Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein. Festrede zum 25. Jubiläum der Tucholsky-Gesellschaft, Blätter für deutsche und internationale Literatur 12/2013

„Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein“

Was Schriftsteller bewirken können – ein Erfahrungsbericht
Von Daniela Dahn

Geist und Macht – ein oft und immer wieder kontrovers diskutiertes Thema. Lässt sich schreibend auf Politik und Gesellschaft Einfluss nehmen? Wenn es dabei um die Wirkung von Büchern geht, dann sollten eigentlich Leser darüber befinden. Denn Autoren neigen zwangsläufig, schon um ihre Schreibmotivation nicht zu verlieren, zu der Annahme von ziemlich großer Wichtigkeit ihres Tuns. In meinem Alter kann man sich langsam Ernüchterung leisten – mein Glauben an die Wirksamkeit von Literatur hält sich in überschaubaren Grenzen. Was nicht heißt, dass ich mich durch Befunde anderer nicht gern auch ermutigen lasse.

„Das Einzige, was Kunst kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und diese Sehnsucht ist revolutionär.“ So war Heiner Müller überzeugt, der selbst erfahren hatte, was es bedeutet, erst verboten, dann in Ost und West kulthaft verehrt und meistgespielt zu sein, um bei gewendeter Lage auch wieder angegriffen und denunziert zu werden.

Solange es Literatur gibt, solange gibt es dieses utopische Potential einer menschlicheren Gesellschaft. Und solange haben Mächtige sich vor Schriften gefürchtet, haben Zensoren eingesetzt, Ketzer inquisitorisch verfolgt. Bis hin zum barbarischen Bücherverbrennen durch die Nazis, beschämend bis heute. Auch Kurt Tucholskys Schriften gingen in den Flammen auf.

Wer also von einer Festrede zum Jubiläum der Tucholsky-Gesellschaft selbstredend heitere Pointen erwartet, wird angesichts des mir gestellten Themas enttäuscht werden. Was Tucholsky gar nicht mochte, war, den Bürgerschreck durch Scherze und Lobhudelei als Bürgerliebling zu vereinnahmen.

Tucholskys kurzes Leben war schwierigen Zeiten ausgesetzt: Erster Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Faschismus. Und selbst in den angeblich goldenen Zwanzigern, nämlich 1924, wusste er: „Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung“.

Der politische Tucholsky gerät zunehmend in Vergessenheit, befindet die Kennerin seines Werkes, Susanna Böhme-Kuby, wohingegen seine unterhaltsamen Couplets und kabarettistischen Einlagen bei gehobenen Feierlichkeiten als bildungsbürgerliches Sahnehäubchen nach wie vor beliebt sind.

Aus dem Bewusstsein gefallen ist dagegen seine Polemik gegen Sozialdemokraten wie Noske und Ebert oder seine Artikelreihe „Militaria“, nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg in der Weltbühne veröffentlicht: „Aus vielen Zuschriften an den Herausgeber und mich geht hervor, dass die völlige Ablehnung des Militärs den Deutschen ins innerste Herz trifft.“ Er sagt: „Ja – aber“, und ich sage: “Nein!“. […] Durch stete Wiederholung sind die alten schlechten Grundsätze der deutschen Armee in die Köpfe getrommelt worden: Der Vorgesetzte hat immer recht; Dienst ist Dienst (und Recht ist Unrecht); jede Dienststellung dient zunächst der persönlichen Bequemlichkeit. […] Nicht das ist so empörend, dass täglich die schlimmsten Übergriffe vorgekommen sind – sondern, dass sich keiner beschwerte, weil er die Nutzlosigkeit seiner Beschwerde von vornherein einsah, und dass das Offizierskorps noch den letzten Verbrecher hielt – aus Gründen der Disziplin. Wo ist der überzeugte Militarist, der etwa befürwortet hätte: Jeder Offizier, der seine Dienstgewalt missbraucht, ist vor der Front zu degradieren!? […] Was not tut ist, dass das Rechtsbewusstsein des Volkes wieder erwacht.“

Eben diese Notwendigkeit hat sich in der Weimarer Republik nicht erfüllt, Tucholsky galt als enttäuschter Idealist. Und er war damit nicht allein. George Grosz schrieb 1925; es sei die „unausgesprochene Hoffnung jedes Künstlers, der auf künftige Anerkennung rechnet, dass die Menschen neue Maßstäbe und Urteile finden werden“.

