Das Phantom der Wüste – Freitag 50 vom 11.12.2008

KULTURSCHOCK

Beim arabisch-deutschen Dialog in Dubai eröffneten sich überraschende Perspektiven

Nächtlicher Anflug auf Dubais Lichtermeer – für zehn deutsche Dichter und Schriftsteller ein Primärerlebnis der Sonderklasse, auch für die meisten der fünfzig Islamwissenschaftler, Übersetzer, Journalisten und Verlagsmitarbeiter. Ein Phantom der Wüste, das bestaunte Realität geworden ist. Das Sieben-Sterne-Hotel im Stadtteil Jumeirah am Meer mag alten Sultanspalästen nachempfunden sein, übertrifft diese aber mit seinen elektrosanft über türkisblaue Kanäle gleitenden, stilvollen Gondeln, den ungezählten Swimmingpools und den üppigen Früchtebuffets. So haben auch ihre Hoheiten, die Scheiche, bis vor wenigen Jahren nicht leben können. So wohnt die Business-Klasse.

Wenn sich diesmal Geistesschaffende hierher verirren dürfen, die bescheideneren Standard gewohnt sind, dann weil die Stiftung von Scheich Mohamed bin Rashid al Maktoum, Premierminister, Verteidigungsminister und Vizepräsident der Vereinigten Emirate und in Amtsunion Herrscher von Dubai, großzügig zu einem Arabisch-Deutschen Dialog geladen hat. Hans Magnus Enzensberger wird später von einem Kulturschock sprechen, den die „sehr fremde Umgebung“ bei ihm ausgelöst hat, sogar von einem Zivilisationsschock. Diese Schockpotenz entspricht vermutlich genau dem Bedürfnis einer über Jahrhunderte von weißen Kolonisatoren unterdrückten und gedemütigten Kultur. Die Emirate feiern in diesen Tagen gerade mal den 37. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit.

Was ist es, das welterfahrene Gäste aus dem reichen Europa noch umwerfen kann? Eine Mischung aus Tradition und Moderne, die die eigene Vorstellungskraft über die Sinnhaftigkeit von Luxus und den dafür zu zahlenden Preis in den Schatten stellt? Die Heimat des Superlativs ist nicht mehr das Abend-, sondern das Morgenland. Eine Einsicht, die Verlust bedeutet? Sicher nicht, wenn kitschiger Disneyland-Pomp für bloßes Wachstum sorgen soll. In diesem Jahr empfangen die anderthalb Millionen Einwohner Dubais acht Millionen Touristen, jedes Jahr soll es eine Million mehr werden, 2015 also schon 15 Millionen. Sie alle werden das kurz vor Bauabschluss stehende, mit seinen über 800 Metern menschliches Augenmaß irritierende Turmhaus Burj Dubai bestaunen, „die höchste einzeln stehende Konstruktion, die die Welt je gesehen hat“, wie es stolz im Prospekt heißt.

Eingeweihte wollen wissen, dass Dubai an einem Tag soviel Energie verbraucht, wie Berlin in einem Monat. Und das nicht, weil alle Gebäude der Stadt selbstverständlich klimagekühlt sind, die gläsernen Wolkenkratzer mit ihren lautlosen Fahrstühlen, die zahllosen Springbrunnen und die Highways im Flutlicht soviel verbrauchen. All diese Aufwändungen sind Peanuts, verglichen mit den Kosten, die bei jedem Tropfen Wasser entstehen, der dem salzigen Meer abgetrotzt werden muss.

Gleichzeitig sieht man überall in der Stadt Tafeln, die für energiesparende Technologien werben. Dubai konzentriert sich auf energieeffizientes Bauen – von einem, natürlich weltweit ersten, rotierenden, 80-stöckigen Hochhaus ist die Rede. Jede Etage rotiert durch eine eigene Windturbine unabhängig von den anderen Ebenen, so dass sich die Ansicht des dynamischen Turms ständig verändert. Und es bleibt noch Elektrizität für umliegende Gebäude übrig. Ein wirklich grünes Kraftwerk. In Abu Dhabi ist in diesem Frühjahr sogar der Grundstein für die von Sir Norman Forster entworfene, weltweit erste CO2-freie, sich selbst versorgende Ökostadt gelegt worden: Al Masdar.

