Wieder das Vergessen

Geschichte Angela Merkel besuchte das einstige KZ Dachau. Dass es nach 1945 Internierungslager und Strafgerichtshof der US-Amerikaner war, bleibt ein Tabu

Der Besuch der Kanzlerin in der KZ-Gedenkstätte Dachau war richtig und leider immer noch mutig. Hätte sie die Einladung eines der letzten noch lebenden einstigen KZ-Häftlinge, Max Mannheimer, etwa ausschlagen sollen? Das Thema gehört auch ins Bierzelt. War vielen Bayern das Gedenken doch jahrelang ein Dorn im Auge, wollten maßgebliche Kräfte der CSU das Gelände einebnen und die Ausstellung im Krematorium schließen lassen. Das Internationale Dachau-Komitee setzte sich durch, aber das Museum blieb für viele Jahre das einzige seiner Art in der Bundesrepublik. Dennoch waren die Fördermittel des bayrischen Kultusministeriums so gering, der Geld- und Personalmangel so groß, dass die Gedenkstätte trotz weltweitem Interesse in einem beklagenswerten Zustand war. Lange mussten die Besucher, die sich jährlich der Millionengrenze näherten, mit sechseinhalb Personalstellen bewältigt werden.

Beispiel Buchenwald

Erst als nach der Einheit großzügig Mittel für die Umgestaltung der einstigen KZ Buchenwald und Sachsenhausen bewilligt wurden, konnten auch die vernachlässigten westlichen Stätten Bergen-Belsen und Dachau ihre Ausstellungen modernisieren.

In Brandenburg und Thüringen waren sich Historikerkommissionen 1991 einig, dass das in der DDR praktizierte Verschweigen der sowjetischen Internierungslager zu überwinden sei. In Buchenwald entstand zu diesem Thema ein Dokumentenhaus mit 250 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Im Westen war das anders.

„Wir fordern jeden auf … darauf zu achten, dass Geschichtsverfälschung kein Raum hat“, sagte Angela Merkel vor ihrem Dachau-Besuch. Verfälschung ist auch, wenn bestimmte Themen keinen Raum haben. Die Erinnerungslücke im Osten ist geschlossen worden. Im Westen steht das noch aus. Denn auch die westlichen Sieger haben die Nazi-Lager weiterhin genutzt. Es wäre also noch mutiger, wenn die Kanzlerin bei ihrem Rundgang die Fehlstelle bemerkt hätte und sich gelegentlich entsprechend äußern würde. Denn die sowjetischen Speziallager hatten ihre Entsprechung bei den drei Westalliierten, was – wenn überhaupt – so beiläufig und verharmlosend wie möglich behandelt wird. 250 Quadratmeter in Buchenwald zu diesem Thema entsprechen 2,5 Quadratmeter unauffällige Papptafel in Dachau.

Der konservativ dominierten und finanzierten Geschichtsschreibung ist es gelungen, im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass es eine besondere Perfidie der Gulag erprobten Stalinisten war, die KZ einfach weiter zu betreiben. Doch die Nutzung ehemaliger Konzentrationslager für die Internierung schwer belasteter Nazis war keine Erfindung der Sowjets, sondern ist auf den Konferenzen der vier Alliierten in Teheran (1943) und Jalta (1945) beschlossen worden. Grundlage bildeten Funktionslisten, die schon im Oktober 1944 vom britisch-amerikanischen Oberkommando erstellt wurden. Darauf fanden sich alle, die im Verdacht standen, schwerste Verbrechen begangen zu haben. Wer weiß schon, dass auch die Amerikaner 15 einstige KZ´s, die Briten und die Franzosen je 10 mit Internierten füllten?

Gerade an der Neugestaltung von Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“ fällt auf, dass die deutsche Gedächtniskultur mit den NS-Verbrechen zwar zunehmend schonungslos ins Gericht geht, aber zur Justiz der Sieger bis heute kein souveränes Verhältnis hat. Ob in Torgau, Buchenwald, Friedrichsfelde oder Hohenschönhausen, immer gab es heftigen Streit zwischen Politikern, sich als zweitklassig behandelt fühlenden Opferverbänden und Historikern, der oft auch von Geschäftsinteressen überschattet war. Der nachträglich besiegte Sieger ist zur Anklage frei gegeben, während das unliebsame Verhalten des bald verbündeten Siegers aus dem offiziellen Geschichtsbild weitgehend getilgt ist.

Nach den offenbar genau geführten Personallisten saßen in den NKWD-Lagern 92.178 Inhaftierte, ein Drittel davon verstarb an Unterernährung und Krankheiten, seltener an Folgen von Repression. In den drei Westzonen pendeln sich die Schätzungen bei 250.000 Gefangenen ein. In dem Buch Die Internierungslager (Christa Schick, München 1988, S. 310) werden 115.000 vom Nachrichtendienst der US-Armee (CIC) „Automatisch Arrestierte“ genannt. Die Zahl der Verstorbenen ist für die drei Zonen nicht erfasst und heftig umstritten.

Hüten muss man sich sicher vor Geschichtsrevisionisten wie dem Kanadier James Bacque, der auf wissenschaftlichen Konferenzen mit der These Furore machte, Präsident Eisenhower hätte toleriert, dass im ersten Nachkriegsjahr in US-Kriegsgefangenenlagern an den Rheinwiesen, unter freiem Himmel, in Erdlöchern aus Schlamm, ohne ärztliche Versorgung, eine Million Deutsche verhungert seien. Die US-Geschichtsschreibung spricht von 5.000 Toten an den Rheinwiesen.

