Suche nach der besseren Welt

Heleno Sana: Suche nach der besseren Welt

224 Seiten Taschenbuch € 8,90 ISBN 3-499-61458-8
224 Seiten
Taschenbuch
€ 8,90
ISBN 3-499-61458-8

Daniela Dahn ist aus mehreren Gründen mit dem gegenwärtigen Zustand Deutschlands und der Welt nicht einverstanden – völlig zu Recht. Und warum sie so denkt und fühlt, darüber gibt sie Kunde in ihrem jüngsten Buch. Ein inhaltsreiches, mutiges, eminent brisantes Buch, in dem die Autorin gerade die Themen, Probleme und Sachverhalte zur Sprache bringt, die von der in den etablierten Medien herrschenden »Political Correctness« verschwiegen oder zu Gunsten der Macht instrumentalisiert werden: die Remilitarisierung der Politik, der wachsende Imperialismus in den USA, die verheerenden Folgen des neoliberalen Sozialdarwinismus, die Kolonisierung Ostdeutschlands durch Westdeutschland, die Zerstörung der Umwelt durch skrupellose Konzerne, die Angst der Menschen vor der Zukunft und ein langes Etcetera.
Und das ist das erste Verdienst von Frau Dahn: dass sie sich zur Interpretin all jener Menschen macht, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu Wort zu melden. Wie sonst in ihrer bisherigen schriftstellerischen, essayistischen Produktion auch, gehört ihr neuer Band zu der immer seltener werdenden aufklärerischen Tradition des »J’accuse« von Emile Zola: Schreiben als » Ich klage an!«; als freiwillige Verpflichtung zur Wahrheit, die an erster Stelle die Wahrheit der Leidenden ist.
Wer, aus welchen Gründen auch immer, Opfer der bestehenden Weltverhältnisse geworden ist, wird sich mit diesem Buch auf jeden Fall verstanden, begleitet, viel-leicht auch, dem Beispiel der Autorin folgend, zum »Widerspruch angestiftet« fühlen. »Kritisieren heißt, sich verantwortlich fühlen«, schreibt die Verfasserin, eine Aussage die den motivisch archimedischen Punkt ihrer Auseinandersetzung mit den Übeln in und außerhalb Deutschlands bildet. Man kann nicht besser und präziser den kausalen Zusammenhang zum Ausdruck bringen, der zwischen Dissens und persönlichem Engagement für eine gerechtere, humanere Welt besteht. Und damit bleibt Dahn mit dem kritisch-humanistischen Anliegen der Aufklärung verbunden.
Man braucht zum Beispiel nur an die zentrale Rolle zu denken, die das »Prinzip Verantwortung« im Gesamtwerk des Philosophen Hans Jonas spielt. Oder man denke ans Grundsätzliche, das John Dewey in seinem Werk »Lectures on ethics« zwischen Moral, Verantwortung und Freiheit herstellt: »In the full sense, only the moral man is responsible and free«. Dass nur der moralisch denkende und handelnde Mensch wahrhaft frei sei – dies ist auch der Weg, dem die Berliner Schriftstellerin folgt, nur dass sie sich dabei mehr auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen als auf spekulative Theorien stützt.
Denn auch dies ist einer der Vorzüge ihres Buches: die persönliche Nähe zu den Themen, die sie angehen und über die sie berichtet. Daniela Dahn sitzt nicht nur an ihrem Schreibtisch; sie recherchiert, sucht die Wahrheit an Ort und Stelle, ist oft unterwegs, holt sich die Meinung von Experten, bemüht sich um einen unmittelbaren Zugang zu den Dingen, Geschehnissen und Menschen, die sie gerade beschäftigen. Daher auch die stets sachlich fundierte, direkte Art ihres Diskurses.
Die Aufklärungsarbeit von Daniela Dahn konzentriert sich an erster Stelle auf
die innerdeutsche Problematik, was schon aus rein autobiografischen Gründen naheliegend ist. Immer wieder wird aus den verschiedenen Perspektiven dokumentiert, in welchem Ausmaß und mit welch selbstgefälliger Selbstverständlichkeit die Westdeutschen – oder ein bestimmter Teil von ihnen – ihre einstigen »Brüder und Schwestern« aus dem Osten bevormunden, sie über ihre eigene Geschichte belehren und ihnen vorschreiben, was sie zu denken haben und: was Wahrheit sei. Daniela Dahn, die schon als Bürgerin der DDR den Mut hatte, gegebenenfalls Nein zu sagen, erhebt ihre Stimme gegen die westdeutsche Anmaßung, schreibt in diesem Kontext: »Geschichtsschreibung ist die Summe der Lügen, auf die sich die Mehrheit einigt«.
