Egon Bahr zur Buchpremiere von Daniela Dahn am 12. Mai in der Berliner Literaturwerkstatt
Egon Bahr: Einführung in Daniela Dahns „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“
In dieses Buch kann ich nur einführen. Zu einer Besprechung im Sinne einer
Rezension muss ich es mindestens noch einmal genau lesen, um die Zweifel zu
bestätigen oder auszuräumen, die Daniela Dahn selbst hat. Mein Verdacht ist,
sie könnte weitgehend Recht haben.
Die Betrachtung des letzten Jahrhunderts trifft zu: Es war seit der
Oktoberrevolution eine Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und
Kapitalismus, die „ihre Unvollkommenheiten unter dem Mantel der Konkurrenz
verbargen“, wie die Autorin findet. Schadnow analysierte nach dem Ende des
Ersten Weltkrieges ein imperialistisches und antidemokratisches Lager unter
Führung der USA und eine Antiimperialitisches und Demokratisches unter
Führung der Sowjetunion mit der Folgerung: „Alle Belange seien dem Konflikt
dieser Lager unterzuordnen“. Drei Generationen später formulierte Al Gore den
Entschluss der Freien Welt „die Niederlage des kommunistischen Systems zum
zentralen Organisationsprinzip der gesamten Gesellschaft“ zu machen. Jede
Seite agierte mit dem Blick auf die Andere. Dieser Kampf wurde nach dem
Krieg auf Deutschland und seine Teile übertragen. „Ohne Osten kein Westen“.
Die Zuspitzung der Konkurrenz ausgerechnet in der Mitte Europas bevorzugte
den Westen. Aber lange Zeit wussten das beide nicht so genau.
Unbezweifelbar stimmig ist ihre Analyse unseres Landes nach 20 Jahren der
Einheit. Die großartigen Erfolge, die wir in diesem Jahr feiern, können nicht
auslöschen, dass die noch großartigeren Erfolge der 40 Jahr vorher
angeknabbert, reduziert, in Frage gestellt, teilweise verloren gehen konnten.
Ihre Grundthese „Ohne Osten kein Westen“ heißt insofern in meiner
Übersetzung zunächst einmal: Nach 60 Jahren stellt die Bundesrepublik eine
Einheit dar, die ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten nur gemeinsam überwinden
kann. Wir haben zwar das oberste Ziel, die innere Einheit, das wir uns 1990
gesetzt haben, noch immer nicht erreicht, aber Arbeitslosigkeit,
Produktionseinbrüche und Finanzkrisen treffen den Staat insgesamt. Der Kitt
dieser Probleme trifft und bindet die ganze Gesellschaft. Sie wird verändert,
geschwächt oder gestärkt aus den vor uns liegenden Turbulenzen
herauskommen.
Das Buch hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. Vor einem
Jahr war die Finanzkrise noch nicht alarmierend, in einem Jahr wird
abschätzbar sein, ob die internationale Therapie ausreicht oder die
Befürchtungen der Autorin zutreffen. Gerade in den nächsten Monaten wird
man prüfen, ob die inflationären Rückblicke auf 20 oder 40 oder 60 Jahre
realistisch oder schönfärberisch sind.
„Ohne Osten kein Westen“ will nachweisen, was die Überheblichkeit des
Westens verspielt hat mit der Folge des schönen Zitats von La Fontaine „Jeder
übermütige Sieger arbeitet an seinem Untergang“. Die Rücksichtslosigkeit, mit
der die Westler den Osten erobert haben, führt Daniela Dahn nicht zu dem
Schluss, die Ostler seien die besseren Menschen. Sie hätten, wäre es
umgekehrt gekommen, nicht anders gehandelt. Die Autorin verkleinert auch
nicht die positiven Ergebnisse der Einheit, die Modernisierung der Städte und
Verkehrsstrukturen. Die Umwelt habe aufgeatmet. Die Reisen in alle Welt, den
gestiegenen Lebensstandard für die Mehrheit und die höheren Löhne und
Renten für viele. Aber das Lob kann ihre negative Bilanz nicht ändert: „Der
konservative Weg zur Einheit ist gescheitert.“ Es ist schändlich, dass 20 Jahre
nach der Einheit das Sonderrecht für unseren Osten nicht überwunden ist;
„dass nach 1990 mit den Kommunisten schlimmer umgegangen wurde, als
nach 1945 mit den Nazis“, wie Helmut Schmidt konstatierte. Dass das
Rückwirkungsverbot aufgehoben wurde und die Verjährungsfristen zweimal
verlängert wurden.