Tatsächlich klammerte sich auch Tucholsky an die Hoffnung, Kultur werde die Barbarei nicht nur überleben, sondern verhindern. Ende der 20er Jahre wurde ihm jedoch klar, dass seine journalistisch-literarische Aufklärungsarbeit den Trend der deutschen Gesellschaft nach Rechts nicht verhindern würde. Am Scheitern der Weimarer Republik hatten die konstruktiv kritischen Autoren aus seiner Sicht ihren Anteil; nicht weil sie zu viel, sondern weil sie zu wenig Wirkung hatten.

Kann Kunst Barbarei verhindern?

Könnte dies nicht heute wieder zum Problem werden, da die repräsentative Demokratie immer weniger in der Lage ist, den verwildernden Kapitalismus zu zähmen, und immer mehr zur Attrappen-Demokratie verkommt, hinter deren Fassade sich eine Oligarchie ungeniert bereichert? In Zeiten, in denen die Menschen durch Brot und Spiele zerstreut und durch die Dominanz der von den Privateigentümern finanzierten Verblödungsprogramme und Mainstream-Medien dem Denken in Zusammenhängen entwöhnt und entpolitisiert sind? Wo oberstes Gebot ist: Denke systemimmanent, denn jeder andere Gedanke ist undenkbar. Er ist des Teufels, denn die Verführung zu eigenen Fragen endet bekanntlich mit der Vertreibung aus dem Paradies. Wer schweigt, der bleibt.

„Man kann für eine Majorität kämpfen, die von einer tyrannischen Minderheit unterdrückt wird. Man kann aber nicht einem Volk das Gegenteil predigen von dem, was es in seiner Mehrheit will“, schrieb Tucholsky 1933 an Walter Hasenclever.

Nachdem sich selbst der Jude Ullstein gezwungen sah, in seinem Verlag jüdische Mitarbeiter zu entlassen und 1933 die Weltbühne verboten wurde, hatte Tucholsky in Deutschland auch keine Publikationsmöglichkeit mehr. Sein Verdikt, sich als „aufgehörten Dichter“ zu verstehen, war tragische Konsequenz dieser gnadenlosen Zeit.

„Der Sozialismus wird erst siegen, wenn es ihn nicht mehr gibt“, prophezeite Tucholsky und empfahl: Von vorn, ganz von vorn anfangen. Nicht auf Stalin hören, so geht’s nicht. Nein, so ging´s nicht.

Nicht auf Stalin hören

Als nach dem Zweiten Weltkrieg, in der DDR, zunächst Intellektuelle und Schriftsteller wie Rudolf Herrnstadt, Ernst Bloch, Erich Loest, Wolfgang Harich oder später Rudolf Bahro von vorn anfangen wollten, da hat die jeweilige Macht dies stets zu verhindern gewusst. Sie wurden entlassen, gar verhaftet, ihre Bücher nicht gedruckt. Andere Autoren lösten heftige Debatten aus. Unangepassten war in der DDR große Aufmerksamkeit stets sicher. Bücher, Filme oder Theaterstücke waren oft der einzige öffentliche Raum, in dem politisch abweichende Meinungen zu Wort kamen. Sie bestanden auf subjektiver Authentizität und stärkten das ICH der Leser und des Publikums. Das verhalf ihnen zu erheblicher Resonanz. Autoren wie Heiner Müller, Ulrich Plenzdorf, Christa Wolf, Brigitte Reimann, Günter de Bruyn, Volker Braun, Wolfgang Kohlhase, Peter Hacks und manch andere haben so gewirkt.

Da ich ausdrücklich gebeten wurde, das Thema mit Blick auf eigene Erfahrungen zu erörtern, versuche ich, mich an so etwas wie Wirkung zu erinnern. Lustig machen kann man sich sowieso am besten über sich selbst.

In meinem ersten, 1980 veröffentlichten Band mit Kurzgeschichten ereiferte ich mich über das Ritual, in öffentlichen Anlagen und Gebäuden wie Tierpark oder Fernsehturm, einen soundsoviel Millionsten Jubiläumsgast aus dem Strom zu fischen und auszuzeichnen. Mich ärgerte, dass dies immer ein Mann war, den „umringt von seiner Ehefrau und den drei Töchtern“ oder „begleitet von seiner Gattin“ die Ehrung traf. Schon nach der ersten Nachauflage des Bändchens konnte ich ein PS anfügen, das anmerkte, es gäbe nunmehr nur noch JubilaRINNEN. Umrahmt von der Familie würden SIE von der Bevorzugung getroffen. „Die Praxis kann verändert werden, das Prinzip nicht – das ist unser Spielraum“, schloss ich damals mein PS.

