Wehe dem Sieger! SWR 2, Forum Buch, 7.6.09

SWR

Hermann Theißen über Daniela Dahn, Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2009, 301 Seiten

Theißen
In einem Spiegel Essay erinnerte der Sozialpsychologe Harald Welzer jüngst daran, dass historische Ereignisse zu dem Zeitpunkt, an dem sie stattfinden nur selten als solche erkannt werden. Mitunter wissen die Zeitgenossen allerdings, dass gerade Geschichte gemacht wird, nur ihre Deutung der Ereignisse erweist sich Jahrzehnte später als falsch. Mit dem Wendejahr 1989 könnte solch ein Geschichtsirrtum verbunden sein. Der Siegeszug des Westens schien vor 20 Jahren besiegelt, schreibt Welzer, aber inzwischen sei es durchaus möglich, dass Historiker in 50 Jahren den Beginn des Untergangs der Demokratien auf 1989 datieren würden und die aktuelle Finanzkrise als Stufe auf dem lange zuvor schon eingeläuteten Abstieg deuten könnten. Für die Publizistin Daniela Dahn besteht schon heute kein Zweifel daran, dass es seit 1989 mit der Demokratie, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Friedfertigkeit bergab geht.

O Ton CD 1 52:55
Worauf ich am wenigsten vorbereitet war, ich war auf manches vorbereitet, dass die Einheit über die Treuhand nach Gier organisiert wird, dass der Kapitalismus immer kapitalistischer wird – nach Marx hätte nichts anderes passieren dürfen , aber dass ich in ein Land komme, das in meiner Anwesenheit skrupellos einen Angriffskrieg führt, darauf war ich nicht vorbereitet. Die Lügen waren gegen Serbien so dreist wie gegen den Irak. Die hergestellte Verdummung, die hab ich hier völlig erlebt.

Theißen
Daniela Dahn beschreibt die Vereinigung als westlichen Beutezug, der die, wenn auch marode, aber immerhin funktionierende industrielle Infrastruktur der DDR vernichtete und die kulturelle Substanz Ostdeutschlands zerstörte, bei dem im Westen die Zahl der Millionäre und im Osten die der Arbeitslosen wuchs, der das Gleichheitsprinzip verletzte und alle ostdeutschen Errungenschaften ignorierte. Gleichwohl erklärt sie nicht den in die Bundesrepublik einverleibten Osten sondern den Westen zum Verlierer der Einheit.

O Ton Dahn CD 1 53.05
Das ist für mich das eigentliche Phänomen, dass der Westen im Moment seines Sieges anfängt unterzugehen, dass er aus seinem Sieg nichts machen kann. Im Moment, wo die Unfreiheit besiegt ist, begonnen wird, die eigene Freiheit abzubauen, im Moment, wo man kein Geld mehr in Rüstung stecken muss, die Armut beginnt. Es sind so viele Widersprüche hinter der Frage, warum der Sieger aus seinem Sieg nichts machen kann. Vielleicht auch, weil er unterschätzt hat, wie sehr die Systeme auch Teilgesellschaften waren und aufeinander über Konkurrenz und Unterstützung bezogen.

Theißen
Im Jahr 20 nach dem Fall der Mauer zieht die einstige Mitbegründerin der Bürgerrechtsbewegung „Demokratischer Aufbruch“ eine absolut negative Bilanz der deutschen Vereinigung. Sie fragt nach den Ursachen und Folgen der verfehlten Politik und sucht nach Alternativen. Ihr Buch sei „ein Buch des Zweifels“, schreibt Daniela Dahn am Ende ihrer „Einstimmung“, tatsächlich ist es eine mitunter zornige Kampfschrift, eine radikale Analyse mit essayistischen Anteilen, die auch auf Polemik nicht verzichtet. Und das ist gut so. Der Zweifel ist zwar der Motor jeder Erkenntnis, aber er lässt sich auch vortrefflich mit der „Ja, aber Attitüde“ kombinieren, die, da zum Jubel gerade nicht die rechte Zeit ist, die Festakte zum 60. Geburtstag der Republik prägen. Ja, heißt es da, der Kapitalismus stecke in der Krise, aber eine bessere Wirtschaftsordnung sei nicht in Sicht. Solches Abwiegeln liegt der vom Tagesspiegel einst als „radikale Selbstdenkerin“ apostrophierten Autorin fern.

O Ton Dahn, CD 2 31:39
Die Grundlogik des Kapitalismus, die Profitmaximierung ist ein totalitärer Ansatz, weil die gesamte Logik der Gesellschaft dem unterstellt wird. Das ist in manchen Zeiten besser abgebremst worden, gerade in Zeiten der Systemkonkurrenz. Aber es ist schon auffällig, dass die soziale Marktwirtschaft erst mit Entstehen des sozialistischen Weltsystems entstanden ist und mit deren Untergang auch wieder untergeht. Und es ist sehr die Frage, ob sie aus sich heraus überhaupt die Gene hat, eine soziale Gesellschaft bilden zu können. Da hab ich meine Zweifel.

