Überrollt? Belebt? Bereichert? Vortrag in der Berliner Akademie der Künste vom 10.4.08

Die Wende und ihre Folgen -Symposium der Historischen Kommission der ARD

Da es hier um die Rolle von Rundfunk und Fernsehen in einer außergewöhnlichen historischen Situation geht, gestatten Sie mir zunächst eine persönliche Bemerkung. Ich bin eigentlich Fernsehjournalistin. Acht Jahre vor der Wende habe ich das Fernsehen der DDR und mit ihm den ganzen Journalismus verlassen, weil es keine die Macht kritisierende Medienöffentlichkeit gab. In der Literatur war der Spielraum zumindest etwas größer.

„Allein die Intellektuellen konnten und hatten diese Aufgabe zu erfüllen. Sie taten es gewiss mangelhaft, sie haben versagt, sie haben sich durch Gewalt oder Verführung korrumpieren lassen, und sie haben diese Aufgabe auch einigermaßen erfüllt“, fand Christoph Hein 1996 rückblickend.

Von der Tribüne der Großdemo am 4. November 1989 wurde zur Überraschung aller verkündet, das DDR-Fernsehen überträgt life. Erstmalig hatte sich so etwas wie eine ostdeutsche Öffentlichkeit konstituiert. Gesendete Runde Tische, Bürgerforen, die investigative Jugendsendung 1199 – nie zuvor hatte das DDR-Fernsehen solche Einschaltquoten. Als Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs und stellvertretende Vorsitzende der ersten unabhängigen Untersuchungskommission hatte auch ich eine Medienpräsens, wie nie zuvor. Und nie danach. Denn „der Mut und die Lust, mitzusprechen in der vereinten Demokratie, ist denen im Osten rasch wieder ausgetrieben worden. Christa Wolf hat sich von den Belehrungen aus dem Westen bis heute nicht recht erholt“, schrieb Gunter Hofmann in der Zeit. Und nicht nur sie.

Überrollt?

Rudolf Mühlfenzel, einstiger Wehrmachtsoffizier und nun Rundfunkbeauftragter für die neuen Bundesländer, befand, das DDR-Fernsehen habe 40 Jahre lang das stalinistische Unrechtssystem begleitet, womit ihm jede Berechtigung zum Weiterleben genommen sei. Großzügig entschied er: Das Sandmännchen darf bleiben.

Ähnlich undifferenziert wurde der gesamten DDR-Kunst vorgeworfen, egal ob Malerei, Literatur, Film oder Theater, dass sie dem Staat gedient und dessen Unrechtsregime unterstützt habe. Fast alle Netzwerke wurden zerschlagen, Autoren verloren ihre Lektoren, Dramaturgen, Germanisten, Kritiker und Literaturredakteure.

Selbst ein so prominenter Autor wie beispielsweise Ulrich Plenzdorf, einer der meistgedruckten Autoren des Suhrkamp-Verlages, im Westen als Kronzeuge für östliches Aufbegehren gegen alles Sture und Starre einst hochwillkommen, fühlte sich, gerade auch von den Fernsehsendern, die seit 1998 alle Stoffe von ihm ablehnten, „zur Ruhe gesetzt“. 2003 sagte er in einem Interview: „Ich habe diese Auseinandersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren“.

Angesichts solcher Praktiken, die die Menschen nicht nur in der Kultur, sondern praktisch in allen Lebensbereichen zu spüren bekamen, ist es nicht verwunderlich, dass Schriftsteller für das Verhalten der westlichen Abwickler scharfe Worte fanden. Wolfgang Hilbig erregte sich über die „Unzucht mit Abhängigen“, die erneut zum Verlust eigener Meinung durch Anpassungsdruck führe. Jurek Becker diagnostizierte eine gewisse „Fremdenfeindlichkeit zwischen Ost und West“, Christoph Hein sprach von „der Denunziation einer Bevölkerungsgruppe“ und Ulrich Plenzdorf fühlte sich an „Besatzerregime“ erinnert.

Heiner Müller befand, dass nach seinem Eindruck die Vereinigung zu einer Niveausenkung im gesamtkulturellen Bereich geführt hat. Und das nicht nur aus ökonomischen Gründen. „Auch durch die Form dieser Vereinigung, die natürlich eine Kolonisierung ist. Man hat hier einfach Entwicklungen abgeschnitten und eine ganze Struktur diskreditiert und paralysiert… Und dann muss sich das erst wieder zusammenraufen. Das kann lange dauern.“

Es dauert bis heute.

Belebt?

Jedes Verändern ist natürlich auch ein Beleben. Fragt sich nur für wen und wodurch. Kaum eine und einer der DDR-Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die in den Jahren der Teilung vom Westen nicht nur in hohen Auflagen gedruckt, sondern auch hoch gelobt und mit Einladungen und Preisen wohlbedacht wurden, hat die Jahre der Einheit unbeschadet überstanden. Die Dissidenz, die dem Westen so ausnehmend gut gefiel, solange sie auf die DDR gerichtet war, wurde, da sie auf das eigene Land überzugreifen drohte, nicht mehr erwünscht. Plötzlich wurde deutlich, dass sich viele dieser Autoren nicht vereinnahmen ließen, sondern sich einen fremden Blick bewahrt hatten.