Richard Jägers Tiraden

Hüten muss man sich auch vor Zynikern wie dem einstigen SA-Mitglied und späteren Bundesjustizminister und langjährigem Vizepräsident des Bundestages Richard Jäger. Im Januar 1951 war er in Landsberg Redner einer Protestveranstaltung gegen die „Dachauer Prozesse“. Nach im Lager erhobenen 1.672 Anklagen wurden 426 Todesurteile gefällt, von denen 268 gegen die Hauptverantwortlichen im Holocaust vollstreckt wurden. Jäger sprach den USA ihren Anspruch ab, sich weiterhin Rechtsstatt zu nennen. Unter „Juden raus“-Rufen von den Versammelten, belehrte er die Amerikaner, dass „jedes Menschenleben heilig“ sei, die Hinrichtungen also auf gleicher Stufe stünden, wie „die Judenmorde“. „Zerschlagt nicht die heiligen Güter des Christentums“, sekundierte ihm sein Bundestagskollege Gebhard Seelos. Als wären die durch eignes Tun nicht längst zerschlagen. In den sechziger Jahren zerschlug sie Jäger ein weiteres Mal, als er für (vermutlich linke) subversive Delinquenten wieder die Einführung der Todesstrafe forderte.

Das unbefangene Agieren am Rande des moralischen Abgrundes war spätestens mit dem überwältigenden Erfolg des Buches Der Fragebogen legitimiert. Der Sohn preußischen Adels, Ernst von Salomon, wegen „Beihilfe zum Mord“ an Walter Rathenau vorbestraft, beschreibt darin seine demütigenden Lagererfahrungen nach dem Krieg. Mit kalter Gleichgültigkeit gegenüber der unfassbaren Dimension deutscher Verbrechen macht er sich lustig über das verfehlte Reeducation-Projekt der Amerikaner.

Sicher, dass – im Gegensatz zu den stalinistischen Praktiken – bei den Westalliierten alles hoch rechtsstaatlich zuging, ist kaum aufrecht zu erhalten. Wie im Nachkriegschaos gar nicht zu vermeiden, kam es in allen vier Zonen zu Verhaftungen Minderschuldiger – aus Unkenntnis, durch Missverständnisse, Übersetzungsfehler und jede Menge Denunziationen.

Als in Nürnberg die Anklage forderte, den Generalstab als Verbrecherorganisation zu erklären, fischte sich der Landshuter Resident-Officer aus den Entnazifizierungsurkunden übereifrig alles, was „Stab“ im Rang enthielt, Stabsapotheker, Stabsärzte, Stabsintendanten usw. und ließ sie verhaften. Als sich der Irrtum nach einigen Tagen herausstellte, blieben die, die saßen erst einmal sitzen.

Auch die Westalliierten haben zunächst lieber kleine Fische behalten, als versehentlich einen großen freizusetzen. Sie fürchteten Revolten, verübten doch Rechtsradikale nicht nur in Stuttgart und Esslingen Sprengstoffanschläge auf ihre Spruchkammern. Politische Gegner haben auch sie interniert, ob weniger als der NKWD nach seiner leidvollen Erfahrung mit der Wehrmacht im eignen Land ist denkbar, jedenfalls oft behauptet und nie bewiesen worden.

Zweifellos hat das Bedürfnis nach Strafe im kalten Krieg mit den sich abzeichnenden Systembündnissen bei den Westalliierten schneller nachgelassen als bei den Russen. Auch Schwerstverbrecher ließen sie schon nach ein, zwei Jahren laufen. Sie übergaben den Deutschen das letzte, bereits ziemlich leere Lager 1949. Aber ist milde Nachsicht mit den bestialischsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eigentlich ein Qualitätsmerkmal? Mussten die Opfer sich nicht verhöhnt fühlen? Moskauer Archive belegen, dass mehr als 70 Prozent der Internierten im Speziallager Buchenwald aktive Nazis waren.

Im Schockzustand

Eine souveräne Geschichtsbetrachtung gegenüber der Siegerjustiz wäre folgende Erkenntnis: Man kann nicht den größten Zivilisationsbruch aller Zeiten begehen und gleichzeitig erwarten, man hätte das zivilisatorische Vermögen des Gegners nicht ebenfalls beeinträchtigt. Man kann nicht die halbe Welt in Schutt und Asche legen, die Bevölkerung misshandeln, aushungern, vergasen, sich zu Tode arbeiten lassen, das internationale Recht verhöhnen .. und dann erwarten, dieses Monstergebaren habe Anspruch auf emotionslose, vorbildlich faire Verfahren.

Präsident Obama hat 2009 in seiner Rede in Buchenwald erwähnt, wie sein Großonkel, der das Konzentrationslager Ohrdruf mit befreite, noch bei seiner Rückkehr im Schockzustand war und monatelang unfähig zu normalem Familienleben blieb.

Als sich die amerikanischen Truppen Dachau näherten stießen sie vor den Toren des Lagers auf einen stinkenden, verriegelten Zug mit mehreren Tausend Leichen. Ein Transport aus Buchenwald, den die fliehenden SS-Aufseher einfach nicht mehr ausgeladen hatten. Die völlig unvorbereiteten jungen Amerikaner waren von diesem Anblick und dem der Häftlinge derart überfordert, dass sie wenig später mit 16 vermeintlichen SS-Leuten kurzen Prozess machten und sie standrechtlich erschossen.

Diese alternativlose Ausnahme- Rechtsprechung musste unvollkommen, ungeübt, angreifbar bleiben und ist genau so demütig zu akzeptieren. Alles andere ist die Fortsetzung deutscher Gründlichkeit im Irrtum. Wer bedingungslos kapituliert sollte nicht im Nachhinein Bedingungen stellen.

der Freitag vom 22.8.2013