Homme entre trois ages? Harry Rowohlt zum 60. in: Der Große Bär und seine Gestirne, Zürich, März 2005

Homme entre trois ages?

Ja, große Ereignisse werfen ihre Schatten hinterher. Manchmal Schlagschatten. Manchmal nur den Schatten eines Schattens.

Es muss 1988 gewesen sein. Heute denkt man gleich an Endzeitstimmung, DDR, Wohl-fahrtsstaat, Jahrhundert und so. Aber nein, soviel Anfang war nie. Ein Brief von Rowohlt? Wieso das, dachte ich als ahnungslose, frischgebackene oder frischgedruckte Luchterhand-Autorin. Der Brief war aber nicht vom Verlag, sondern von Harry. Um so besser. Ein uns beiden bekannter Genosse Dokumentarfilmer hatte meine Adresse vermittelt. Nun grüßte Sankt Pauli in brüderlicher Verbundenheit Prenzlauer Berg. Der Durchbruch. Die Mauer mor-schelte.

Zum Glück (wenn auch zu Unrecht) hatte mir wenig später der Unrechtsstaat ein Vier-wochen-Visum zu Studienzwecken zukommen lassen. Just als „der kongeniale Übersetzer“ im freien Teil der Stadt, in der Nähe des Savigni-Platzes vortrug. So begann ich mein drin-gend gebotenes Studium westlicher Fan-Gemeinden. Sie lauschten andächtig, wie man das selbst unstudiert von Fan-Gemeinden erwartet. Wenn mich meine damalige Andacht, in die ich unvermittelt mitverfiel, nicht trügt, deklamierte der Vortragskünstler aus: „At Swim-Two-Birds“ von Flann O´Brien, dem nach der Neuübersetzung „besten Buch der Welt“.

Anschließend an langer Tafel beim Italiener unterm S-Bahnbogen. Dass Harry Bier und Slivovice trank kann ja wohl nicht stimmen, Erinnerung krüüscht, andächtige erst recht.

Beschwören aber könnte ich, dass hier erstmalig der Wunsch geäußert und der Plan ausgeheckt wurde: Harry Rowohlt liest nicht einfach in Berlin, sondern in der Hauptstadt. Heute kein Kunststück, aber damals … Alle waren begeistert. Der Auftrag ging zwangsläufig an mich. Ich fürchtete ein wenig, alle Weststars wollen udomäßig und asbestignorant in den Palast der Republik, wo doch meine Beziehungen nur in den Franz-Club reichten.

Doch dank meiner Studienoptik entgingen mir spätestens nach dem dritten Grappa (?) kleine Unterschiede zwischen Weststar und weststur nicht. Als es Zeit wurde, zur letzten S-Bahn in die Hauptstadt aufzubrechen, begleitete mich Harry und hat mir wie ein Ehrenämtler von der Bahnhofsmission in den Zug geholfen. Ich fragte mich, ob mich je jemand zu einem S-Bahngleis geleitet hatte und mir leuchtete erneut Karl-Eduard von Schnitzlers Mahnung an seine Proleten ein: Es geht doch nichts über eine gutbürgerliche Erziehung.

Tatsächlich rührte ich bald irgendwas ein und an und teilte dies auf verspäteter Neujah-reskarte mit. Anfang (schon wieder Anfang, auch wenn es nur der März war) 1989 dann eine Schreibmaschinen-Antwort: Dank für Dein Schmuckblatt. Es hängt an Ullas Weihnachtstür – in Kniehöhe zwar nur, wegen des Zeitpunktes des Eintreffens, aber dafür ein ganzes Jahr lang… Ich freu mich auf jeden Fall auf die Lesung in BerlinHauptstadt und verbleibe mit frdl. RotFront.

Im Oktober 1989 dann: Na, Ihr macht ja Sachen. In der taz stand, wie glücklich die Brüder und Schwestern sich schätzen können, die dem Unrechtsregime hinter Mauer und Sta-cheldraht entronnen sind; darum sollte sich amnesty international mal kümmern; die Folter-spuren sieht man ihnen jetzt noch an: Fettleibigkeit und Dauerwelle… Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Nie wieder 2. Liga! Dein alter Harry (damals 44 Jahre alt).

