängten, und dabei eine Solidarität erwiesen, die ihresgleichen sucht. Aus dem Einfühlungsvermögen in den einzelnen Menschen erklärt sich sein Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit.

Dass er sich mit dieser Haltung durchsetzt, galt nicht immer als selbstverständlich. Die Zeiten der Verdächtigungen und Verleumdungen sind passé, weil auch seine Gegner einräumen mussten, dass sein Weitblick die Geschichte überzeugt und auf seine Seite gezogen hat. Neben seinem friedlichen gab es andere Szenarien für das Aufeinandertreffen der hochgerüsteten Systeme – seien wir dankbar, dass wir nie erfahren werden, wie viel Blutvergießen er geholfen hat zu vermeiden.

Gegenwärtig könnte es eher bedenklich stimmen, wenn vor lauter rückschauender Bewunderung womöglich versäumt wird, auch den heutigen kritischen Analysen und Prognosen dieses erfahrenen Politikers die nötige Beachtung zu schenken. Deshalb ist wohl das Beste, was man Egon Bahr, neben Glück und Gesundheit zu seinem 85. Geburtstag am 18. März wünschen kann, dass der kompetent Unbequeme nicht weggelobt wird, sondern seine weiterhin unermüdlich gegebenen Empfehlungen ernsthaft geprüft werden.

Denn vor lauter Genugtuung über die erfolgreiche Strategie des Wandels durch Annäherung übersehen manche gern, dass politische Vorgänge immer eine Eigendynamik entwickeln und im Parallelogramm der Kräfte sich nie alles genau so wandelt und annähert, wie es beabsichtigt war. Einige Rechnungen sind durchaus noch offen, worauf der Friedensforscher – jenseits jeder Genügsamkeit – selbst immer wieder aufmerksam macht. Es beschäftigt ihn nach wie vor, ob internationale und nationale Versöhnung gelingen kann. Er hält es nicht für ausgeschlossen, dass schon in naher Zukunft die negativen Kräfte der menschlichen Gesellschaft die positiven Möglichkeiten übertreffen könnten. Die drohende Klimakatastrophe sieht er mit reiner Marktwirtschaft nicht aufzuhalten. Und die Gefahr eines neuen Atomzeitalters sei nur durch das Bestehen auf kontrollierte Abrüstung zu bannen. Der Konfrontation in Kulturkämpfen aller Art setzt er friedliche Zusammenarbeit als Schlüsselwort des Jahrhunderts entgegen.

Den Stand der Annäherung zwischen West- und Ostdeutschen haben nur wenige schon früh so kritisch beurteilt, wie der wissende Entspannungspolitiker. Nicht nur im Willy-Brandt-Kreis sucht er immer wieder den Kontakt zu Ostdeutschen, er reist in die neuen Bundesländer und hört zu. Die wirtschaftliche Vereinigung sieht er, besonders wegen der „an Kolonialgebiete erinnernden Besitzverhältnisse, die den Ostdeutschen nur fünf Prozent des Produktivvermögens gelassen haben“, weitgehend misslungen. Und das Ziel der inneren Einheit hält Egon Bahr in absehbarer Zeit für immer noch unerfüllbar und fordert wenigstens Toleranz im Umgang miteinander.

Von der Bühne des Deutschen Theaters beschwor er: „Im Westen ist die Einheit auch als Bestätigung empfunden worden, auf der richtigen Seite der Erfolgreichen im Kampf der Systeme zu stehen. Wozu da etwas noch im Denken ändern? Anpassen müssen sich doch die, die schließlich dem anderen System beitreten wollten und beigetreten sind. Die Selbstgewissheit hat gar keine Neigung entstehen lassen, selbstkritisch das Gift, das dem Ost-West-Konflikt immanent beigemengt war, zu erkennen und loswerden zu wollen. Es hat sich abgelagert und wirkt weiter.“

Eine dieser Wirkungen besteht im offenkundigen Mangel an einer differenzierten Geschichtsschreibung seit 1945, in der sich beide Seiten wiedererkennen. Vielmehr ist es diesem Gift – nunmehr Oscar-legitimiert – gelungen, die DDR bis zu ihrem Ende als einzig totalitäres Gebilde zu beschreiben, mit dem Lebensgefühl flächendeckender Bespitzelung und ständiger Verhaftungsgefahr, ganz wie zur Nazizeit. Es ist, wie Egon Bahr beklagt, das Bild von „einer Stasi-Gesellschaft mit einer unheimlichen Masse von offiziellen wie inoffiziellen Mitarbeitern, die Zeitgenossen geblieben sind“. Weshalb die Erfahrungen der Ostdeutschen aus dem öffentlichen Diskurs bis auf weiteres vorsichtshalber herausgehalten werden. Bis zum Aberwitz zu beobachten in der derzeitigen Debatte um Kinderkrippen, bei der in allen Talk-Shows auf skandinavische Praktiken verwiesen wird, ohne auch nur wahrzunehmen, dass jeder fünfte Deutsche zwei Generationen lang eigene Einsichten gewonnen hat. Und nur in der Netzeitung kursiert der PISA-Studien-Slogan: „Von Finnland lernen, heißt von der DDR lernen“.

Sorgen macht Egon Bahr auch, dass inzwischen die Mehrheit der veröffentlichten Meinung anti-russisch und anti-putinisch ist. „Mit Jelzin waren alle zufrieden, da er den Staat an Amerika ausgeliefert hat.“ Für den gekürzten Abdruck der jüngsten, aufsehenerregenden Rede Putins hat er dem Freitag ein Kompliment gemacht. Es sei ein medienpolitischer Skandal, dass alle großen Zeitungen den Text kommentiert hätten, ohne die Leser über den Wortlaut des Gesagten zu informieren. Das wohl als Bestätigung der Bahr´schen Auffassung interpretiert werden muss, wonach die Osterweiterung der NATO ein Jahrhundertfehler war.

Zu seinem 80. Geburtstag hat Egon Bahr, zusammen mit Günter Gaus, in der Ebert-Stiftung ein beinahe prophetisches Gespräch darüber geführt, ob sich Europa von den USA emanzipieren kann. Er hat vorausgesagt, dass die USA bald – so weit vorn wie möglich nämlich in Polen – eine Raketenabwehr stationieren werden wollen. Dies werde für Europa die Grundfrage aufwerfen, ob es an seinem Ziel der Eigenständigkeit, der eigenen Handlungsfähigkeit, überhaupt noch festhalten will. Jetzt sind wir an diesem Punkt. „Eine weltweite Diskussion über Prävention ist dringend erforderlich“, mahnt Bahr. Die Frage von Krieg und Frieden müsse demokratischer Meinungsbildung zugänglich sein. Was Vergeblichkeit für die Demokratie bedeutet, weiß man. Gerade deshalb kämpft er bis zum jüngsten Tag gegen diese Vergeblichkeit an.

Auf dem Geburtstagsempfang seiner Partei, deren Profilverlust er bemüht ist, verhindern zu helfen, wünschte man sich den Toast: Hört auf diesen Mann – Mehr Bahr wagen!