Es ist natürlich töricht, den Wert von Geschriebenem an messbaren Folgen abrechnen zu wollen. Es macht die Sache nur klein. Dennoch neigen Autoren, in ihrem Drang nach Selbstbestätigung dazu, auch Tucholsky war davon nicht frei. An den Publizisten Franz Hammer schrieb er, wenn auch mit sichtbarem Augenzwinkern: „Das, worum mir manchmal so bange ist, ist die Wirkung meiner Arbeit. Hat sie eine? …. da schreibt man und arbeitet man – und was ereignet sich nun realiter in der Verwaltung? Gehen die Sadisten? Werden die Bürokraten entlassen?“

In der DDR durfte man bekanntlich wenig sagen, aber das wenige hatte oft konkrete Folgen. Das habe ich schon als Schülerin erfahren, als ein Grüppchen von uns auf einer großen Wandzeitung 1968 mit Dubcek und dem Prager Frühling sympathisierte, Ernst Fischer zitierend: „Wir brauchen eine Opposition innerhalb der Partei.“ Sofort wurden wir von den laufenden Abiturprüfungen ausgeschlossen und nach Vorladungen beim Bezirksschulrat schien es, als hätten wir die Schule zu verlassen. Aber dann wendete sich das Blatt und wegen überzogener Reaktionen und mangelnder pädagogischer Befähigung musste schließlich der Direktor gehen, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier.

In meinem Prenzlauer-Berg-Buch habe ich später einen Punker mit schwarzen Bundeswehr-Klamotten und himbeerrotem Hahnenkamm portraitiert, der es ablehnte, sich in irgendeine Norm pressen zu lassen. Er lebte in einer besetzten Wohnung, hatte die Lehre nach Schikanen geschmissen, wurde durch ein von der FDJ ausgehendes, generelles Verbot nicht in Jugendclubs gelassen und seine Band durfte nicht mehr spielen. Schließlich stellte er einen Ausreiseantrag, keinesfalls allerdings in die Bundesrepublik, weil es da nach allem, was er gehört habe, den Punkern noch schlechter ginge, sondern nach London. Nach einigen Querelen mit der Zensurbehörde ist die Schilderung dieses konkreten Falls von Ausgrenzung erschienen, nicht ohne den mir wichtigen Hinweis, dass es sich im Gegensatz zu Skinheads bei Punkern um linke Antifaschisten handele – was den Behörden offenbar völlig neu war. Wie mir der Punker erzählte, hat die FDJ ihre Jugendclubs später für seinesgleichen geöffnet. Noch später hat er die Villa seiner Eltern übernommen und ist zu meinem Kummer ziemlich brav geworden. Gelegentlich erreicht man das Gegenteil von dem, was man wollte.

Schriftsteller gegen Zensur

Auf dem Schriftstellerkongress im November 1987 in Ostberlin wandten sich einige Autoren unabgesprochen in parallelen Arbeitsgruppen gegen Zensur, die Rede von Christoph Hein schlug hohe Wellen. Davon nichts wissend, sagte ich als damals noch junge Kandidatin des Verbandes nicht ohne Herzklopfen in meiner Gruppe: „Es wird immer wieder unterstellt, dass bittere Wahrheiten einem verbitterten Weltbild entspringen und verbitterte Leser und Zuschauer zurücklassen. Das ist zynisch, weil inzwischen jeder weiß, dass die Leute gerade deshalb verbittert sind, weil sie Halbwahrheiten vorgesetzt kriegen, weil sie sich durch diese geistige Bevormundung gedemütigt, traurig, mutlos fühlen. Nichts ist doch mobilisierender, als dabei zu sein, wenn Belastendes, das bislang jeder für sich geschleppt hat, durch Öffentlich-Machen auf alle Schultern der nun Wissendürfenden verteilt wird. Wenn schon Schulterschluss, dann doch bitte dieser: Offenheit. […] Die Praktiken von Informationsverweigerung vor dem Schreiben und Zensur danach sind unwürdig für alle Beteiligten.“ Ich hätte diese Einlassungen längst vergessen, wenn nicht der Aufbauverlag den Kongress in einer zweibändigen Ausgabe dokumentiert hätte. Denn immerhin: Die Notwendigkeit einer Druckgenehmigung durch das Kulturministerium wurde nach diesem Kongress abgeschafft.