Ein europäisches Verlust-Gefühl könnte in der Ahnung liegen, dass hier wie nirgends sonst materielle und kreative Kapazitäten vereint werden, die jenseits der krisengebremsten Gigantomanie zukunftsweisende Maßstäbe setzen könnten. Im nächsten Jahr wird in Dubai der erste Bauabschnitt einer 75 Kilometer langen, fahrerlos gleitenden Metro eingeweiht. Scheich Al Maktoum hat sich nicht aufs Öl verlassen (das von Dubai ist nämlich schon versiegt), er hat früh und mit viel Geld auf Spitzentechnologie, Wissensgesellschaft und Kultur gesetzt. Er lässt Universitäten bauen, eine Medien-City, Museen, Opern und Künstler einfliegen.

Vielleicht liegt ihm daran, weil er sich selbst vorrangig als Dichter sieht. Seine über 300 Gedichte handeln, traditionell poetisch, von unerfüllter Liebe wie auch, ganz untraditionell politisch, von der Wut über den Irak-Krieg. Die von seinem persönlichen Berater, dem palästinensischen Intellektuellen Ghassan Tahboub und der irakischen Dichterin Amal Al-Jubouri vorbereitete Konferenz hat uns vorab Fragen übermittelt, die anzusprechen wir gebeten wurden. Erstaunliche Fragen aus dieser Hochburg des Kapitalismus.

Ob nicht das Marktverständnis der Neoliberalen eine Gefahr für außerwestliche Kulturen und Weltanschauungen sei? Ob der amerikanische Politologe Francis Fukuyama mit seinem Satz vom „Ende der Geschichte“ Hegel missbraucht habe, um den westlichen Hegemonialanspruch zu legitimieren. Ob der so genannte „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht ein Instrument sei, um außerwestlichen Kulturen die eigenen gesellschaftspolitischen Normen überzustülpen? Ob Intellektuelle ihre eigentliche Aufgabe wahrnähmen, nämlich Tabuthemen aufzugreifen?

Zu diesen rechnete der Literaturwissenschaftler Gamal Al Ghitany, dass die arabische Kultur vom Westen heute meist mit Überheblichkeit behandelt würde. In den zwanziger Jahren habe es in Deutschland die Idee einer vollständigen Bibliothek arabischer Werke gegeben, auch in der DDR sei viel, in hoher Qualität übersetzt worden. Die Werke von Nagib Machfus seien dort lange vor seinem Nobelpreis erschienen. Seit dem Ende der Sowjetunion ist der Islam der neue Feind des Westens, was im Orient zurecht als Schande gesehen wird. Denn Bin Laden sei von den USA trainiert worden und auch die EU habe Druck ausgeübt, die Taliban anzuerkennen, um die Sowjetunion zu schwächen.

Ich erlaubte mir zu bestätigen, dass es im Westen ein striktes Tabu gibt, nach Ursachen oder gar eigener Verantwortung für den Terrorismus zu suchen. Ich fragte, ob die schockierende terroristische Gewalt nicht die asymmetrische Antwort auf die Schockstrategie des Westens sein könnte. Ob uns je die Idee gekommen sei, dass da etwas zu verstehen, also zu verhandeln wäre? Der Verdacht, der Terrorismus sei den Profiteuren des Wirtschaftsliberalismus nicht ungelegen gekommen, weil sie sich unter dem Vorwand, ihn zu bekriegen, die Welt untertan machen wollten, ist nicht ausgeräumt.

Auf dem Podium neben Volker Braun sitzend, stimmte ich mit ihm überein, dass Fukuyamas End-Phantasie missratener Hegelianismus ist, die Geschichtsdebatte so offen, wie lange nicht mehr. Dabei genügt es nicht, für das Desaster moralische Defizite von Personen verantwortlich zu machen und die strukturellen Defizite des Weltkapitalismus auszuklammern.

Braun zitierte aus Hegels Rechtsphilosophie: Die Bürgerliche Gesellschaft ist bei allem „Übermaße des Reichtums“ nicht reich genug, um ein „Übermaß der Armut“ zu verhindern. „Die verschiedenen Interessen der Produzenten und Konsumenten kommen in Kollision“, weshalb es einer „mit Bewusstsein vorgenommenen Regulierung“ bedarf. Sich dieser altbekannten Notwendigkeit endlich zu stellen, öffnet die Perspektiven wieder.

Der namhafte ägyptische Schriftsteller Fehmi Huwaida beklagte, dass arabische Intellektuelle die Offenheit nur zum Teil annehmen könnten, da sie gespalten seien, zwischen Islam und Säkularismus. Gar von einem verdeckten Bürgerkrieg in den arabischen Ländern sprach der marokkanische Philosoph Abed al-Jabiri. Auf welcher Seite steht der Intellektuelle? „Auf der anderen“, antwortete Adolf Muschg.

