Spitzenzeit – Meinungen über Bücher

Meinungen über Bücher (WDR 06.04.2001), Gabriele Gillen
224 Seiten Taschenbuch € 7,90 ISBN 3-499-61117-1
224 Seiten Taschenbuch € 7,90 ISBN 3-499-61117-1

Bei meiner ersten Reise nach Berlin war ich fünfzehn Jahre alt Zusammen mit dreißig anderen Pubertierenden saß ich in einem von der evangelischen Kirche gecharterten Bus und in dem von meiner Mutter gepackten Rucksack warteten Stullen mit Nutella und Salami, hartgekochte Eier sowie Dutzende von Warnungen vor kinderfressenden DDR-Grenzbeamten. Meine Eltern wählten CDU, bewunderten Franz Josef Strauß und hielten schon die Mitgliedschaft in der SPD für einen Verstoß gegen das Strafgesetzbuch. Und Kommunisten? Die hatten nach ihrer Ansicht freiwillig die Mitgliedschaft in der menschlichen Gemeinschaft gegen das rote Parteibuch eingetauscht. Unser Wohnzimmer lag mitten im Kalten Krieg und das bedeutete heiße Auseinandersetzungen für eine heftig in den örtlichen Oberjuso verknallte Fünfzehnjährige. Dass mich meine Eltern überhaupt durch die Zone fahren ließen, verdankte ich einzig und allein einem der christlichen Vermittlung dienenenden Hausbesuch des die Reise begleitenden evangelischen Pfarrers_ dessen göttliche Segnung meine Eltern von seiner ideologischen Festigkeit überzeugt sein ließ. Mit geradezu katholischer Doppelbödigkeit versprach er im Namen des lmmerwährenden Heiligenkalenders den immerwährenden Schutz von Leib und Seele ihrer Tochter. Dass es unter den Heiligen von Sozialisten nur so wimmelt, ließ er im Wohnzimmer meiner Eltern unerwähnt. Und ich durfte mit nach Berlin.
in Helmstedt kamen sie leibhaftig in unseren Bus – zwei Grenzbeamte der DDR. Niemand wagte einen Mucks. Dabei waren die Grenzer freundlich und suchten das Gespräch. Mit bemühten Bemerkungen über die Kinderfotos in unseren Ausweisen oder onkelhaften Fragen nach unseren Berlin-Plänen. Wir blieben stumm. Eine falsche Bewegung und die Grenzbeamten würden uns in eine finstere Arrestzeile verfrachten. Doch plötzlich taten mir die beiden Männer schrecklich leid. Sie wirkten nicht gefährlich, sondern hilflos. Wir behandelten sie wie Monster und bestimmt waren sie dadurch verletzt. lch brach das Schweigen. Sagte irgendetwas über die vielen Busse, die zu kontrollieren seien, und über die viele Arbeit, die das bedeute.
[Die kommunistischen Kinderfresser lächelten mich an – und waren nur noch komische Erwachsene, die nicht wußten, wie sie mit Fünfzehnjährigen sprechen sollten.] Keiner von uns mußte seine Ferien in einem DDR-Gefängnis verbringen.

Für mich endete an diesem Tag der Kalte Krieg. ich war fünfzehn und hatte mit der Farbenlehre begonnen. Es gab mehr als Schwarz oder Weiß.
Daniela Dahn, 1949 geboren in Ostberlin, ab 1981 freie Autorin in der DDR, Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ und im Jahre 1999 Kurt-Tucholskv-
Preisträgerin, ist eine Meisterin der Farbenlehre. NachzuIesen ist das schon ihrem ersten Buch, erschienen 1980 im Mitteldeutschen Verlag in der DDR, das nun dank des Hamburger Rowohlt-Verlages wieder verfügbar ist. Mit altem Titel und neuer Unterzeile: „Spitzenzeit – Lebenszeichen aus einem gewesenen Land“.
Es ist ein liebenswertes Buch, weil es gleichzeitig heiter und moralisch ist; weit es das Prinzip des Sozialismus mit ernsthafter Zuneigung und die Praxis in der DDR mit sanfter und deshalb so entlarvender Ironie beschreibt; weil es weder den kalten Kriegern auf der einen, noch den kalten Kriegern auf der anderen Seite Argumentationshilfe bietet, sondern nur jenen, die die Welt zum Besseren verändern wollen.
Ich weiß, dass ein solches Anliegen im Jahre 2001, zwischen TV Total und galoppierendem Kapitalismus für lächerlich gehalten und als lächerlich behandelt wird. Wer sich unbedingt zum Clown machen will, muss sich nur mit einer Sonnenblume bewaffnen und „Schwerter zu Pflugscharen““ fordern. Doch schon immer war es die Strategie der Mächtigen und der Opportunisten, Unliebsames und ihr System Gefährdendes zu denunzieren, im Zweifelsfall als naiv. Doch nichts ist stärker als die kluge Mischung aus Ruhe und Wahrheitsliebe, aus Distanz und Selbstironie. Und nichts ist mutiger als der Platz zwischen den Stühlen. diesem Sinne ist Daniela Dahn eine kluge und eine mutige Frau.“
Studiert hat Daniela Dahn im „Roten Kloster“, wie die Journalistik-Sektion der Karl-Marx-Universität in Leipzig wegen ihrer ideologischen Schmalspurigkeit verlacht wurde, doch dort begegnete sie dem Schriftsteller Heinz Knobloch, einem Dozenten, der sich der Tradition von Tucholsky und Kisch, von Ossietzky und Benjamin, von Altenberg und Musil verpflichtet fühlte und diese Tradition in die DDR-Presselandschaft hinüberretten wollte…
„Mit mäßigem Erfolg“, schreibt Daniela Dahn ihrem aktuellen Nachwort: „Denn das Feuilleton, verwandt der Satire, Parabel, Groteske, Fabel, dem Prosagedicht und Gedankenspiel, blieb den Kulturredakteuren suspekt. So hatten auch die solcherart feuilletonistischen Texte von Daniela Dahn – kritische Reflexionen, ironische Fabeln, prüfende Fragen an die Bedingungen des Menschlichen oder literarische Miniaturen über die sozialistische Provinz, in der Regel keine Chance gedruckt zu werden. Durch Vermittlung von Heinz Knobloch konnten sie jedoch in dem nun wieder aufgelegten Buch „Spitzenzeit“ erscheinen.
„Ich atme auf beim Wiederlesen“, schreibt Daniela Dahn, „keine Gläubigkeit, kein falsches Pathos, keine Versöhnungsgesten…“ Genau das macht die Reise in das gewesene Land so aufregend und so dicht. Wir lesen Herausforderndes über die Anpassung, Spöttisches über Normerfüllung und Selbstbeweihräucherung, Ehrliches über die eigenen Fragen und Zweifel. Wem die Texte heute harmlos erscheinen, ist vielleicht schon durch die kreischenden Tabubrüche der Privatfernseltwelt abgestumpft oder will nicht wahrhaben, welch heftige Gegenreaktionen jene hervorrufen, die sich die Freiheit des Denkens erlauben. Und die Freiheit, an allem zu zweifeln.
Die Spielräume für solche Uberzeugungstäter sind nach der Wende nicht größer geworden