Ja, die Ostler machten Sachen und ich machte mit, in Wirklichkeit nur, um die Sache hinauszuzögern, denn ich hatte meinen Auftrag noch nicht erfüllt. Wieder tauschten wir Sea-son´s Greetings, aber Übersetzer bleibt Übersetzer, Harry schickte „Grüsse der Jahreszeit“. Und im wendewütigen April 1990 musste ich kleinlaut einräumen: Deine Lesung ist, höre ich, auf Herbst verschoben. Ist wohl besser, denn im Moment läuft hier nichts mehr. Um dem Glaubwürdigkeit zu geben, setzte ich ganz originell noch ein westlich-demokratisches: Rien ne va plus dahinter. Ich wollte, dass auch ein Englisch-Übersetzer mal sieht, wie es ist, wenn man was nicht versteht. Doch da fiel mir ein, dass dieser Kerl sich selbst als ein homme entre deux ages, beschrieben hatte, der die Damen noch und die Bücher schon wahrnimmt. Mit ei-nem fsjo budjet wäre ich sowohl im Sinne meiner retourgekutschten Sprachkomplexe, als auch im Sinne meines Auftrages, erfolgreicher gewesen. Aber eine solche Zusage war poli-tisch schon nicht mehr seriös: Das östliche Streben ging zunächst nach irrigem Blühen und nicht nach irischen Lesungen. Vorerst kein va und kein plus.

Der Rest ist schnell erzählt.

An eine zur damaligen Zeit tobende Rowohlt-Fété (nicht auf der Messe, sondern in der Eppendorfer Landstraße) habe ich zwei, nein drei Erinnerungen: Jemand machte die Bemer-kung, es sei ziemlich crowded. Ich könnte heute nicht mehr sagen, weshalb diese Äußerung in mir Assoziationen auslöste zu dem auf dem üppigen kalten Buffet befindlichen Rohkostsalat. (Ein typischer Ostbegriff, der das ganze entbehrungsreiche Elend illustriert: als ob es auch einen nichtrohen Salat gäbe, der obendrein nicht verköstigt würde.) Im Westen muss der Sa-lat tatsächlich noch etwas roher sein, staunte ich, hier die große Schüssel bunter Blätter, knack, knack, frisch, frisch wie Kaninchenfutter, daneben ein Krug mit Dressing. Und daneben ein Typ vom Spiegel, mit der Gabel im Frischen stochernd: Nirgendwo könne man derzeit so billig Land aufkaufen wie in der Ehemaligen. Wäre Harry in der Nähe gewesen, er wäre mit seinem frdl. RotFront dazwischen gegangen, das weiß ich.

Die Front blieb lieber freundlich als rot und die ehemalige Hauptstadt versank ohne sich von und mit Harry zu verabschieden. Typisch Unrechtssystem. Derweil die einen Land auf-kauften, holte Mike Naumann, den Harry schon deshalb mag, weil er in Dublin studiert hat, mich doch noch zu Rowohlt, diesmal in den Verlag. Demokratie bedeutet eben Gerechtigkeit, dachte ich noch schnell. Die gleichen Chancen für die Neufünfländler und die aus den veralte-ten Bundesländern. Was schon das spektakuläre Wahlverhalten einer gewissen Skatrunde aus Sankt Pauli belegt, zu der dem Vernehmen nach auch ein Filmpenner und „Pooh´s Corner“ Kultautor gehören soll.

Jahre später. Harry hat es längst geschafft: Nie wieder 2. Liga! Wie sehr inzwischen ich im Westen angekommen bin, zeigt der Anlass eines Wiedersehens. Wir wollen im Mario Ganzoni anstoßen auf meine vor dem Hamburger Landgericht erfolgreich beschiedene Ver-leumdungsklage gegen die Springer-Bande. Als ich aus dem Taxi anrufe, versichert Harry, sich gleich auf den Weg zu machen: Ich zieh mir schnell noch die lange Unterhose an, sagt er. Nanu, denke ich, inzwischen ein homme entre trois ages? Doch manchmal haben komplizier-te Fragen schlichte Erklärungen. Es ist November und der Stammtisch steht im Freien. Doch ganz ist der Zweifel noch nicht ausgeräumt: Harry stößt mit Milchkaffee an. Bier hilft besser als Kamillentee, höre ich mich sagen. Doch da zückt er den Colt von John Rock, ganz jugend-licher Held in der „literarischen Form des Western“. Achtzig Prozent aller Literatur ist Rache, droht er. Bei mir sind es neunzig Prozent, widerspreche ich. Du hast auch mehr zu rächen, räumt er großzügig ein.

Und wieder bringt er mich zum Zug. Ein Mann mit festen Grundsätzen.