Im Herbst 1989 haben sich viele Beobachter aus dem Westen gefragt, wie das Wunder zu erklären sei, dass ein angeblich unmündig gehaltenes Volk mit so viel politischer Reife und Besonnenheit eine so friedliche Umkehr vollbracht hat. Wer dabei war, weiß, wie Wunder entstehen. Es gibt dafür rationale Erklärungen: Das Graswurzelgeflecht aus Gesprächskreisen, Kirchengemeinschaften, Friedens- und Umweltgruppen, die Kerzendemonstranten und Protestbriefschreiber, stand nach eigenen Angaben auch unter dem Eindruck einer Kunst, die die erwähnte, revolutionäre Sehnsucht weckte, nach einem anderen Zustand des Ichs und der Welt.

In seinen Frankfurter Vorlesungen beschrieb Jurek Becker 1989 die östlichen Literaturverhältnisse: „Bücher und Theaterstücke und Filme haben dort ungleich größere Folgen als hier im Westen, sie lösen Diskussionen aus und führen andauernd zu Auseinandersetzungen, wie sie hier kaum möglich sind.“ In den von den Lesern bevorzugten Büchern sei „der Platz zwischen den Zeilen bis zum letzten Millimeter vollgeschrieben.“ Solche Literatur verdanke ihre Wirkung zum großen Teil der Existenz der Zensur. Der Schriftsteller habe in der DDR Widerstandskämpfer zu sein, Bücher könnten nur dann respektabel sein, wenn sie dort für Unruhe sorgen.

„Dass Sie mich nicht falsch verstehen“, wandte sich Becker an die westlichen Kritiker: „Auch nach meiner Meinung ist die Produktion von Unruhe eine höchst sinnvolle Funktion von Büchern, wahrscheinlich ihre nützlichste. Nur kommt mir die Forderung danach heuchlerisch vor, wenn sie sozusagen territorial begrenzt ist. […] Oder haben Sie schon einmal einen bundesdeutschen Kritiker über das Buch eines bundesdeutschen Autors sagen hören: Alles gut und schön, allerdings steht er den Verhältnissen in seinem Land merkwürdig unkritisch gegenüber?“ Es herrsche vielmehr die Ansicht vor, ein westlicher Schriftsteller solle politische Angelegenheiten besser denen überlassen, die davon etwas verstehen. Politisches Engagement gelte als degoutant.

Wer von den schreibenden DDR-Dissidenten glaubte, er könne nun, unter den Bedingungen der Meinungsfreiheit, viel einfacher kritisch sein, erfuhr, dass Freiheit immer die Freiheit der Andersverdienenden ist. In dem Gesprächsfilm „Zeitschleifen“, den ich 1991 mit Christa Wolf drehte, erzählt sie von einem Kolloquium des Bertelsmann-Konzerns, auf dem ihr zu verstehen gegeben wurde, dass die Kampagne gegen sie nichts mit ihren Büchern und ihrer Vergangenheit zu tun habe, sondern mit ihren Aktivitäten in der Gegenwart. Die störten. Man wolle sie „aus dem Verkehr ziehen“, wofür diese andere politische Meinung desavouiert werden müsse. „Frau Wolf, Sie kriegen in diesem Staat kein Bein mehr auf die Erde“, wurde ihr hinter vorgehaltener Hand gesagt.

Wenn einige der oben genannten Autoren ein kritisches Bild der heutigen Zustände zeichnen, können sie kaum mit Lorbeeren in Form von zustimmenden Rezensionen oder Preisen rechnen. Nur ein Beispiel: Ullrich Plenzdorf, einer der meistgedruckten Autoren des Suhrkamp-Verlages, im Westen einst als Kronzeuge für östliches Aufbegehren gegen alles Sture und Starre hochwillkommen, fühlte sich bald nach der Wende „zur Ruhe gesetzt“. Gerade auch von den Fernsehsendern, die seit 1998 alle Stoffe von ihm ablehnten. 2003 sagte er in einem Interview: „Ich habe diese Auseinandersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren.“ In seinem letzten Text ging es um die erstaunliche Vehemenz, mit der ein Teil des Volkes 1990 auf den kleineren, unterlegenen einschlug. Er zitierte einen der Sprüche seiner Mutter: „Wat, du Hund, du röchelst noch? Dann stech ich dir noch töter. Er röchelt noch – das ist der Punkt“, schrieb er.

