Die Wie-Auch-Immer-Lex – Freitag 23 vom 6.6.2008

AKTUELLE STUNDE
Üble Nachrede trifft weder Gysi noch die Linke. Aber die Demokratie

Die Legitimation eines Abgeordneten folgt aus dessen Wahl. Die Überprüfung von Mitgliedern des Bundestages auf ein der Wahl vorausgehendes Verhalten gehört grundsätzlich nicht zu den parlamentarischen Aufgaben. Eine Schuldsuche unter Kollegen, ja unter Mitgliedern gegnerischer Parteien, ist in jedem Fall wegen Befangenheit fragwürdig, ja hat den Ruch der politischen Hatz. Insofern war der erst 1992 eingefügte § 44b des Abgeordnetengesetzes, eine nur gegenüber Ostabgeordneten genutzte Sonderkompetenz des Immunitätsausschusses, von vornherein bedenklich. Er sieht eine „nur ausnahmsweise zugelassene Kollegialenquete“ des Immunitätsausschusses vor mit dem Ziel, der Öffentlichkeit alle Tatsachen zu unterbreiten, die ihr ein Urteil ermöglichen, über die Verstrickung des Abgeordneten mit dem MfS.

Juristische Konsequenzen haben die Ergebnisse des Ausschusses nicht, eine IM-Tätigkeit ist keine Straftat. Ja der Ausschuss ist nicht einmal berechtigt, dem Abgeordneten eine Empfehlung auszusprechen, weil dieser nicht vom Bundestag bestellt ist, sondern vom Souverän, dem Wähler. Insofern haben alle Moralapostel der jüngsten Aktuellen Stunde des Bundestages ihre Kompetenzen klar überschritten. Und einige auch die Grenzen des menschlichen und politischen Anstands. Sicher nicht zufällig verwandte der CSU-Abgeordnete Stephan Mayer den jüdischen Begriff Chuzpe, um den Auftritt Gysis als „schauderlich und abscheulich“ zu verdammen.

Die der Öffentlichkeit als neu präsentierten Akten werfen Fragen auf, für die Gysi in seiner Presseerklärung denkbare Aufklärungen gegeben hat. Die betreffenden Informationen können durch Abhören bei der Stasi gelandet sein oder durch die Abteilung Staat und Recht beim ZK der SED. Darüber hinaus beweisen sie nichts als die Widersprüchlichkeit und Unlogik von Geheimdienstakten. Was wiederum logisch ist. Auch Geheimdienstler haben Motive, die Wahrheit durch Verdrehung zu manipulieren und ihre Akten unverständlich zu halten. Sonst bedürfte es keiner Konspiration und keiner Decknamen.

Seit nunmehr 17 Jahren läuft gegen den Linkspolitiker Gregor Gysi eine Art Misstrauensantrag in Permanenz. Er ist, und mit ihm seine Partei, vogelfrei für Verdächtigungen. Die kommen in Wellen, immer pünktlich in Wahlkämpfen, bei Antritt neuer Funktionen, wie der des Berliner Wirtschaftssenators, oder unmittelbar vor Parteitagen. Dabei hatte und hat niemand mehr als auslegbare Indizien. Es gibt keine Verpflichtungserklärung, keine persönlich gezeichneten Dokumente, weder Dankschreiben, Orden oder sonstige Gegenleistungen für Informationen.

Was es gibt, ist die erfolglos geschlossene IM-Vorlaufakte, in der bedauert wird, dass Gysi „an seiner Schweigepflicht als Rechtsanwalt festhält“ und deshalb „vermieden“ worden sei, den „Kandidaten mit konkreten Aufgaben zu betrauen“. Dies scheint die einzige Akte, deren Wahrheitsgehalt in der BStU-Behörde bezweifelt wird. Nachweislich ist immerhin, dass Gysi durch „Operative Personenkontrolle“ selbst überwacht wurde. Jeder, der nicht Gysi ist, wird dafür von der Behörde auch Betroffener genannt.

Die Analysen der Stasiunterlagenbehörde laufen darauf hinaus, hieß es jetzt unbeanstandet in der SZ, „dass Gysi zwar formal kein IM gewesen sei, er aber ›wie‹ ein solcher gearbeitet habe“. Was ist das für ein Rechtsverständnis? Wenn jemand nach dem Stasiunterlagengesetz kein IM ist, dann findet sich eine Als-Ob-Variante? Gerade die formale Einhaltung von Kriterien, Verordnungen und Gesetzen macht die Verlässlichkeit von Recht aus. Kann jemand zwar kein Dieb, aber wie ein Dieb sein? Kein Mörder, aber wie ein Mörder? Das klingt nicht nach Rechtsstaat, nicht einmal wie im Rechtsstaat.