Zum Geburtsfehler der Einheit wurde der fundamentalistisch angewandte
wirtschaftsliberale Grundsatz: Rückgabe vor Entschädigung. Er hat unseren
Staat viel Geld und verlorene Zeit für den Aufbau gekostet. Außerdem hat
dieser Immobilienkrieg viele Menschen im Osten zermürbt und im Westen
enttäuscht.
Ein nachwirkendes falsches Geschichtsbild ließ der uninteressierte Westen zu,
indem er dem Osten gestattete, den Eindruck zu verbreiten, als sei die DDR ein
Stasi-Staat. Ich habe Helmut Kohl von dem Enquete-Ausschuss des
Bundestagstages sagen hören, er wüsste, was man mit den Akten machen
müsste. Leider wurde er nicht gefragt, ob damit vernichten oder für Jahre
verschliessen gemeint war. Jedenfalls teilte er mit Brandt die Auffassung, diese
Akten sollten nicht so benutzt werden, wie es dann geschah. Wäre Spanien so
verfahren, hätte es einen blutigen Bürgerkrieg gegeben. Die Jahrtausende alte
Erfahrung wurde missachtet, dass Versöhnung, gerade nach Kriegen und
innerpolitischen Umbrüchen verlangt, geschehenes Unrecht zu vergessen. Der
vergiftete Eindruck, die Mehrheit der Menschen in der DDR hätte für die Stasi
gearbeitet, wird nicht durch die Realität gedeckt: Der Stasi-Krake hat zu keinem
Zeitpunkt durch seinen Apparat mehr als 0,5% der Bürger erfasst. Das ist in absoluten Zahlen sehr
viel, aber 99,5% der Bevölkerung hat eben mehr als nur in Nischen gelebt,
geliebt, Kinder gezeugt, Karrieren geplant und zuletzt gestorben im
Bewusstsein, dass ihnen mehrere Bundeskanzler erklärt haben: Wir können
nicht sagen, wann die Einheit kommt.
Das Geflecht der Empfindungen in unserem Volk ist fast unlösbar. Jedenfalls
sind aus den Brüdern und Schwestern Ossis und Wessis geworden. Alarmieren
müsste die Abwanderung, die einmal „Abstimmung mit den Füßen“ genannt
wurde und die anhält, obwohl sie nicht mehr Honecker angelastet werden kann.
Dazu gehört der Leerstand von 15% aller Wohnungen, dazu gehört der
erschreckende Leistungsabstand zu den osteuropäischen Nachbarn. Die durchschnittlichen Zuwachsraten der Wirtschaftskraft erreichten mit 1,6% nicht einmal die Hälfte dessen, was Kroatien, Ungarn und Tschechien und ein knappes Drittel was Slowenien, Polen und Slowakei geschafft haben. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird also der Osten nicht aufholen, sondern bis zur Mitte des
Jahrhunderts auf den Abstand zurückfallen, der 1989 bestanden hat. Verluste
im Osten sind Verluste im Westen geworden, trotz der jährlichen 100 Milliarden
Transfermittel. Das ist in der augenblicklichen Situation kein populäres Thema.
Im Westen sieht man den Wohlstand dahinschwinden. Nach Erhebung
westlicher Institute will jeder vierte Westdeutsche die Mauer wiederhaben; im
Osten sind das nur halb so viele. Deutlich mehr West- als Ostdeutsche fühlen
sich als Verlierer; mehr Ost- als Westdeutsche als Gewinner, sogar als Sieger
der Einheit. Dabei muss der Transfer weitergehen. Am Osten kann man nicht
sparen; denn mindestens der Erhalt des Lebensstandards ist eine notwendige
Kompensation für verlorenes Selbstwertgefühl. Wenn der Wohlstand ausbleibt,
könnten sogar separatistische Unruhen nicht ausgeschlossen werden. Die
Mehrheit wird im Westen dauerhaft zur Kasse gebeten, während einige sich
durch die Einheit bereichert haben. Politische, gesellschaftliche, finanzielle und
wirtschaftliche Schäden im Osten sind solche im Westen. Es ist kein Zufall,
dass Gerechtigkeit als Wert eine durchaus gesamtdeutsche Spitzenposition
gewonnen hat.