Das Fortwirken des Kalten Krieges

Anders ergeht es den Autoren, die den Spielregeln des kalten Krieges treu bleiben und weiter zustechen. Belohnt wird von all jenen, die ihre Vorurteile gern bestätigt sehen, wer mit detailreichen Erfindungen ein totalitäres Bild des Realsozialismus perpetuiert, in dem jeder Gedanke daran erstickt wird, dass dieses Gesellschaftsexperiment neben allen Irrwegen und Tragödien auch emanzipatorische Ansätze enthielt. Ansätze, die heute noch interessant wären und sogar in den Parteiprogrammen von SPD und Grünen als ewig unerfüllte Visionen herumspuken. Was sich in deren Parteisprache wörtlich so anhört: mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, Beteiligung aller am Produktivvermögen, Vergesellschaftung als demokratisches Element – Einschränkung der privaten Verfügung über Grund und Boden, Förderung des Genossenschaftsgedankens, Zurückdrängung des Einflusses von Banken und Versicherungen auf Grundentscheidungen der Wirtschaft, Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau und elternunabhängige Bildungschancen, Mietpreisbindung, Abschaffung des Berufsbeamtentums, konsequente Trennung von Kirche und Staat, keine Darstellung brutaler Gewalt in Medien, weg vom Autozwang durch preiswerten öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Vorrang der Schiene vor der Straße, Kunst und Kultur, die allen zugänglich ist.

Dagegen wird die DDR tapfer auf Alltagsunterdrückung reduziert. Im filmisch perfekt gemachten Oskar-Preisträger „Das Leben der Anderen“ darf es bei der Stasi etwas menscheln, aber die Geschicke aller liegen dennoch fest in deren harter Hand. An das Muster Verengung des Bildes auf Stasigruselland knüpft auch die ARD-Serie „Weißensee“ an, deren emotionale Repressionsgeschichten so quotenbringend sind, dass lauter neue Folgen geschrieben werden können.

Natürlich gibt es nicht nur eine Wirkung von Schriftstellern auf die Gesellschaft, sondern auch umgekehrt, von dieser auf die Schriftsteller. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat die „tiefe Abhängigkeit der intellektuellen und Künstler von den sie beschäftigenden Industrien“ beklagt. Künstler bedienten bewusst oder unbewusst marktgängige Klischees, um ihre Preis- und Absatzchancen zu erhöhen. Das hat auch Friedrich Dürrenmatt in seinem Essay „Schriftstellerei als Beruf“ beschrieben: „Wer eine Ware verkaufen will, muss den Markt studieren. Auch der Schriftsteller.“ Den Markt beobachtend, lernt der Schriftsteller, sich listig zu äußern, nämlich „das Seine unter auferlegten Bedingungen zu schreiben.“ Ingo Schulze hat mutig die Schieflage beschrieben, in die Autoren geraten, die das Sponsoring großer Konzerne annehmen. Das mag bei politischen Essay- und Sachbüchern am offensichtlichsten sein, selbst wenn auf den ersten Blick der Eindruck von großzügiger Toleranz erweckt wird.

Was hat etwa die deutsche Tochter des internationalen Energieriesen BP bewegt, ein Buch über soziale Protestbewegungen zu initiieren und zu finanzieren? Ein Konzern mit einem weltweiten Jahresumsatz von etwa 375 Milliarden Dollar, dem im „Schwarzbuch Markenfirmen“ schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden: Zerstörung der Lebensgrundlagen in Ölfördergebieten, Finanzierung von Bürgerkriegen, Waffenhandel und Kooperation mit Militärregimen. Herausgekommen ist laut Klappentext des Buches ein „tiefer Einblick in die Gedankenwelt der Aktivisten. Die pauschalisierende Diskussion über die ‚Wutbürger’ erhält damit endlich eine solide wissenschaftliche Grundlage“. Das Fazit des Buches läuft dann darauf hinaus, dass in Deutschland „Partizipation besonders hemmungslos verklärt“ wird. Wo doch die Weimarer Republik mit ihrer „problematischen Mobilisierung der Bürger“ ein Beispiel sei, wie „zivilgesellschaftliche Destruktionskräfte“ jenseits „von Staat und Parteienwesen“ keineswegs zur Stabilisierung von Demokratie beitragen müssen. Insofern wird erleichtert unterstellt, dass es den demonstrierenden Bürgern heute oft gar nicht „um eine große umstürzlerische Alternative“ ginge, sondern um „rechtzeitige systemimmanente Innovation, die andernfalls zu spät hätte kommen können“. Die Wut der Bürger kanalisiert sich also in der Sorge, das System könne womöglich nicht hinreichend stabilisiert werden. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.“

„Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“

In ihrem Werbeslogan hat eine Drogeriekette, vermutlich unfreiwillig, den hohlen Sinn des Daseins im Kapitalismus zynisch auf den Punkt gebracht: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“. Wir Bürger sollen unsere Freiheit gefälligst als Konsumenten ausleben. Das funktioniert ja leider auch recht gut.