Theißen
Zweifel, die durch die dramatische Zunahme von Alters- und Kinderarmut in den letzten beiden Jahrzehnten, durch die beschleunigte Umverteilung von unten nach oben, durch den Abbau sozialer Rechte und arbeitsrechtlicher Ansprüche zu Erkenntnissen werden. Die alte Bundesrepublik, so die Autorin, habe von der Existenz der DDR insofern profitiert, als die Konkurrenz der Systeme Sozial- und Integrationspolitik befördert, den an die Leine gelegten rheinischen Kapitalismus erst möglich gemacht habe.

Zitatorin
Erst 1989, mit dem zweifelsfreien Niedergang des Konkurrenten, setzte praktisch über Nacht die Großoffensive des Kapitalismus ein.

Theißen
Zwar waren schon vorher die Kapitalverkehrskontrollen gelockert und damit Spielräume für die für die aktuelle Krise wesentlich verantwortlichen Finanzspekulationen eröffnet worden, doch nach 1989 geriet das Kapital tatsächlich außer Rand und Band und es fand sich kein Widerstand. Nirgends. Unternehmensgewinne und vor allem die Einkommen aus Geldvermögen explodierten während Löhne und Gehälter real sanken. Die Politik war dabei behilflich, indem sie den Spitzensteuersatz senkte, die Börsenumsatzsteuer ebenso abschaffte wie die Vermögenssteuer, gleichzeitig aber die Arbeitslosenhilfe einstellte und die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds verkürzte. Während Hedgefonds legalisiert wurden, wurde der Kündigungsschutz gelockert, Leiharbeit zum Normalfall und der Niedriglohnsektor ausgeweitet. Die DDR war auch deshalb implodiert, weil dort viele so leben wollten wie im Westen. Doch als sie dann im Westen ankamen, gab es den Westen nicht mehr. Die Integrationsgesellschaft hatte sich in eine Gesellschaft der sozialen Exklusion verwandelt, was die Sehnsucht nach der Geborgenheit in einem fürsorglichen Staat beflügelte. Allerdings, so Daniela Dahn:

Zitatorin
Die Ostalgie vieler Ostdeutscher ist weniger der DDR verhaftet als dem Traum von einem Westen, der sich nicht erfüllte.

Theißen
Das ist auch die Grundhaltung, aus der heraus Daniela Dahn schreibt. Hier wird nicht die DDR verklärt oder zurück gerufen, hier wird soziale Demokratie eingefordert und eine Haltung kritisiert, die glaubt, die DDR mit Kampfbegriffen wie „Unrechtsstaat“ oder „totalitäre Diktatur“ hinlänglich beschrieben und erledigt zu haben. Die Mitherausgeberin der Wochenzeitung „Freitag“ lässt keinen Zweifel daran, dass die SED abgewirtschaftet hatte und ihre autoritäre Sozialismusvariante gescheitert war, dennoch, so schreibt sie, hätte eine Übernahme der in der DDR realisierten Mietpreisbindung, der Abschaffung des Berufsbeamtentums, des Vorrangs der Schiene vor der Straße, der einheitlichen Sozialversicherung oder ganzer Passagen des Familienrechts die ökologische, ökonomische, emanzipatorische und soziale Qualität der vereinigten Republik erhöhen können. Nichts davon wurde bei der Vereinigung aufgegriffen. Wenn heute im vereinten Deutschland etwas an die DDR erinnert, dann der Eifer mit dem Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung perfektioniert und auch in Betrieben geheimdienstartige Akten über Mitarbeiter angelegt werden. Eine wachsende Zahl von Menschen im Westen erlebt die deutsche Vereinigung als eine Geschichte des Verlustes, nicht nur von sozialer und ökonomischer Sicherheit, auch von politischer Kultur, von Freiheit und von bürgerschaftlichem Engagement. Daniela Dahn beschreibt diese Entwicklung aus der Perspektive einer Ostdeutschen, die 1989 gegen die bleiernen Verhältnisse in der DDR auf die Straße gegangen ist. Ihr Verlust ist eher die Enttäuschung über nicht genutzte Möglichkeiten zur Zivilisierung der Gesellschaft und zur Emanzipation des Individuums. Sollte sich der Frust der einen Seite mit dem der anderen Seite, so wie die Autorin das fordert, zu einer Renaissance revolutionären Denkens vereinigen, dann wächst wirklich zusammen, was zusammen gehört.