Wenn gerade eine frühere Bürgerin der DDR wie Dahn konstatiert: „Der Westen
ist Verlierer der Einheit“, so geschieht das ohne jeden triumphierenden Unterton,
sondern ist der Diagnose eines Arztes vergleichbar.
Es gibt dafür keinen monokausalen Grund. Unter der provozierenden
Überschrift „Freiheitsvorsprung im Sozialismus“ blättert sie auf, was der Westen
als Mitgift der DDR für die Einheit vernachlässigt hat. Das beginnt mit der
Brechung des Bildungsprivilegs und dem Familiengesetzbuch von 1965 mit der
Gleichstellung der Frau, des unehelichen Kindes, das in der Bundesrepublik volles Erbrecht erst 33 Jahre später erhalten hat. Ich habe gelernt, dass die
DDR im Schuld- oder Zerrüttungsprinzip des Scheidungsrechts der BRD
ebenso voraus war, wie im Bereich des § 175, weshalb die Autorin einen Grund
sieht, „weshalb Ostdeutsche ganz gern und ganz freiwillig auch nach der
Wende im Freiraum ihres Atheismus geblieben sind“. Die fehlende Angst vor
Arbeitslosigkeit ist ein Thema für sich. Die Ostlosung „Ohne Arbeit keine
Freiheit“ umgeht nicht den Einwand der massiven versteckten Arbeitslosigkeit.
Aber von dort zur Angstgesellschaft reicht ein weites Feld. Vielleicht wird
Daniela Dahn einiges vorlesen, was es verdient, in das Bewusstsein der
Westdeutschen gehoben zu werden. Ich habe es jedenfalls nicht geschafft, die
Fülle zu bewältigen, die eine Einführung dieses Buches eigentlich verlangt. Das
interessante Kapitel über den Krieg gegen Jugoslawien ist die Lektüre wert, wie
ich insgesamt hoffe, genügend Neugier für das gesamte Werk geschaffen zu
haben.
Zum gesamtdeutschen Thema der Finanzkrise möchte ich eine Bemerkung
anfügen:
Ansammlung von Produkten und Geld, „Akkumulation“ genannt, ist älter das
das, was wir unter Kapitalismus verstehen. Beide Ausdrücke stammen aus dem
Lateinischen wie die Vokabel „Aktie“, also ein klagbarer Anspruch mit einem
Anteilsschein an einem Vermögen, für den Zinsen gezahlt werden. Vermehrung
und Anhäufung von Geld nach römischen Recht mit den dazu gehörenden
Bezeichnungen ist durch das ganze Mittelalter hindurch gebräuchlich gewesen
als nützliche, zweckmäßige, unentbehrliche Form der Wirtschaft und zwar in
einer selbstverständlichen Bindung von Produktion und Geld. Dieses System
erhielt mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert inhaltlich einen anderen
Charakter. Es entstand eine Spannung zwischen Geld und Arbeit, zwischen
Besitzenden und Lohnabhängigen, zwischen Wirtschaftsmächtigen und
Gewerkschaften im Dauerkampf um angemessene gerechte Beteiligung am
Zuwachs. Dabei stellt sich heraus, dass das Geld schneller wuchs, zumal es
leichter und einfacher Grenzen der Nationalstaaten überwand, als die abhängig
Beschäftigten, die ihren Erwerb als Arbeitnehmer in Wesentlichen nur dort
fanden, also nehmen mussten, wo sie wohnten. Aber grundsätzlich blieb das
System an ein vernünftiges Verhältnis zwischen Geld und Produktion
gebunden. Es konnte im System zu Verwerfungen und reparablen Krisen
kommen. Erst jetzt erleben wir eine Krise des Systems. Seine Degeneration
beruhte auf der Erfindung, Geld weitgehend frei von der Produktion leicht
vermehren zu können. Eine riesige Blase virtuellen Geldes stellte den
arroganten Versuch dar, sich im 21. Jahrhundert aus der 2000 Jahre alten
Verklammerung mit dem Kapitalismus frei machen zu können. Es ist die
Emanzipation der Finanzen von Kapital. Die Blase ist geplatzt. Die anmaßende
Gier zu schnellerem Reichtum zu kommen als die Produktion gestattet, hat
nicht nur Geldvermögen zerstört, sondern in der Folge auch die Produktion
schwer beschädigt. Die kalte Gier hat Shareholder enteignet und Millionen
Menschen das Einkommen gekürzt und in Angst vor Arbeitslosigkeit gestürzt.