In meinem jüngsten Buch „Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt“, habe ich dem geneigten Leser ein abgewandeltes Motto vorgeschlagen: Hier bin ich Mensch, hier greif ich ein. Um danach zu analysieren, wieso das System in der Lage ist, ungerührt alle Kritik und alle Occupy-Versuche abzuschütteln.

Weil nämlich die repräsentative Demokratie an Rechtsdefiziten krankt, die noch aus dem antiken Rom stammen und aus der Monarchie. Das Bürgerliche Gesetzbuch beruht in seinem Rechtsdenken vollkommen auf dem Römischen Recht, das Heinrich Heine als die „Bibel des Egoismus“ bezeichnete. Privare heißt Rauben. Dieser gepriesene Rechtskodex sei ihm als Jura-Studenten immer verhasst gewesen, weil er ermöglichte, dass Räuber ihren Raub durch Gesetze schützen. Was anderes wäre heute die Haftung der Bürger für die spekulierenden Anleger, die direkten Bankenhilfen durch den ESM?

Aus Achtung vor den bürgerlichen Werten stelle ich eine weitere morsch gewordene Grundstütze des Staatsrechts in Frage: Die aus der Monarchie stammende Konstruktion des „Staates als juristische Person“. Weil damit alle Staatsgewalt nicht, wie im Grundgesetz vorgesehen, vom Volk ausgeht, sondern von der Obrigkeit. Die die Souveränität unerlaubterweise an die Konzerne und Banken durchgereicht hat und nun strukturell nicht fähig und willens ist, sich von dieser selbsternannten Herrschaft zu befreien. Und ich erlaube mir, den Tucholsky von 1919 zu zitieren: „Politik kann man in diesem Land definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen mit Hilfe der Gesetzgebung.“

Diese Gesetzgebung hat dafür gesorgt, dass die im Grundgesetz vorgesehene Option von Gemeineigentum niemals verwirklicht wurde. Bund und Länder dürfen keine Eigentumsform außerhalb des BGB begründen, und dort ist ausschließlich Privateigentum vorgesehen. Das sogenannte Öffentliche Eigentum ist daher auch nur modifiziertes Privateigentum der juristischen Person Staat, also ein Etikettenschwindel. Die Öffentlichkeit hat keine Sachherrschaft, kein ins Grundbuch eintragungsfähiges Recht. Auch deshalb kann das System alle Einmischung abwehren.

Dagegen hilft nur der Ausbruch aus der Duldungsstarre durch die Selbstermächtigung der Aktivbürger. Die Wiederbelebung der gebundenen Mandate in einer Art Rätesystem könnte die Rückbindung an die Basis voran bringen. Die bisher nur in Berlin gegebene Möglichkeit der Volksgesetzgebung wäre bundesweit auszudehnen, Bürger gehören in die kommunalen Aufsichtsräte. Das eigentlich Revolutionäre muss in den zu erkämpfenden Verfassungen erkannt werden. Das wäre eine variierte Neuauflage von Tucholskys Wunsch, das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung möge wieder erwachen.

Überflüssig zu erwähnen, dass meine derart eingreifende Schrift in den großen, privaten Buchfilialen kaum präsent war und es in der überregionalen Presse keine nennenswerte Besprechung gab.

Der einstige Bundespräsident Köhler, der schließlich wegen seiner gelegentlich überraschend klaren Einsichten gehen musste, hat vor dem Deutschen Presserat einmal Karl Marx zitiert: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“.

Die Wirkung von Vorschlägen

Kann man als Autor unter diesen Bedingungen seine Leser erreichen – auch ohne oder gar gegen die Medien? Sicher weniger, aber ausgeschlossen ist es nicht. In meinem ersten Nachwendebuch habe ich die überstürzte Beitrittspolitik am Beispiel der Regelung der Eigentumsfrage grundsätzlich kritisiert und den Juristen gar Vorschläge gemacht, wie das verhängnisvolle Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ wenigstens noch abgemildert werden könnte. Erwartungsgemäß wurde das Buch im Westen öffentlich ignoriert. Aber hinter den Kulissen tat sich ja doch was, kamen doch ein Ministerialrat des Bundesjustizministeriums und sein Referatsleiter eigens von Bonn nach Berlin geflogen, um sich mit mir einen Tag lang zu streiten. Und bevor sie wieder zum Flughafen abdampften, haben wir nach oft lautstarken Fehden zugegeben, dass beide Seiten etwas gelernt haben.