Einer der diese Position immer eingenommen hat, ist der im Pariser Exil lebende, syrische Literaturnobelpreis-Kandidat Adonis. Gut erinnere ich mich an die Aufregung, die er ausgelöst hat, als er beim Vorläufer-Dialog vor sechs Jahren im Jemen die Trennung von Kirche und Staat forderte. In einem unlängst im Berliner Verein „West-Östlicher Diwan“ gehaltenen Vortrag beschrieb er die arabische Kultur als eine, die die Unmöglichkeit lehrt, nach dem Islam noch Neues zu schaffen. Der Intellektuelle habe keine Fragen zu stellen, sondern die religiösen Antworten zu preisen.

Adonis hat den so verengten Islam dafür verantwortlich gemacht, dass die meisten arabischen Länder den Anschluss an den Fortschritt verloren haben. Im weltoffenen Dubai hat er solche Attacken nicht nötig. Der Islam sei hier nur Fassade, hört man hinter vorgehaltener Hand. Es gäbe mehr Touristen-Bars als Moscheen. Dabei wird die Vorschrift eingehalten, nach der mindestens alle 200 Meter die nächste Moschee kommen müsse.

Ausgerechnet während der Finanzkrise bewährt sich nun ein strengerer Umgang mit den islamischen Vorschriften. Das auf der Scharia beruhende islamic banking verbietet das Erheben von Zinsen ebenso wie den Kauf oder Verkauf von Schulden und das Spekulieren am Markt. Risikoreiche Geschäfte wie Hedgefonds, Optionen, Derivate oder Zertifikate sind untersagt, denn jeder Zuwachs ist „Riba“, Wucher. Das sieht die Bibel nicht viel anders, aber Juden und Christen haben schon lange Gründe für eine großzügige Auslegung gefunden. Geschäft geht vor Gottesfurcht, alle Weltreligionen neigen in diesem Punkt zu Pragmatismus. Weshalb es in den Emiraten konventionelle Banken aus aller Welt gibt, aber nur wenige islamische.

Obwohl sich seit Beginn der neunziger Jahre, mit der Rückbesinnung auf den Islam, auch sein moralisches Finanzkonzept ausgedehnt hat vom Iran, dem Sudan und Pakistan bis nach Asien. Aber auch in Großbritannien gibt es inzwischen fünf islamische Banken. Die insgesamt etwa 300 Geldinstitute haben durch ihre Strategie der Risikovermeidung den finanziellen Tsunami derzeit weitgehend unbeschadet überstanden und ihr Geschäftsmodell könnte noch von allgemeinem Interesse werden.

Ein Ausflug in die Wüste am letzten Abend gibt dennoch Gelegenheit, in informeller Runde von der Gewissheit zu hören, die von Intellektuellen aus Ägypten, Irak, Dubai und sogar Iran ausgehenden, internen Debatten stünden für den Rückzug des Fundamentalismus. „Es gibt von arabischer Seite keine Vorbehalte gegen Deutschland, da es hier keine koloniale Vorgeschichte hat“, sagt Ghassan Tahboub in einem Abschiedstoast. „Nun wünschen wir, dass auch offizielle deutsche Stellen sich an einem vorurteilsfreien Aufbau von Beziehungen beteiligen. Das wäre für uns Ansporn, die schlimmen Verwerfungen des Kapitalismus, die Sie und wir gegenwärtig erleben müssen, gemeinsam auszugleichen.“

Damit der Wüstensand uns nicht belästige, ist er dort, wo wir uns nieder gelassen haben, mit rotem Teppich ausgelegt worden. Nur für ein Feuerchen ist ein kleines Stück ausgespart worden, da scheint es durch, das Phantom der Wüste. Im Morgengrauen mit schwarzer Hotellimousine auf dem Weg zum Flughafen, begegnen uns Kolonnen einfacher Busse, die schlecht bezahlte asiatische Arbeiter aus ihren spartanischen Massenquartieren am Rande der Wüste zu ihren Baustellen und Produktionsstätten karren. Ausbeutung und Entwicklungshilfe zugleich? Ihre Schinderei, ohne die der ganze Luxus nichts geworden wäre, wird so nicht weitergehen dürfen, wenn, wie die englischsprachige Gulf News fordert, möglichst bald eine „neue Weltordnung“ entworfen werden soll.