Das wusste schon Napoleon. Demnach wäre deutsche Geschichtsschreibung zur Zeit die Summe der Lügen, auf die sich die westdeutsche Mehrheit stützt. Die Autorin erinnert auch an die von der Treuhand und den westdeutschen Großkonzernen und Großbanken durchgeführte wirtschaftliche Entmündigung der DDR: »Die Ostdeutschen sind heute der Bevölkerungsteil in Europa, dem am wenigsten von dem Boden gehört, auf dem er lebt«. Oder auch: »Die neuen Bundesländer sind heute viel weniger in der Lage, sich selbst zu versorgen, viel verschuldeter und bankrotter, als die DDR je war«. Das ist das Fazit, das sie aus den von Helmut Kohl versprochenen »blühenden Landschaften« zieht.
Daniela Dahn ist keine doktrinäre Berufspazifistin. Entsprechend bejaht sie das Recht auf Selbstverteidigung. Das hindert sie nicht daran, den Krieg zu verabscheuen und ihn leidenschaftlich abzulehnen. In diesem Zusammenhang würdigt sie die antikriegerische Haltung von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zitiert Thomas Mann: »Krieg ist nichts als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens«. Sie selbst sagt: »Krieg ist immer Versagen von Politik«, eine Aussage, die angesichts des bevorstehenden und kaum abzuwenden-den »bellum punitivum« der USA und ihrer Lakaien gegen den Irak sich wieder einmal in vollem Umfang bewahrheitet.
Mahnend und auf Deutschland gerichtet, schreibt sie: »Es gibt auch eine Mitverantwortung für Kriege, die nicht von eigenem Boden ausgehen«. Sie zögert auch nicht, den Krieg als »die exzessivste Form des Terrorismus« anzuprangern. Selbst-verständlich verurteilt sie den neu entstandenen fundamentalistischen Terrorismus, allerdings ohne dabei zu versäumen, das guten Gewissen des Westens schonungslos zu entlarven: »Der Terrorismus ist kein Angriff auf westliche Grundwerte, sondern auf deren Nichteinhaltung. Es ist kein Angriff auf die Zivilisation, sondern auf deren unzivilisierte Kehrseite«. Auch gegen »den Terrorismus der Ökonomie« zieht sie zu Felde. »Das Geschäft ist zur Seele der westlichen Zivilisation«, geworden, stellt sie fest, um gleich gegen diese traurige, schändliche Realität Stellung zu nehmen: »Der Wert eines Menschenlebens darf nicht mit dem Pro-Kopf-Einkommen verwechselt werden«.
Aber gerade, weil der Mensch vom System zur Ware degradiert worden ist, gerade deshalb lebt er im Zustand der Verunsicherung und der Angst, ein Sachverhalt, den Daniela Dahn, gestützt auf die Kenntnisse und die Aussagen des Facharztes für
Neurologie und Psychiatrie, Gert-Jürgen Fischer, gründlich untersucht hat. »Im Os-ten sind die Leute jetzt kranker als vor der Wende«, erfährt sie von ihm. »Und das nicht nur, weil Allergien enorm zugenommen haben. Der soziale Faktor ist über-mächtig geworden«. Dann gibt sie eine Aussage von Dr. Fischer wieder, die von ihr selbst stammen könnte: »Ich kann mit-unter die Erbarmungslosigkeit der christlichen Gesellschaft nicht fassen. Allerdings liegt es in unserer Rechtsprechung, die Welt nicht zum Vorhof der Hölle verkommen zu lassen. Sie so verlässlich zu gestalten, dass alle Menschen in der Lage sind, sich ihr täglich Brot selbst zu geben, dass ihnen kein X für ein U vorgemacht wird und sie keinen Grund haben, sich anders als friedfertig zu verhalten«.
Daniela Dahn weiß aus eigener Erfahrung, dass Aufklärer »die Minderheit der Minderheit« geblieben sind. Das hier besprochene Buch beweist, dass sie sich von dieser Tatsache nicht entmutigen lässt und unbeirrt ihre selbstauferlegte Aufgabe als Verfechterin einer besseren Welt weiter erfüllt. Wahre Subjektivität und Humanität, hat Emmanuel Lévinas gesagt, ist immer Verantwortung für die anderen, »responsabilité pour autrui«. Das ist auch die Haltung Daniela Dahns.
In einer Zeit, in der die meisten Menschen sich nur um ihre »Privacy« kümmern und die Angelegenheiten der »res publica« den Berufspolitikern überlassen, sorgt sie sich um das Los der Bedrängten und Benachteiligten und hat darüber hin-aus die Zivilcourage, den Mächtigen offen zu widersprechen und sie zur Rechenschaft zu ziehen. Das nenne ich politische Kultur, geistige Generosität und menschliches Format.