Selbst aus Karlsruhe erreichte mich ein Hinweis, wonach zumindest in den unteren Etagen meine Thesen zur Kenntnis genommen würden. Und als ich der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bei einer gemeinsamen Podiumsdiskussion vor mehreren Tausend Besuchern des Hamburger Kirchentages das Buch schenken wollte, hat sie dankend abgelehnt – weil sie es nämlich bereits habe.

Dennoch, auch nach sechs Auflagen, die kein Jurist zu diesem Thema erreicht hat, bilde ich mir nicht ein, in irgendeinem Gesetz auch nur ein Komma verrückt zu haben. Dafür standen zu starke Lobby-Interessen dagegen. Dennoch konnte in Einzelfällen Betroffenen oder Bürgerinitiativen durch Klarstellung geholfen werden. Kurzum: Wer nie versucht hat, sich einzumischen, soll nicht behaupten, es ginge nicht.

Die rote Linie der Bundesrepublik

Als ich jedoch in den nächsten Büchern dazu überging, die nach dem Beitritt per Justiz betriebene Geschichtsaufarbeitung in Zweifel zu ziehen, war offensichtlich eine rote Linie erreicht. Der Spieß wurde umgedreht, ohne jeden konkreten Hinweis auf einen Grundgesetzartikel meine Verfassungstreue in Frage gestellt. Nach meiner medienwirksam begleiteten Ablehnung als Verfassungsrichterin in Brandenburg sagte ich in einer Presseerklärung: „Es irritiert mich, mit welcher Ängstlichkeit ich nun zurückgewiesen wurde. Verwöhnt durch unbegrenzte Narrenfreiheit auf den weitgehend wirkungslosen intellektuellen Spielwiesen, hatte ich nicht für möglich gehalten, wie viel angepasste Meinung in den Institutionen dieses Landes erwartet wird. Dass nicht nur mir dies wieder einmal deutlich demonstriert wurde, halte ich für keinen Gewinn.“

Auch in der Bundesrepublik darf man nicht alles sagen, und das obwohl alles Gesagte so gut wie keine Wirkung hat. Es folgte die Phase heftiger Angriffe, immerhin ein Zeichen dafür, dass ein Nerv getroffen wurde. Sieben Klagen gegen die Springerpresse wegen Verleumdung habe ich gewonnen. Das klingt einfacher als es war, denn im Presserecht gibt es keine Rechtsschutzversicherung, weil man nie weiß, wie es ausgeht.

Doch zum Glück gibt es in offeneren Gesellschaften immer auch Gegenkräfte – solidarische Mitstreiter haben versucht, mit Preisen einiges auszubügeln. Die Gegenseite nicht faul, hat sich bemüht, den Spaß zu verderben. Die CDU-Politikerin Hanna Renate Laurien hat ihre Luise-Schröder-Medaille unter Protest zurück gegeben, als mir der Preis zugesprochen wurde, und die Laudatorin Rita Süssmuth am Vorabend der Verleihung auf Druck ihrer Parteiführung abgesagt. Sie erinnern sich vielleicht, wie es bei den nach Kurt Tucholsky und Ludwig Börne benannten Preisen in der gegnerischen Presse jeweils hieß, diese Namensgeber würden sich ganz sicher im Grabe umdrehen.

Erst jüngst wurde mir für eine Anthologie zu August Bebel von einem lektorierenden Unternehmensberater mein nicht sonderlich unternehmerfreundlicher Beitrag abgelehnt. Erst als Günter Grass davon Wind bekam und „Zensur“ rief, wurde er doch noch aufgenommen.
Günter Grass, der letzte große Guru der Einmischung hierzulande, hat sich immer als Künstler und Bürger verstanden, ein Schriftsteller als Citoyen. Seine Wirkgeschichte ist begleitet von Skandalen und Verboten, von Tumulten bei Wahlveranstaltungen und aufgeregten Debatten und Verrissen zu beinahe jedem Buch, aber auch von Lobpreisungen und höchsten Auszeichnungen. Oder von dem jüngst erschienenen, 800 seitigen Briefwechsel mit Willy Brandt – in dem Grass seinen Zuhören könnenden, verehrten Parteifreund dennoch oft mehr als hart anging. Das Motto „Mehr Demokratie wagen“ entspringt diesem Gedankenaustausch. Wirkung also doch von Geist auf Macht? Die Macht erließ zu dieser Zeit den Radikalenerlass.