Da man mit der Wie-auch-immer-Lex nicht wirklich weiter kommt, wird dem Anwalt Gysi seit Jahren auch Mandantenverrat unterstellt. Denn das wäre endlich eine Straftat, die auch zur Aufhebung der Immunität berechtigen würde. (Alle bisherigen Klagen sind ja von Gysi eingereicht worden.) Die Crux ist nur, dass es keine einzige Anzeige wegen Mandantenverrats gibt. Ganz im Gegenteil liegen viele schriftliche Vertrauensbeweise von Mandanten vor und in den Akten erdrückende Beweise von erfolgreichen Versuchen, ihnen das Leben zu erleichtern.

Niemals ist auch nur die Frage gestellt worden, was um alles in der Welt Gysi von den Dissidenten, die er verteidigte, hätte verraten können? Havemann und Bahro wurden ja von den kleinkarierten, dogmatischen Bonzen gerade deshalb als so gefährlich angesehen, weil sie Mann´s genug waren, ihre Gedanken in (leider nur im Westen erscheinenden) Büchern und Interviews offen darzulegen. Was war da noch zu verraten, außer dass sie, bitteschön, sehr zu recht, gern weniger Repressionen ausgesetzt sein würden?

Der Gedanke, der einstige IM Havemann hätte sich von einem jungen Anwalt hereinlegen lassen, ist abwegig. Mehrfach hat der Spiegel versucht, Gysi Verrat gegenüber Bahro anzudichten, mehrfach hat Bahro selbst dagegen protestiert. „Meiner Meinung nach kann es für den Vorwurf des Mandantenverrats einfach nicht ohne Bedeutung sein, wenn der angeblich Verratene die Sache ganz anders sieht“, schrieb er zuletzt aus dem Krankenhaus an den Spiegel: „Im ›Realsozialismus‹ hatte der Anwalt – und genau auf dieser Grundlage konnte er hilfreich sein – nie nur die Vertretungsfunktion für den Mandanten, sondern zugleich eine Vermittlungsfunktion zu staatlichen Organen … Was ich ihm sagte, war in der Regel gerade dazu bestimmt, weitergegeben zu werden.“ Diese Erklärung zu veröffentlichen, war allerdings der Spiegel nicht Mann´s genug – kein Verrat an Bahro?

Als sich seinerzeit unter großen Querelen der PEN vereinigte, waren wir gut beraten, unsere Ehrenkommission zur Überprüfung von Stasizuträgern nicht auf IM-Kartenlegerei zu konzentrieren, sondern auf die Frage, ob offizielle oder inoffizielle Kontakte anderen geschadet oder genutzt haben. Das ist doch menschlich und politisch das einzig wirklich Wichtige. Der baden-württembergische CDU-Generalsekretär Thomas Strobl durfte Gysi im Bundestag unwidersprochen „Sauereien“ unterstellen, ohne dass auch nur ein Verdacht eines von diesem Anwalt angerichteten Schadens benannt werden kann.

Man könnte die Exekution moralischer Schuld an kritischen Zeitgenossen einfach komisch finden, wenn sie nicht geeignet wäre, Menschen kaputt zu machen. Und ihr politisches Umfeld zu diskreditieren. Eine Sauerei ist es deshalb vielmehr, dass mit der IM-Keule um so heftiger gefuchtelt wird, je unbequemer und erfolgreicher die linke Opposition ist. Mit welch demonstrativer Plattheit die Demokratie mit diesem Disziplinierungsdruck belastet wird, hätten viele nicht für möglich gehalten.

Doch ideologische Übertreibungen haben immer das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war. Die Staatssicherheit wollte Staatsfeinde bekämpfen und hat sie stattdessen produziert. Die Stasiunterlagenbehörde soll die DDR und ihre vermeintlichen Protagonisten delegitimieren und treibt die von der dabei praktizierten Willkür Abgestoßenen scharenweise zur Linken. Ein Schelm, wer dabei an die Stasi-Connection in der Behörde denkt.