Und das Ganze global, denn Gier ist kein amerikanisches Monopol.
Das Rezept der globalen Gesundung kann nur global sein und wird am relativ
einfachsten zu finden sein, wenn die Emanzipation des Geldes beseitigt wird,
also für die Welt und in den Nationalstaaten dafür gesorgt wird, dass keine neue
Geldblase entstehen kann, damit der Kapitalismus die natürliche Funktion der
Regelung zwischen Produktion und Geld wieder erfüllen kann, die er über die
letzten 2000 Jahre gehabt hat.
Ich kann nicht nur verstehen, dass der Kapitalismus reformbedürftig ist. Ich teile
die Analyse, die der amerikanische Milliardär Soros nach dem Ende des Ost-
West-Konflikts formuliert hat, wonach der Kapitalismus wie der Kommunismus
zugrunde gehen wird, falls er nicht reformfähig wird. Natürlich kann nicht
übersehen werden, dass die Finanzwelt schon wieder hofft, wenn die Staaten
und ihre Bürger die Banken gerettet haben, das unbehinderte Risikogeschäft
fortzusetzen, zu Lasten der Staaten und ihrer Bürger. Wenn der Boss der
Deutschen Bank sein 25%-Gewinnziel erneuert, gibt er ein Signal; denn kein
Wirtschaftssystem der Welt gestattet einen derartigen jährlichen Gewinn. Die
zweite Priorität ist also die Verhinderung einer neuen Blase künstlichen Geldes.
Dem Problem des reformbedürftigen Kapitalismus entgehen wir nicht, schon gar
nicht mit dem Blick auf China, wo Kapitalismus und Demokratie eben nicht
untrennbar sind.
Frau Dahn hat ihr Buch in einer aufregenden Situation geschrieben. Wir sind
Zeugen des faszinierenden Vorgangs einer Rückgewinnung des Primats der
Politik gegenüber der Wirtschaft. Nicht weniger interessant ist: Es handelt sich
nicht um das Ergebnis eines geplanten und abgestimmten Vorstoßes von
Regierungen, sondern um das Ergebnis eines ganz ungeplanten
Zusammenbruchs eines weltweit genossenen Finanzsystems, das seine
Trümmer zur Reparatur den Staaten vor die Füße geworfen hat. Es liegt nahe
bei dieser Gelegenheit noch ganz andere Dimensionen zu erörtern. Seit 20
Jahren hat der Club of Rome geschrieben, dass Demokratie und Marktwirtschaft
ungeeignet sein könnten, das Überleben der Menschheit zu garantieren. Mit
parlamentarischen Mitteln mehr Freiheit für die Mehrheit zu erstreiten, hat
Hannah Arendt schon gedacht. Michael Gorbatschow erinnert, dass er und die
sowjetische Führung riskiert hätten, sich selbst in Frage zu stellen und vermisst
nun im Westen die Dissidenten mit Mut gegenüber ihren eigenen Regierungen.
Es könnte also um einen „verfassungsgerechten Systemwechsel“ gehen.
Daniela Dahn hat ihren Text „Das Buch des Zweifels“ genannt. Das ist das
Gegenteil zu apodiktischen Feststellungen. Das ist eine Kunstform, mehr zu
wagen und offener Möglichkeiten erörtern zu können, als die Behauptung
gestatten würde, im Besitz der Wahrheit zu sein. Damit ist ihr ein großer Wurf
gelungen. Ihr bisher bestes Buch. Ich kann es wirklich empfehlen. Zumal sie vor widerwärtigen Heckenschützen nicht sicher sein kann, die nach der Methode vorgehen, von der Beschäftigung mit dem Inhalt abzulenken indem sie die Vergangenheit der Autorin diffamieren. Ich habe keine Ahnung, ob von ihr ein Bild in der Bluse der FDJ existiert; das könnte es auch von Angela Merkel geben. Beide haben das gleiche Recht, seither gewachsen zu sein und dazugelernt zu haben.
Der Glückwunsch zu der Warnung „Wehe der Sieger“ unterliegt einer
Einschränkung: Den Zweifel an dem, was ich zur Einführung des Buches
formuliert habe, nehme ich selbst in Anspruch, aber um ihn zu beseitigen, muss
ich das Ganze mindestens noch einmal lesen, aber das habe ich schon am
Anfang gesagt.