Auf die Paulskirchen-Rede von Günter Grass 1997, in der er der Regierung den todbringenden Handel mit deutschen Waffen für die Türkei vorwarf, die seit Jahren gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt würden, gab es hysterische Reaktionen aus der sich getroffen fühlenden CDU. Die damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin klagte, es habe sich wieder einmal gezeigt, „dass diejenigen, die in Bonn die Musik angeben, im Grunde genommen Intellektuelle und Dichter verachten“. Die Mächtigen der Politik wiesen ihrer Erfahrung nach den Intellektuellen eine rein schmückende Rolle für PR-Empfänge und Gala-Diners zu. Wenig später hatten wir Rot-Grün, aber nicht mehr Achtung, sondern mehr Gala-Diners.

Gerechtigkeitshalber sei darauf verwiesen, dass wenigstens Erhard Eppler einst auf die Gegenseitigkeit des Dilemmas zwischen Politikern und Schreibern hinwies: „Keiner nimmt den anderen ernst, weil er sich nicht ernst genommen fühlt.“ Würden Autoren erkennen lassen, dass sie sich in die Schwierigkeiten politischer Entscheidungsfindung hineindenken können, wären Politiker eher bereit, „auf ein kritisches Wort zu hören“. Würden wiederum die herrschenden Politiker erkennen lassen, dass sie tatsächlich die Interessen der Allgemeinheit vertreten und nicht die einer spendablen Minderheit, die ihre Posten sichert, wäre es nicht nur leichter, sondern auch angenehmer, sich in sie hineinzudenken.

Max Frisch hat in seiner berühmten Solothurner Rede 1986 die Aufklärung, das Wagnis der Moderne, für gescheitert erklärt. Aus Sicht der Mächtigen mache das Sinn, denn unaufgeklärte Bürger seien zu ihren eigenen Lasten leichter zu dirigieren und zu manipulieren. „Verkommen wir zu Demokratie als Folklore?“, fragte er angesichts der bitteren Erkenntnis, wonach am Ende der Bemühungen um Aufklärung nicht der mündige Mensch, sondern das Goldene Kalb stünde. Doch gerade deshalb solidarisierte er sich mit allen, die in der profitmanischen Gesellschaft dennoch Widerstand leisten, um einer sittlichen Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen.

In diesem Sinne müssen wir uns den widerständigen Schriftsteller als glücklichen Menschen vorstellen. Die direkte Wirkung von Literatur auf Politik und Gesellschaft tendiert gegen Null. Literatur wirkt nur auf eins – auf Individuen. Und manchmal sind es sogar Individuen, die Politik machen. Was sich langfristig in den Ablagerungen unserer Bewusstseinsschichten tut – wer will darauf schon seine Hosenknöpfe verwetten?

Das Buch als Axt – für das gefrorene Meer in uns

So vertraue ich lieber Klassikern wie Kafka und seiner Gebot gewordenen Beschwörung: „Das Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ „Was bleibt von Kunst?“ hat sich Robert Musil gefragt und geantwortet: „Wir, als Geänderte, bleiben.“

Und Marcel Reich-Ranicki hat ergänzt: „So glaube auch ich, dass gute Bücher ihre Leser verändern. Sie machen die intelligenten Menschen intelligenter, und die klugen klüger. Sie machen die Erfahrenen und die Feinfühligen noch erfahrener und noch feinfühliger. Und ist das nicht sehr viel?“

Es ist viel, aber noch nicht alles, was Literatur vermag. Vielleicht das Wichtigste bleibt nachzutragen: „Literatur ist da, um den Menschen nicht allein zu lassen“, wusste Anna Seghers. Das Lesen vermittelt uns die Bekanntschaft mit Partnern, die uns mit ihrem Wissen und Fühlen so nahe kommen, dass es ihnen gelingt, unser Selbstvertrauen zu stärken. Wenn es gut geht, macht Literatur unverzagt, beherzt, couragiert, tapfer, unerschrocken, kühn. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, flüstert uns Immanuel Kant in dieser Stimmung zu.

Bei einer Diskussion in Leipzig sagte mir eine Leserin: „Ich habe Ihr Buch am Wochenende gelesen und am Montag bin ich erstmals seit langem erhobenes Hauptes durch die Stadt gegangen.“ Von einer schöneren Wirkung meines Schreibens habe ich nie gehört.