Eine Zensur findet nicht statt? – Rationalgalerie 17.06.09

Uli Gellermann:

Eine Zensur findet nicht statt, behauptet das Grundgesetz in seinem fünften Artikel, und wer etwas anderes zu bemerken glaubt, der ist ein Verschwörungstheoretiker. In keinem Feuilleton der großen Zeitungen des Landes ist eine Rezension des neuen Buches von Daniela Dahn „Wehe dem Sieger“ zu finden. Nun gibt es viele Bücher, wird der Unverschworene einwenden, die nicht besprochen werden und eine geheime Rezensions-Steuerungszentrale ist nirgends zu finden. Doch bei Dahns neuem Buch funktioniert die Selbstzensur des Feuilletons ganz einfach: Der normale Redakteur versteht es nicht. Und was der Redakteur nicht versteht, darüber schreibt er nicht.

Daniela Dahn schreibt vom möglichen System-Untergang, davon versteht sie was: Unmittelbar hat sie den Untergang der DDR erlebt, ihn als Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ sogar mit befördert. Ein anderes Mitglied dieser Oppositionsgruppe, Angela Merkel, wandelte den Untergang des scheinbaren Sozialismus in ihren persönlichen Aufstieg, Frau Dahn hat sich aus dieser Zeit ihren kritischen Verstand und diesen besonderen Ostblick bewahrt. Das ist jener Blick, der ohne jede Nostalgie erinnert, dass die DDR-Schule den Finnen, die im PISA-Ranking immer vorne liegen, als Modell diente, der Blick, der erstaunt fragt, warum Soldaten aus dem Osten bei Auslandseinsätzen weniger Sold bekommen als ihre Westkollegen, und der konsterniert konstatiert, dass inzwischen mehr Menschen von Arbeitslosengeld und anderen Transfers leben als von Arbeit.

Jetzt wendet sich der Feuilleton-Redakteur, der aus dem Westen kommt oder bis zur Kenntlichkeit an ihn angepasst ist, mit Grausen: Immer dieses Ostzeugs, sagt er sich, der staatlich existente Osten ist doch lange weg, wo ist das Neue, Frau Dahn? Heimtückisch, wie diese DDR-Oppostionellen sind, kommt die Dahn ihm dann mit Tatsachen. Wie jener, dass seit der Vereinigung jährlich etwa das Siebenfache der alten DDR-Staatsschulden in den Osten transferiert werden muss. Und dass ein altes DDR-Leitbild, die „soziale Gerechtigkeit“ zum wichtigsten Wert auch im Westen geworden ist und so der Westen zum Verlierer der Einheit geworden ist: „Der Sieger muss zahlen und büßt auch noch sein über Jahrzehnte gültiges Wertesystem ein.“

Siehste, sagt der Redakteur, hab ich doch immer gesagt: Ich zahle für den Osten, und dann kommen die mir mit Gerechtigkeit. Wenn er doch nur weiterlesen würde, zumindest bis zu dem schönen Satz der Dahn: „Die Freiheit ist immer auch die Freiheit des Autofahrers“, so formuliert sie spöttisch eine der West-Lebensweisheiten, um dann die Verlagerung des Güterverkehrs in der DDR von 77 Prozent (!) auf die Schiene zu loben und die umgekehrten Zahlen im vereinigten Deutschland zu kritisieren. Jetzt wird sie sich gleich noch dem Gesundheitswesen zuwenden, weiß der Redakteur und hat recht. Wer dann eines der dichten Portraits liest, die Daniela Dahn ihrem Buch beigegeben hat, diesmal über eine DDR-Gemeindeschwester, eine durch Vereinigung ausgestorbene Rasse, der wird dann bei der peinlichen Frage landen, warum die Verwaltungskosten der DDR-Sozialversicherung nicht einmal ein Siebtel der Verwaltungskosten der vielen schönen West-Krankenkassen betrugen.

So viel Zahlen! So viel Fakten! Ich komme doch vom Schöngeistigen, sagt der Redakteur, sollen sich doch die im Wirtschaftsteil gefälligst damit abgeben. Wie schade, dass es keinen Kriegsteil in den Zeitungen gibt, denn der wäre das echt Neue seit der Vereinigung. „Mein erster Angriffskrieg“ überschreibt die Autorin ein Kapitel, und tatsächlich, kaum zehn Jahre nach Ende der DDR wurde Jugoslawien bombardiert, wurde mit dem Gräuelmärchen vom Völkermord das Völkerrecht gebrochen und die Verfassung der Bundesrepublik zur Makulatur erklärt. Auf den Seiten der Feuilletons findet gerne Medienpolitik und -Analyse statt. Jetzt wäre der Herr Redakteur am Zug: Warum hat meine Zeitung in den 78 Tagen der Bombardierung jede Unsinnserklärung der Regierung nachgedruckt, wo war unser kritischer Verstand? Wie der wegmanipuliert wurde, ist bei Daniela Dahn nachzulesen, in der „Zeit“, der „Süddeutschen Zeitung“ oder der „FAZ“ bisher nicht.

„Ab wie viel Unrecht ist ein Staat ein Unrechtsstaat?“ fragt Daniela Dahn und nicht nur bei dieser Frage fällt ihr auf, dass der Wegfall eines konkurrierenden Systems die Wachsamkeit gegenüber dem Unrecht schwer beeinträchtigt. Das Unrecht eines Angriffskrieg findet im neuen Deutschland keine Richter, stellt sie fest und dazu passen wundersam die Einschränkungen der Demokratie durch den regierungsamtlichen Sicherheitswahn und der Abbau des Sozialstaates mit dem Argument haushälterischer Sparsamkeit. Ein Argument das natürlich nicht greift, wenn diese oder jene Bank diese oder jene Milliarde braucht. Und während sich das deutsche Feuilleton längst die Nachtmütze des Unabänderlichen übergezogen hat, veröffentlicht die Autorin diesen denkwürdigen Satz: „Wenn der Kapitalismus überleben will, muss er aufhören, er selbst zu sein“. Nun denkt mal schön.