Jurek Becker hatte 1990 (Neue Rundschau, Heft 1) einen kleinen „Einspruch gegen die große deutsche Euphorie“ verfasst: „Der real existierende Sozialismus geht unter, kein Zweifel. Um den Verlust braucht man nicht zu weinen, wenn man die tatsächliche Situation dieser Länder vor Augen hat und nicht die Fiktion, die ihre bisherigen Führer als Wirklichkeit ausgegeben haben. Der Westen hat gewonnen, das ist das Problem. Wir im Westen leben in Gesellschaften ohne Zielvorstellung. Wenn es doch so etwas wie ein Programm gibt, dann lautet es: Umsatz. Theoretisch lässt sich Umsatz so lange steigern, bis unsere Welt in Trümmern liegt, und wie es aussieht, wird genau das geschehen… Das wichtigste an den sozialistischen Ländern ist nichts Sichtbares, sondern eine Möglichkeit. .. Osteuropa kommt mir wie ein letzter Versuch vor.“

Heiner Müller, Ende der 80er Jahre in Ost und West der meistgespielte deutsche Dramatiker, hatte die DDR in einem seiner Gedichte seine „wütende Liebe“ genannt. Auch er kritisierte sie scharf und nahm sie dennoch an, als „Hoffnung auf das Andere“. Denn der Kapitalismus war für ihn nur die „andre Barbarei“. Das Problem war also die Alternativlosigkeit der Alternative. Hatte ihn jahrzehntelang die Kulturpolitik der DDR in zermürbende Konflikte gestürzt, so waren seine letzten Jahre gezeichnet von den von Medien verbreiteten bösartigen Attacken und Verdächtigungen der neuen Moral- und Kunstwächter des vereinten Deutschland. Er sprach von antikommunistischen Pogromen.

Was wohl störte nach 1989 so sehr an den eben noch gefeierten DDR-Schriftstellern? Allein der geschichtsträchtig belegte Umstand, dass die Sieger immer als erstes die kulturellen Identifikationsfiguren der Besiegten demontiert haben, ist keine hinreichende Erklärung. „Das einzige, was Kunst kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehsucht ist revolutionär“, hatte Heiner Müller in der Hörspielreihe des DLF „Partisanen der Utopie“ gesagt. Könnte es sein, dass im höchsten Moment des Sieges die Sehnsucht nach einem anderen Zustand der Welt nicht nur unwillkommen, sondern in höchstem Maße provozierend war? Wie Provokateure behandelt wurden die kritischen Autoren jedenfalls, das mögen manche belebend gefunden haben.

Stephan Hermlin gehörte zu den Skeptikern, die von jener Hoffnung auf das Andere nicht lassen wollten. Er sei von moralischen Beckmessern einer „ge-heimdienstlichen Behandlung“ unterzogen und „wie Freiwild gehetzt“ worden, hatte Günter Grass nach seinem Tod Medien und Verlagen vorgeworfen.

Stefan Heym hatte sich am weitesten in die Opposition gewagt.

Wie er als Alterspräsident des Bundestages behandelt wurde, mag, dank der Fernsehpräsenz, deutlich in Erinnerung sein. Diese Szenen warfen Schlaglichter auf die 1994 herrschende politische Kultur des Landes:

Abgeordnete, die sich beim Hereinkommen des Alterpräsidenten und jüdischen Schriftstellers von Weltruf, nicht von ihren Plätzen erheben, die während seiner altersweisen Rede über Toleranz gelangweilt in Akten blättern, schreiben oder mit finsteren Minen dasitzen und nicht klatschen.

Generell wurden Schriftsteller besonders gern angegriffen, wenn sie sich in die Nähe eines Amtes wagten. Ich will gar nicht von eigenen Erfahrungen reden.

Aber in Erinnerung dürfte die unsägliche Debatte um Christoph Heins Beru-fung zum Intendanten des Deutschen Theaters sein. „Ich bin am geistigen Klima gescheitert.“, sagte er, das absichtsvoll vergiftet, feindselig und diffamierend gewesen sei. Ausgerechnet Hein sollte für den „Mief des schlechten, alten Ostens“ verantwortlich gemacht werden.

Und als Volker Braun der derzeitige Literaturchef der Akademie der Künste wurde, sollte er sich vor einigen Kollegen für ein Gedicht verantworten, für das er schon in der DDR angegriffen wurde. Sie schreckten nicht davor zurück, ihn als widerwärtigen Höhner und Menschenverachter zu verunglimpfen, was zum Glück in den großen Feuilletons nicht unwidersprochen blieb.

Waren es in Wahrheit Sätze wie diese, die ihm die Anfeindung eingebracht hatten:

„Das Schreiben auf die Veränderung hin konnte nicht haltmachen vor der Zerstörung des Sozialismus, die ich nicht wollte, aber zeigen musste. .. Auch mein Ort ist versunken, planiert und privatisiert wie die Gemüter. Der schmale Grat, auf dem ich ging mit meinen Seilschaften. Es ist jetzt unsere Niederlage, die wir errungen haben, mein Gelingen, das ein Scheitern ist, unsere nicht ohne Gelächter zu rekapitulierende Lage. Denn auch das Verschwinden beweist nichts.“

In einem seiner letzten Texte beschrieb Ulrich Plenzdorf sein anhaltendes Erstaunen darüber, mit welcher Vehemenz nach 1990 ein Teil des Volkes auf den unterlegenen, kleineren einschlug. Er zitierte einen Spruch seiner Mutter: Wat, du Hund, du röchelst noch? Dann stech ich dir noch töter. Er röchelt noch – das ist der Punkt“, sagte er.

Soviel zum Thema Beleben.

Bereichert?

DDR-Literatur war auch vor der Wende im Westen schon präsent. Dass man dagegen all die Bücher, die im Literarischen Quartett, im Büchermarkt oder in der Sendung „Politische Literatur“ angepriesen wurden, nun auch im Osten kaufen konnte, war durchaus eine Bereicherung. Der Nachholbedarf war zunächst groß, die Ostautoren hatten das Nachsehen, zumal sie in jenen Sendungen eher selten vorkamen. Doch schon relativ bald besannen sich viele Leser wieder. Welche erwartete Bereicherung konnte es sein, die sie zu den vertrauten Handschriften zurückkehren ließ?

DDR-Autoren haben, nach der mehrfachen Erfahrung der zur Restauration erstarrten Revolution, öfter und deutlicher als ihre Westkollegen die Frage gestellt, ob eine andere Ordnung möglich ist.

Christa Wolf, in einer Rede auf dem Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (25.7.07 Berlin): „Wir leben in einer von Grund auf verkehrten Welt: In ökonomisches Denken gezwungen, unter dem Diktat der Profitmaximierung, schaffen wir die Instrumente zu unserer Selbstzerstörung…“. Und sie beklagt, „dass wir, das Tempo der Entwicklung immer weiter beschleunigend, dem Wahn hingegeben, dass im grenzenlosen Wachstum der Produktion materieller Güter Ersatz für Lebenssinn liegt, ein Verhängnis heraufbeschwören, vor dem wir lieber die Augen verschließen“.

Und in der Tat, mit solchen offensiven Positionen findet man sich in die Defensive gedrängt. An Literatur werden kaum mehr Ansprüche an gesellschaftliche Relevanz gestellt. Auch Politische Sach- und Essay-Bücher verkaufen sich in Deutschland heute schlechter als in der ehemaligen Bundesrepublik.

In der Eventkultur ist der Unterhaltungsroman angesagt, während das literarische unterliegt. Hansa-Verleger Michael Krüger weiß: „Der spannende Kampf zwischen Low and High Culture ist entscheiden. Die Low Culture ist das Paradigma der Stunde, an ihr wird Maß genommen.“

Und an diesem Maß wiederum hat das Fernsehprogramm ganz sicher seinen Anteil.

Die Zurücknahme kritischer Intelligenz in den Medien wird ergänzt von der an den Universitäten. In den Geistes- und Sozialwissenschaften werden die Lehrstühle in Pension gehender, kritischer Professoren nicht neu besetzt. Es herrscht der Opportunismus einer Universitätskultur, die gelernt hat, Sachzwänge zu akzeptieren. Eine Ästhetik des Widerstandes wird weder gelehrt, noch gefördert, noch belohnt. Nicht der Citoyen, sonder der Bour-geois ist das angestrebte Ideal der Mehrheit. War Bildung und Kultur früher ein Reflexionsraum der Gesamtgesellschaft, so wird sie immer mehr zur globalen Ware.

Doch das ist ein neues Thema. Ebenso wie der Umstand, dass inzwischen natürlich eine junge Autorengeneration nachgewachsen, deren Sichten mehr als bereichern. Und sei es um die Erkenntnis, dass auch sie ihren Dürrenmatt zu kennen scheinen:

„Wer eine Ware verkaufen will, muss den Markt studieren. Auch der Schriftsteller“. Den Markt beobachtend, lernt der Schriftsteller, sich listig zu äußern, nämlich „das Seine unter auferlegten Bedingungen zu schreiben“.

Die Sklavensprache des Marktes hat allen, auch den Jüngeren die Instrumente gezeigt. Ich will niemandem zu nahe treten, aber mir scheint, Ausnahmen bestätigen die Regel, die auferlegten Bedingungen sind weitgehend verinnerlicht. Die Figur des kritischen Intellektuellen wird eher lächerlich gemacht. Wegen ungünstiger Witterung findet die deutsche Revolution in der Ästhetik statt.

Wenn Alexander Block einst lästerte: „Die Lieblingsbeschäftigung der Intellektuellen ist, Protest zu erklären“, so sieht es seit einiger Zeit so aus, als ob Künstler und Wissenschaftler, bis auf Ausnahmen wiederum, nicht einmal mehr ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Als Bereicherung empfinde ich das nicht.